5 Moderne und Postmoderne als Rahmen für Pädagogik

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Will man Ausschau halten nach Gelingensbedingungen von Pädagogik und Schule in westlichen Gesellschaften der Gegenwart – insb. in der heutigen BRD -, ist es hilfreich, modellhaft verschiedene Gesellschaftssysteme zu unterscheiden und näher zu bestimmen, die auch in der aktuellen Diskussion eine wichtige Rolle spielen. Im Folgenden werden die Begriffe der ‚Moderne’ und der ‚Postmoderne’ idealtypisch, d.h. modellhaft, als Gesellschaftssysteme, die jeweils bestimmte Anforderungen an ihre Mitglieder stellen, entworfen.129 Eine Prämisse dabei ist, dass die gegenwärtige Gesellschaft sich auf dem Weg in die Postmoderne befindet und damit pädagogische und erzieherische Gelingensbedingungen sich erheblich verändern bzw. teilweise bereits schon verändert haben. Im Gegensatz zu postmodernen Ideen, die Schüler und Eltern (und Lehrer) in den Alltag der Schule auf der konkreten Verhaltensebene bereits handelnd hineintragen, wird die gegenwärtige Schule (im Sinne einer gesellschaftliche Institution oder Organisation) als weiterhin eher modern konzipiert und organisiert angesehen (vgl. Kap.2.3).

Ausgangspunkt für den idealtypischen Entwurf moderner und postmoderner Gesellschaften sind Stufen menschlicher Ontogenese aus konstruktivistisch-entwicklungspsychologischen Modellen. Das hier vor allem herangezogene Modell von Robert Kegan beinhaltet u.a. die Modelle von Piaget (kognitive Entwicklungsstufen) und Kohlberg (moralische Entwicklungsstufen) und verbindet diese zu einem umfassenderen Modell (Kegan 1991; Kegan/Noam 1982; Piaget 1991; Kohlberg 1996). Grundlage bilden dabei konstruktivistische Prämissen in Kombination mit der Annahme der Abfolge bestimmter ontogenetischer, chronologisch zu durchlaufender Entwicklungsstufen von Individuen. Die aktuelle Hirnforschung lässt diese Vermutungen plausibel erscheinen. So bildet sich das Gehirn zwar nicht in Volumen aber in seiner inneren Struktur auch noch in der Pubertät (und sogar bis 30 Jahre) radikal um und ermöglicht so u.a. abstrakte(re)s Denken und komplexe(re)s moralisches Handeln (Herculano-Houzel. 2006). Diese idealtypischen Entwicklungsstufen der Persönlichkeitsentwicklung (Kap.5.1) zeichnen sich durch zwei Charakteristika aus. Erstens sind sie das Ergebnis (zunächst) kognitiver Konstruktionsprozesse durch das Individuum. Zweitens entstehen diese Konstruktionen unter Einbettung in soziale Prozesse. Daher weisen sie - in Relation zu solchen Prozessen - strukturelle Ähnlichkeiten auf. Insofern werden bei Kegan, wie in der hiesigen Untersuchung, radikaler Konstruktivismus und sozialen Konstruktionismus miteinander verbunden.

Nachdem die Entwicklungsstufen in Anschluss an Kegan dargestellt wurden, können idealtypisch moderne und postmoderne Gesellschaftssysteme (Kap. 5.2) beschrieben werden. Diese werden insb. danach unterschieden, welche höchste ontogenetische Entwicklungsstufe sie von ihren Mitgliedern modellhaft verlangen.130

5.1 Stufen ontogenetischer Entwicklung

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Nach Kegan können verschiedene homöostatische Strukturen, die ein Mensch in seiner Persönlichkeitsentwicklung durchlaufen kann, in einem „strukturell-funktionalen Modell des Selbst“ (Noam 1986, 151)131 anhand einer festliegende Reihenfolge beschrieben werden. Dabei stellen Entwicklungsstufen des Selbst jene Abschnitte in der Ontogenese dar, in denen Konstruktorganisationen stets ausdifferenziertere Inhalte in adäquater und strukturell komplexerer Weise zu integrieren vermögen - bis zur nächsten nach Veränderung verlangenden Krise. Entwicklungskrisen gehören zum ‚normalen’, unvermeidbaren Verlauf von Erziehungsprozessen (Huschke-Rhein 1998b, 25). Da jede neue Struktur auf der vorherigen aufbaut, kann in der Stufenentwicklung kein Niveau übersprungen werden.

Die Entwicklung des Selbst wird, sozial betrachtet, begleitet von ‚einbettenden Kulturen’ (Kegan), wie sie z.B. Eltern oder Pädagogen, aber auch Schule als System darstellen können. Solche einbettenden Kulturen sollen das Selbst des Kindes im günstigen Fall bestärken, ihm konstruktiv Rückmeldung geben und fortdauern, d.h. das junge Individuum soll auf sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt zurückgreifen können, um angemessen sich ablösen zu können. Unterstützung von außen muss dabei aber immer Stufenabfolge und informationelle Geschlossenheit berücksichtigen, um ‚orientierende Interaktion’ wirksam werden lassen zu können.

In den folgenden Unterkapiteln stelle ich diejenigen Stufen der Selbst-Entwicklung dar, die zum Verständnis von Moderne und Postmoderne relevant sind (Kap.5.1.1 und 5.1.2): Das sind die Stufen 4 und 5 in Kegans Modell. Ein Überblick über das Stufenmodell – in Anlehnung auch an andere Autoren – rundet diese Beschreibungen ab (Kap.5.1.3). Zunächst aber sollen ganz knapp die Stufen 2 und 3 beschrieben werden, da sie im weiteren Verlauf der Arbeit an der ein oder anderen Stelle in anderen Argumentationszusammenhang bedeutsam werden können132.

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Stufe 2 entspricht dem ‚souveränen (egoistischen) Selbst’, das in der Intelligenzentwicklung nach Piaget mindestens auf der konkret-operationalen Ebene steht, d.h. es orientiert sich an seiner beständigen Disposition aus Bedürfnissen und Interessen und verfolgt ein egoistisches Zweckdenken. Nicht Intentionen, sondern die Folgen des Handelns sind entscheidend. Die Befolgung von Regeln oder Versprechen, die Kategorien ‚richtig’ und ‚falsch’ machen am eigenen Vor- bzw. Nachteil fest (Kegan 1991, 127ff).

Auf der Stufe 3 des ‚interpersonalen Selbst’ beginnen sich formal-operationale Fähigkeiten im Sinne Piagets zu entwickeln, voll entfaltet werden sie aber erst auf Stufe 4. Moralisch betrachtet, bemüht sich das interpersonale Selbst um die Koordination verschiedener Bedürfnisperspektiven im Inneren wie nach außen. Handeln ist nun auch aus Kontexten interpersonaler Verbundenheit heraus interpretierbar. Eigene Bedürfnisse können mit konkreten anderen Menschen koordiniert, also verhandelt und aufgeschoben werden. So werden gegenseitiges Verstehen, geteilte Erwartungen, Vertrautheit, Respekt und Fürsorge für den anderen und Solidarität ermöglicht, weil Wechselseitigkeit perzipiert wird. Verpflichtungen ergeben sich aus der interpersonalen Beziehung heraus. Interessenkoordination kann in einem wesentlich weiteren Umfange stattfinden als bisher. Es ist die Reflexion über beginnende Freundschaftsbeziehungen - und nicht etwa negative Sanktionierung -, die das Verständnis moralischer Verpflichtung ausdifferenziert (Keller und Edelstein 1986).

Auf der Zwischenstufe 3 ½ beginnt das Individuum, sein Handeln nicht mehr nur an Einzelpersonen festzumachen, sondern es orientiert sich auf Kleingruppen hin, die ihm eine Ablösung vom Elternhaus ermöglichen. D.h. die Stufe 3 ½ ist noch konkret-personal und damit inklusiv (andere integrierend) orientiert, zugleich aber durch die Gruppenausrichtung auch schon exklusiv (Kegan 1991, 135ff).

5.1.1 Die Stufe 4: das institutionelle (ideologische) Selbst

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Auf der Ebene 4 sind die formal-operationalen Fähigkeiten im Sinne Piagets voll entwickelt. Durch hypothetisch-deduktives Denken kann der Mensch sich Gedankensysteme schaffen und sich die eigenen Denkvorgänge bewusst machen, um sie logisch zu rechtfertigen. Das institutionelle Selbst kann sich und andere von einem gemeinsamen dritten Standpunkt aus denken. Es bewahrt folglich durch einen Raum des psychologisch Gemeinschaftlichen hindurch Konsistenz und gewinnt dadurch Identität. Anders gesagt: es sieht sich als Mitglied einer Gruppe, und diese Gruppe besitzt den höchsten Wert. Das beinhaltet auch, dass andere Gruppen und deren Mitglieder implizit als minderwertig gelten können - bis dahin, dass u.U. nur die Eigengruppe als eigentliche Menschheit anerkannt wird (Kegan 1991, 141ff.; Watzlawick 1994c).

Das Selbst der Stufe 4 ist eine psychische Institution, die aus der Reflexion und Koordination von Gegenseitigkeitsbeziehungen in Großgruppen hervorgeht. Es begreift Beziehungen als Netzwerk, d.h. Perspektiven werden generalisiert. Das Gesellschaftlich-Normative wird konstruiert, Normenreguliertheit entsteht. Recht ist dabei das, was das Gesetz vorschreibt - es wird noch nicht erkannt, dass das Gesetz nur ein vorläufiger Versuch ist, dem Recht zu dienen. Der Mensch leitet seine Bedeutungsstiftungen aus der gruppenintern vorgefundenen Organisiertheit her (statt die Organisation aus Prinzipien abzuleiten, wie das auf Stufe 5 möglich wird). Das Gewissen entsteht und dient der Beherrschung der eigenen psychologischen Selbstdefinition.

Die Ziele des einzelnen sind die der Gruppe - also zugleich personal als auch sozial. Soziale Ordnung und das "Gruppencharisma", mit dem Norbert Elias letztlich das Überlegenheitsgefühl der Eigengruppe bezeichnet (Elias/Scotson 1990, 8), müssen gestützt und aufrechterhalten werden. Diese Stufe ist unvermeidlich ideologisch, weil das Selbst die ‚Gruppenwahrheit’ i.S. eines absolut gesetzten Bedeutungssystems handhabt. Da die eigene innere Organisation für die innere Verwaltung sinnstiftender Selbstzweck ist, findet eine übertrieben starke Kontrolle in der Innenwelt statt; auf das schnell hereinbrechende Gefühl von Chaos stellen sich Abwehrreaktionen ein.

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Die Übergangsstufe 4 ½ ist geprägt durch die Erfahrung der Widersprüche der verabsolutierten eigenen Psycho-Institution. Die Psycho-Institutionen der Anderen werden als solche erkannt. Ebenso wird der willkürliche Charakter gesellschaftlicher Standpunkte nunmehr erfasst, was zu Werterelativismus führt. Toleranz für Verschiedenheit und Verständnis für die Rechte des Anderen sind die Folge.

5.1.2 Die Stufe 5: autonomes (interindividuelles) Selbst

Die Operationen erreichen hier ein über- bzw. intersystemisches Niveau: Es entwickelt sich die Fähigkeit, aus verschiedenen Systemen zu deduzieren und Ergebnisse anhand vorgelagerter universeller Prinzipien zu betrachten. Aus dieser Position heraus, in der reflexive Distanz unmittelbare Selbstreferenzialität ersetzt, kann das Selbst sowohl die eigene psychische Organisation als auch Organisationsleistungen überhaupt beurteilen. Dies ermöglicht in der Erkenntnis der Vorläufigkeit aller Erklärungen und Modelle die Emanzipation vom gesellschaftlichen Bezugsrahmen und den Aufbau einer Sinnstruktur, die über ‚traditionelle’ Lebensformen hinausgeht.

Das Vorhandensein unterschiedlicher Regeln und Normen ist hier eher bereichernd als problematisch; zwischen ihnen braucht im Sinne der Multiperspektivität auch keine Einigkeit hergestellt zu werden. Das autonome Selbst orientiert sich vielmehr an wenigen grundlegenden (v.a. ethischen) Prinzipien, die der Gesellschaft vorgeordnet sind. Was gerecht ist, bestimmt nicht mehr das Gesetz, vielmehr werden Gesetze aus einer grundlegenden Auffassung über Gerechtigkeit (vgl. z.B. die Menschenrechte des Grundgesetzes) abgeleitet. Anhand dieser Prinzipien wird die Koordination von Institutionellem, also von Aspekten der Stufe 4, möglich. Man steckt nicht mehr voll in institutionsbedingten Pflichten, Leistungen, Arbeitsrollen. Man gehört weiterhin zu einem oder eben auch mehreren sozialen Kollektiven, diese sind für die eigene Identität aber nicht mehr das zentrale Kriterium. Das Selbst gibt seine - von der Abgrenzung gegen den anderen abhängige - Unabhängigkeit zugunsten einer Interdependenz-Sicht auf und erlangt so eine neue Art von Selbstständigkeit. Da komplexes und antizipatorisches Denken sich vertieft, entwickelt sich eine Prozess-Sicht, die den Blick auch auf Potentiale i.S.v. Entwicklungsmöglichkeiten lenkt. So akzeptiert und kultiviert der einzelne die Fähigkeit zu interdependenter Selbstbestimmung.

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Das Prinzip der Selbstkonstruktion bildet dabei ein enorm einheitsstiftendes Element: Zwischen verschiedenen psychischen Institutionssystemen herrscht Bewegungsfreiheit, was hohe Frustrationstoleranz mit sich bringt. Konflikt kann daher als inneres Gespräch ausgetragen werden; alternative 'Identitätsprojekte' werden möglich. Der einzelne wird aufnahmebereit für negative Beurteilungen, sucht kritische Anregungen mitunter aktiv und kann eine Lebensform des Zweifels (Beck 1993, 249ff) entwickeln.

Der - konkrete wie abstrakte - Andere kann als Individuum wahrgenommen werden , dem man nicht mehr nur Toleranz sondern Akzeptanz entgegenbringt. Das Prinzip der Menschenwürde wird verstanden (Eckensberger 1987, 38f). Menschliche Gemeinschaft wird universal gesehen. Das beinhaltet Wohlwollen (wie gesagt: nicht nur für den konkreten Anderen sondern prinzipiell für Andere): eine Fürsorgeeinstellung, die auf strukturelle Wachstumsförderung zielt. Mit der Fähigkeit, zur sozialen Welt auf Distanz gehen zu können, entwickelt sich eine große innere Verpflichtung, Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit in der Entscheidung über Selbst und den eigenen Beitrag zu(r sozialen) Welt. Individualität im Sinne autonomer Identität ist hier interdependente Selbstbestimmung, die sich an grundlegenden Prinzipien ausrichtet und um Einschluss statt Ausgrenzung bemüht.

5.1.3 Stufenübersicht

Kegan hat sein Modell anhand vorgefundener anderer Modelle entwickelt, die ebenfalls der Idee der Stufenentwicklung verhaftet sind und die er zu integrieren versucht. Dabei sieht er die Konstruktion von Selbst und Anderen als logische Grundstruktur menschlichen Denkens und Handelns. Daraus lässt sich eine vereinfachte tabellarische Übersicht erstellen:

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Abb. 5-1: Stufen des Verhältnisses zwischen Selbst und Anderen als logische Grundstruktur in verschiedenen Entwicklungstheorien (Kegan u.a. 1982, 430f. leicht verändert.)

Aus den genannten Stufenbeschreibungen können nunmehr Gesellschaftssysteme idealtypisch modelliert werden.

5.2 Modellierung von Gesellschaftssystemen

Im folgenden werden idealtypisch moderne und postmoderne Gesellschaftssysteme beschrieben, die jeweils ihre eigene Organisiertheit haben und mehr als die Summe ihrer Teile sind. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie von ihren Mitgliedern jeweils eine bestimmte (unterschiedliche) Mindeststufe menschlicher Entwicklung abverlangen, wie sie gerade anhand des Kegan’schen Modells beschrieben wurden.133 Analog zu den individuellen Strukturstufen ist es deshalb modelltheoretisch möglich, von kollektiven Stufen bzw. Niveaus auszugehen. Das heißt auch modelltheoretisch nicht, dass alle Mitglieder eines Kollektivs sich auf diesem Niveau befinden. Es ist aber zunächst einmal das für dieses Kollektiv typisch geforderte Endstadium gesellschaftlich geforderter Mindestentwicklung für Individuen. Kinder und Jugendliche zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie dieses Niveau zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben erst noch erreichen sollen und auf dem Weg dorthin Unterstützung benötigen.

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Neben der chronologischen Strukturstufenabfolge besteht eine weitere Prämisse dieser Arbeit in der Annahme, dass ein ‚soziales Kollektiv’ definiert werden kann als eine Gemeinschaft von Menschen, die untereinander bedeutungsstiftend interagieren. Dabei gleichen sich Realitätskonstrukte an. Es entsteht, von außen betrachtet, sozial geteilte Wirklichkeit. Diese Bedeutungsstiftung ist aufgrund der rekursiven Prozesse, die der Konstruktionismus voraussetzt, einerseits relativ stabil; zugleich kann sie sich aus dem gleichen Grunde auch verändern.

Diese Dissertation geht davon aus, dass die in sozialen Kollektiven zugrundegelegten und von Akteuren verwendeten Repertoires von Welt- und Selbst-Vorstellungen sich in den letzten Jahren – in den westlichen Bundesländern seit der 60ern, in den neuen Bundesländern frühestens mit der Wende 1989 – deutlich in Richtung Stufe 5 gewandelt haben. D.h. das die zentrale These für dieses Kapitel davon ausgeht, dass postmoderne Gesellschaften – im Gegensatz zu modernen Gesellschaften - von ihren Mitgliedern das Hindurchgehen durch eine entscheidende idealtypische Stufe bzw. Krise von Selbstorganisation mehr verlangen als moderne. Außerdem fordern sie auch, den Umgang mit permanentem Wandel zu lernen. Die Biographie postmoderner Bürger besteht dementsprechend aus vielfältigen kritischen Lebensereignissen bei fortwährendem gesellschaftlichen Wandel (Siebert 2005b, 50). „Die heute so viel zitierte Selbstverwirklichung ist nur zu haben um den Preis von Selbsttranszendenz“ (Watzlawick 1995, 46). Das hier verwendete Modell geht sozialkonstruktionistisch davon aus, dass soziale Kollektive "danach differenziert werden können, welche Möglichkeiten und Anforderungen sie an die individuelle Identitätsarbeit stellen [...] und welche kollektiven Strategien zur Herstellung eines ‚Wir-Konzeptes' und zu dessen Präsentation nach außen gewählt werden" (Krewer/ Eckensberger 1991, 593).134

Vor der Darstellung der modernen (Stufe 4, Kap.5.2.1) und postmodernen (Stufe 5, Kap. 5.2.3) Kollektive sowie einer Übergangsphase zwischen ihnen (Stufe 4½, Kap.5.2.2) soll hier noch kurz auf Kollektive der Stufe 3½ hingewiesen werden. Etliche gesellschaftliche Subgruppen in der BRD sind nämlich über für die Entwicklungsstufe 3½ typische personale Zuordnungen organisiert. Das gilt insb. für Subkulturen mit Migrationshintergrund, deren Mitglieder (ursprünglich) aus ‚kollektiven Heimatsystemen’ kommen, die eher agrarisch und durch wenig Mobilität geprägt sind, so dass eine wechselseitige persönliche Kontrolle (z.B. auf Dorfebene) zur Vergesellschaftung des Individuums ausreicht. Legitimität wird hier durch Bezug auf Vergangenheit konstruiert. Mythen spielen dabei eine wichtige Rolle, die oft auf göttlichen Ursprung oder Willen verweisen. Gruppen der Stufe 3½ sind – allerdings aus anderen Gründen – auch die meisten Peergroups, mit denen Schule zu tun hat.135

5.2.1 modernes Gesellschaftssystem

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Gesellschaftssysteme136 der Moderne (Stufe 4) sind Kollektive, in denen der einzelne gemäß seinen gesellschaftlichen Rollen in öffentlichen Räumen funktionieren können muss. Ordnung entsteht über Ämter und Leistungskriterien. Zentrale Ordnungsfunktion besitzt die (Zugehörigkeit zur) Großgruppe, die sich über Ideologie an monolinearen Modellen von Machbarkeit und Planbarkeit ausrichtet, idealer Weise im Nationalstaat. Probleme entstehen durch Unordnung, auf die man mit Sanktionierung reagiert. Einheit wird über eine tendenziell monolithische Homogenität hergestellt, so dass das Kollektiv eine exklusive, abgrenzende psychische Grundausrichtungen zeigt. Das ‚Gruppencharisma’ (Elias/Scotson 1990) – der Glaube an die Überlegenheit der Eigengruppe - drückt sich u.a. in einem starren Normengefüge aus, das wesentlich zur Identitätsstiftung beiträgt. Diese die Gruppe zusammenhaltenden Werte und Normen in Frage zu stellen, ist tendenziell Verrat am Kollektiv wie am individuellen Selbst der Stufe 4. Werte- und Normenfragen sind auf dieser Stufe nicht verhandelbar. Die Gegenwart erhält ihre Bedeutung durch eine bestimmte Sicht von besserer, aktiv, linear herstellbarer und herzustellender Zukunft. Zeitgeschehen wird oft durch ein teleologisches Geschichtsverständnis legitimiert, weshalb Bauman (1994) die Mitglieder solcher Gesellschaftssysteme „Pilger“ nennt.

5.2.2 Gesellschaftssystem im Übergang zur Postmoderne

Eine Prämisse dieser Arbeit ist, dass die aktuelle Gesellschaft in Deutschland und vielen anderen westlichen Gesellschaften die Moderne verlassen hat und auf dem Weg in die Postmoderne ist, ohne dort bereits voll angekommen zu sein. Für Schule heißt das insb., dass die Organisation noch in der Moderne steckt, während die gesellschaftlichen Anforderungen bereits zunehmend postmodern sind. Reinhard (2003, 297) bspw. geht davon aus, dass unsere plurale Kultur einen Zwischenstand erreicht hat, „in dem einerseits das auf hierarchischen Annahmen basierende ‚Wissen’ [...] nicht mehr passt, [...] in dem andererseits neue Wege eines demokratischen Lernens allerdings noch wenig gekannt bzw. beschritten werden.“

Kollektive der Übergangsstufe 4 ½ können psychisch bereits auf Distanz zu gesellschaftlichen Normen und zur Eigengruppe gehen und zeichnen sich daher (wenngleich auf der Grundlage vorhergehender Homogenität so doch) durch Toleranz aus. Probleme werden als Widersprüche erlebt, mit denen man vermittels Toleranz (allerdings nicht Akzeptanz des anderen) umzugehen sucht. Werterelativität wird anerkannt und Wertefragen beginnen ihren Charakter als Kooperationshemmnisse zu verlieren. Das Kollektiv besitzt inklusive und exklusive Ausrichtungen, d.h. Aspekte von Offenheit und Abgrenzung existieren nebeneinander, bei Tendenz zur Offenheit. Bei unstimmigen ‚Informationen’ wird die eigene Position eher in Frage gestellt als bei Gleichgewichtsstufen.

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Dieser Übergang (Stufe 4 ½) ist durch das Dilemma zwischen Werterelativität einerseits und Orientierungsnotwendigkeit andererseits gekennzeichnet. Die momentan zu beobachtende „Freisetzung“ des Subjekts (aus Traditionen) – das muss die Pädagogik beachten - ist nicht a u tomatisch eine Autonomie bzw. eine von der Moderne sich emanzipierende Selbstorganisation. Für diesen Schritt stellt sie vielmehr nur ein spezifisches Potenzial dar (Keupp 1983b, 262). Die Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft zu einer – im Sinne des hier vertretenen Modells – vollwertigen postmodernen Gesellschaft der Stufe 5 ist nicht garantiert. Eine einmal erreichte kollektive Stufe ist nie in ihrem Fortbestand garantiert, da die nachwachsende Generation sich diese Stufe stets neu erarbeiten, diese erlernen muss. Hierzu beizutragen, ist eine wesentliche Aufgabe des Bildungssystems der Gesellschaft.

5.2.3 postmodernes Gesellschaftssystem

Postmoderne Kollektive (Stufe 5) verlangen von ihren Mitgliedern Autonomie und Selbstverantwortung. „Das einzelne Individuum ist verantwortlich für seine eigenen Konstruktionen der Welt, die ihm keine Tradition mehr verbindlich vorschreiben kann, auch nicht die Schule“ (Huschke-Rhein 1997, 38). Ordnung entsteht in der Postmoderne über den Diskurs sich selbst verantwortender Individuen mit Prozesseinsicht. Zukunft ist kontingent, die Gegenwart gilt es, ohne sicheres Wissen aber auch ohne Blindheit als Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft zu gestalten und dabei möglichst viele Optionen und wichtige Korrekturmöglichkeiten offen zu halten. In einer solchen „Multioptionsgesellschaft“ (Gross. 1994) gelten ‚Welt’ und ‚Selbst’ grundsätzlich als fragwürdig. Jeder wird zu einer „bunten Mischung von Potentialen“ (Keupp 1993b, 231). Bauman (1994, 249) nennt die Mitglieder solcher kollektiven Systeme „Nomaden“, weil ihre Identität anhängig vom jeweiligen Beziehungsgefüge definiert wird, als Patchwork-Identität „nur noch plural möglich“ ist (Keupp 1993b, 229)137 und grundsätzlich unsicher bleibt (Bertens 1987, 94). Man zieht durch sich wandelnde Wirklichkeiten hindurch, wobei Identität eine „lebenslange reflexive Lernaufgabe“ (Siebert 2005b, 93) bleibt, die an die individuelle Selbststeuerung und Selbstverantwortung appelliert. Die Entscheidung für ‚vorübergehende Gewissheiten’ mag mitunter notwendig sein, um bestimmte Zeitphasen zu durchstehen (Cecchin et al. 2005, 89). Grundsätzlich aber gilt, dass eine Such- und Problemlösegesellschaft eine Antwortgesellschaft (der Eindeutigkeit der Stufe 4) ablöst (Decker 1998, 116) und die Gefahr einer (z.T. verantwortungsverlagernden) Individualisierung auch der Krisen kollektiver Systeme mit sich bringt (Siebert 2005a, 54; Beck 1986).

In der Epistemologie der Gesellschaften der Stufe 5 lösen konstruktivistische Aspekte, die nach adäquateren Vorstellungen über eine nicht mehr eindeutige Wirklichkeit fragen, rein repräsentative ab (tendenziell ist dies bereits auf der Stufe 4½ der Fall). Glaube ist nicht mehr das Bekennen von gemeinsamen Überzeugungen, sondern ‚vertrauende Wachheit’ bzw. Umgang mit offener Zukunft ohne lähmende Angst (Bauman 1994, 253). In der postmodernen Wissensgesellschaft wird Wissensmanagement wichtiger, wobei Wissen aber nicht als sozialtechnisch transferierbar sondern als kognitive Operation, als Kompetenz des Subjekts gesehen wird, das Komplexität auf einem (gegenüber einer modernen Gesellschaft) gestiegenen Niveau reduzieren muss (Siebert 2005b, 81f).

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Die Individualisierung schreitet weiter voran, es wird eine (Teil)Autonomisierung von sozialen Gruppen und Individuen im Sinne einer effizienten subsidiären Aufgabenverteilung angestrebt. Soziale Einheit wird dabei über die Prinzipien von Diskurs und Verhandlung hergestellt. Integration geschieht durch Koordination und Kooperation auf höherer Ebene (auch oberhalb der Staatsebene) und durch gezielte Vernetzung als Antwort auf (als solche erfasste) Interdependenzphänomene. Die Ausrichtung des Kollektivs ist inklusiv, Neues ist potenziell eher bereichernd als bedrohend, was den angemessenen Schutz von grundlegenden, der Kollektivität vorgelagerten Prinzipien nicht verhindert. Probleme sind auf dieser Stufe Ausdruck von Komplexität, die man durch Reflexion und Dialog, durch Wertschätzung von Mehrdeutigkeit und etablierter Reflexivität handhabt. Ambivalenzen sind allgegenwärtig und werden anerkannt, statt, wie in der Moderne üblich, zugunsten von Eindeutigkeit verdrängt (Bauman 1996.). Das führt zu einem Gewinn an Spielräumen für die Ausgestaltung des eigenen Lebensstils und zugleich zu einem Verlust kollektiver Sicherheit und Zugehörigkeit (Keupp 1993b; Beck 1986).

Reflexive Distanz erlaubt das Nachdenken über das eigene Kollektiv und die eigene Realitätskonstruktion, so dass mit Identitätsfragen flexibler umgegangen werden kann. Im Kollektivinneren existiert eine breite Pluralität von Selbstkonzepten, nachdem auf Stufe 4½ die kollektiveigenen Vorstellungen bereits ihre unhinterfragte Selbstverständlichkeit verloren haben. Gergen (2006, 42) spricht von einer „neuen Ära der Geschichte, in der wir über die Grenzen unserer eigenen Gesellschaft hinausdenken müssen.“

Auf der Kollektiv-Stufe 5 sind abweichende Selbstdefinitionen Ausdruck von Komplexität der Welt und nicht von Unordnung. Hier kann der andersartige Andere nicht nur toleriert, sondern akzeptiert, d.h. im Wert seiner Andersartigkeit für die Vielfalt des Ganzen geschätzt werden (Honneth 1993). In pluralen Gesellschaften leben die Mitglieder in ‚Multiversen’ (Balgo/Voß 1997,67; Andersen 1990,41). Wertefragen sind jetzt nicht mehr nur unverhandelbare Normen- sondern grundlegendere, aber interpretierbare Fragen im Zusammenhang mit (der Gesellschaft vorgelagerten) Prinzipien, die zwar mit dem Selbstverständnis eng zusammenhängen, aber zugleich Flexibilität ermöglichen.

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Die Stufe 5 zeichnet sich individuell und kollektiv durch die „Kunst des Zweifels“ (Beck 1993, 249) aus. Kritische Reflexions- und Lernbereitschaft sind damit etwas Selbstverständliches, Notwendiges und Grundlage eines postmodernen Autoritätsbegriffes (Sennett 1990). Lernen wird dabei als permanenter Prozess, der immer wieder Außenperspektive herzustellen versucht138, begriffen, weil ‚Welt’ und ‚Selbst’ als komplex, dynamisch und in ihren Elementen interdependent erlebt werden. Leben bedeutet unausweichlich Aufeinander-Bezogen-Sein und Veränderung, Reifungsprozesse werden lebenslang, Kindheit und Erwachsenenalter sind nicht mehr klar zu trennen (Huschke-Rhein 1998b,28, Rotthaus 1999a). Gesellschaft ist nicht mehr belehrte sondern lernende Gesellschaft (Büeler 1998, 52). Menschheit wird hier als Einheit gesehen, so dass Menschenrechte und Solidarität zu den dem eigenen Kollektiv vorgeordneten grundlegenden, gelebten Prinzipien gehören, auf denen Gemeinschaft aufbaut.

Idealtypische Individuen der Stufe 5 verfügen über Verständnis für Sichtweisen der vorherigen Stufen, deren prozessualer Charakter erkannt wird. Daher besteht Bereitschaft, Prozesse der Weiterentwicklung unter Unsicherheit grundsätzlich zu unterstützen. Sie sind letztlich der zentrale Gegenstand von Bildung in einer sich schnell wandelnden Welt.139 Pädagogen müssen die Pluralität von Werten und Normen ebenso akzeptieren wie die selbstorganisierte und selbstverantwortete Werte- und Normenentscheidungen der Schüler, während sie gleichzeitig Orientierung140 und Anregung vermitteln sollen (Huschke-Rhein 1998b, 32,38,138). Postmoderne Lehr- und Lerninhalte und –wege müssen der Mehrdeutigkeit von Welt und der Unvermeidbarkeit von Wertekonflikten Rechnung tragen (Gergen 2006, 43). Für Cecchin et al (2005, 80) besteht dementsprechend „der postmoderne Ansatz [...] darin, eine Position, die nützlich ist, beizubehalten, Vorurteile, die nicht mehr nützlich sind, zu verwerfen, und in der Lage zu sein, bei der Bildung von Hybriden unterschiedliche Vorurteile nebeneinander zu stellen.“

5.3 gesellschaftssystemtypische Denkweisen (Überblick)

Die idealtypischen Unterschiede dieser modellhaften Gegenüberstellung von Moderne und Postmoderne lassen sich tabellarisch wie folgt kontrastierend zusammenfassen141:

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Abb. 5-2: Gegenüberstellung von modernen und postmodernen Gesellschaftssystemen


Fußnoten und Endnoten

129  In der folgenden Darstellung orientiere ich mich eng an meiner Ersten Staatsexamensarbeit (R.Mosell1995.).

130  In ähnlicher Weise (allerdings mit inhaltlichen Unterschieden) schlägt bspw. Siebert (2005, 46ff) in Anlehnung an Rifkin (2000) einen idealtypischen „postmodernen Lerntyp“ vor.

131  Dort ausführlicher sieben für entwicklungspsychologisch-konstruktivistische Modellen typische Prinzipien (S.154ff) unter besonderer Berücksichtung von Kegan 1991 [= Original 1982].

132  z.B. bei der Fähigkeit zum Perspektivwechsel, der mit dem Wechsel von Stufe 2 auf Stufe 3 erfolgt.

133  Zur Problematik, mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu arbeiten, die unterschiedliche ‚Reifegrade’ voraussetzen, vgl. R.Mosell 1995. Wichtig ist in diesem Zusammenhang u.a., diese individuellen oder kollektiven Stufen als Modelle zu benutzen, die einem Beobachter Perspektivwechsel vereinfachen und ausdifferenziertere Orientierung geben können, ohne Wahrheit zu bedeuten – was allerdings in dieser modellhaft-idealtypischen Betrachtung erst ab Stufe 5 geht.

134  Modelltheoretische Plausibilität für einen Zusammenhang zwischen (dem Wandel) der Lebenswelt des Kollektivs und der Entwicklungsstufe seiner idealtypischen Mitglieder kann damit begründet werden, dass der Abgleich von Realitätskonstrukten in einem sozialen Kollektiv zugleich der Anpassung an seine Umwelt dient, dass also seine Mitglieder nach angemessenen Bewältigungsformen für ihre existentiellen, sich verändernden Rahmenbedingungen suchen müssen.

135  Zu unterscheiden sind hier bspw. junge Freundescliquen, die ontogenetisch die Stufe 3½ als wichtige Lernstufe benutzen, um sie dann zu verlassen, von subkulturellen Cliquen, die sich auf diesem Level stabilisieren, weil sich ihre Mitglieder selber die einbettende Kultur zur Verfügung stellen müssen, die ihnen außerhalb (z.B. im familiären Umfeld) fehlt und auch von der (gegenwärtigen) Schule nicht kompensiert werden können..

136  Die folgenden Darstellungen (Kap. 5.2.1 bis >5.2.3) richten sich nach Kegan u.a. 1982, Kegan 1991, und Baumann 1994.

137  Vgl.a. S.232. Keupp benutzt auch den Begriff „multiple Identität“, S.243.

138  „Postmoderne ist die Moderne, [...] die sich selbst aus der Distanz betrachtet statt von innen. [...] Orientierungswissen regt zur Entdeckung des Selbst und der Selbststeuerungsfähigkeiten an“ (Bauman zitiert nach: Keupp 1983b, 236.).

139  Da gegenwärtig Differenzen zwischen Schulsystem und angehendem, postmodernem, gesellschaftlichem Kontext insb. auch in Normfragen zunehmen und weitere kontextuelle Unsicherheiten ins Lernsystem Schule hineinwirken, steigen Erwartungen an die Professionalität von Pädagogen und Schule deutlich.

140  „Orientierungswissen ist Anregungswissen. Es bietet keine ‚Rezepte’, die befolgt werden müssen“ (Huschke-Rhein 1998b, 83, Hvg.i.Org.).

141  Vgl. Bauman 1996, 282.; Beck 1993; Kegan 1991.



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09.06.2008