25 Gesamtwürdigung der Thesen

▼ 747 (fortgesetzt)

In den letzten Kapiteln wurden anhand von Kriterien, die sich sowohl aus der Entwicklung der Fortbildung auf systemisch-konstruktivistisch-postmodernem Hintergrund als auch während der Interviews mit den Mitforschern ergaben, die erstellten Arbeitshypothesen (vgl. Kap.14) unter verschiedenen Aspekten und Unteraspekten auf ihre Plausibilität hin beleuchtet. In diesem Kapitel wird die Bewertung der Thesen noch einmal im zusammenfassenden Überblick dargestellt. Außerdem werden einige Thesen ergänzt und ein Ausblick auf mögliche weitere systemisch-konstruktivistische Weiterbildungen vorgenommen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass die diversen Zitate der Mitforscher von ihrem jeweiligen Vorwissen, ihren Interessenschwerpunkten und Entwicklungswegen bzw. –richtungen abhängig sind bzw. waren. Daher konnte auch nicht erwartet werden, dass alle Mitforscher zu allen Unter/Themen etwas sagen würden. Wichtiger ist allerdings zu beachten, dass einige Thesen zwar von verschiedenen Äußerungen gestützt werden, allerdings teilweise eine Person sich mehrfach zum selben Thema geäußert hatte. Dabei kann es einen Unterschied machen, ob dieser Mitforscher von sich aus an einer anderen Interviewstelle noch einmal auf ein Thema (bzw. eine Auswertungskategorie) zurückkommt: diese ist ihm dann offensichtlich besonders wichtig. Für die Überprüfung der Thesen ist mithin nicht nur auf die Anzahl der jeweiligen Belege zu achten sondern auch auf deren Intensität und deren Verteilung auf verschiedene Seminarteilnehmer. Auffälligkeiten wurden bereits in den obigen Kapiteln jeweils angesprochen.

▼ 748 

Auf der Erklärungsebene ist es wichtig, ob bzw. inwieweit die Mitforscher Veränderungen mit der Fortbildungsreihe verknüpfen. Mono- oder linearkausale Konstruktionen sind aus systemisch-konstruktivistischer Sicht und auch angesichts des hohen Komplexitätsgrades der untersuchten Veränderungsprozesse und ihrer Umwelten nicht zu erwarten (und wären nicht hinreichend, um von einer Plausibilität der Wirksamkeit der Fortbildung auszugehen). Komplexere zirkulär-kausale Erklärungskonstruktionen erscheinen dem Gegenstand angemessener. Sie können aber und wollen auch gar nicht Veränderungen allein auf die Fortbildung zurückführen. Diese ist von Anfang an so konzipiert gewesen, dass wesentliche Lernprozesse zwischen den Seminaren stattfinden konnten bzw. sollten, während das Seminar eher Verstörungen und Anregungen mit ‚auf den Weg’ gab. Allerdings belegen die Äußerungen der Mitforscher, dass sich so ergebende Veränderungsprozesse ohne die Fortbildungsreihe nicht, kaum oder nur anders möglich gewesen wären. Sie werden aber nicht durch das Seminar allein erzielt. Ein Zitat soll an dieser Stelle noch einmal die Schwierigkeit – vor der ja auch die Mitforscher standen - verdeutlichen, wie beschriebene Veränderungen zu attribuieren sind: „Ganz sicher ist, dass das Seminar viel, viel dazu beigetragen hat. Da [...] ist [...] einfach eine größere Gelassenheit bei mir entstanden [...]. Zeitgleich, muss man natürlich dazu sagen, hab ich vor zwei Jahren an der Schule einige Dinge aufgegeben, so Personalratsvorsitze“ (G 12). Auch für die Mitforscher galt letzten Endes, dass es (lediglich) um Fragen der Plausibilität geht.

Neben dem (Mit)Hervorrufen von kognitiven Veränderungsprozessen ist es auch möglich, dass die Fortbildung bereits (bewusst oder unbewusst) vorhandene systemisch-konstruktivistische Konstrukte der Mitforscher (lediglich) bestätigt und (ggf. immerhin) verstärkt. Auch dies kann durchaus als eine Bestätigung des Ansatzes und seiner plausibel sinnvollen Übertragung auf schulische Kontexte gesehen werden. Eine solche Konstruktbestätigung bei den Mitforschern bestätigt die Thesen aus Kap.14 insofern, als ihre Inhalte als relevant angesehen werden können, und auch insofern, als etliche Mitforscher, die sich bestätigt sahen, von einer Verstärkung oder entsprechenden Änderung auf Verhaltensebene berichteten.

Neben der Erklärungsebene wird in diesem Kapitel auch der Bewertungsebene besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Auf der Bewertungsebene ist zusammenfassend zu betrachten, wie die Seminarteilnehmer die Veränderungen, die sie der Fortbildung (mit-)zurechnen, aus ihrer Sicht bewerten, insb., ob sie sie als hilfreich erleben.

▼ 749 

Zunächst werden in Kap. 25.1 die zentralen Ergebnisse zur Plausibilität der Thesen im Überblick und zusammenfassend dargestellt. Ergebnisse, die die Erklärungs- und die Bewertungsebene betreffen, werden dabei berücksichtigt und einbezogen. Anschließend werden einige Hinweise für kommende systemische Forschungen und Weiterbildungen im schulischen Kontext zusammengestellt, die sich in der Auseinandersetzung der involvierten Forscher mit den Thesen und Überprüfungskategorien ergeben haben (Kap.25.2).

25.1 Plausibilität der Arbeitshypothesen

Nach den Auswertungen der Interviews mit den Mitforschern können die sechs Arbeitshypothesen zusammenfassend auf ihre Plausibilität hin befragt werden. Damit werden die zentralen Ergebnisse der Untersuchung zugleich in den Rahmen pädagogischer Praxis gestellt.572

Im Bereich der Beziehungsgestaltung konnte nachgewiesen werden, dass die Mitforscher ganz überwiegend von einem bewussteren Umgang mit Verantwortung berichten, den sie als entlastend bewerten. Eigen- und Fremdverantwortung werden klarer getrennt, erste gezielter übernommen, zweite klarer bei den zuständigen Subjekten der Selbstorganisationsprozesse belassen, insb. Schülern, Eltern, Schulleitung sowie staatlicher Bildungsverwaltung. Gegenüber der Funktionsvielfalt schulischer Pädagogen wird eine größere Klarheit eigener Positionierungen beschrieben,. gerade auch im Umgang mit schulischen Zwangskontexten. Eine Meta-Ebene im Sinne professioneller Dissoziierungsprozesse und der Herstellung einer Außenperspektive oder Beobachterperspektive 2. Ordnung wird unmittelbar nur von wenigen Teilnehmern als solche benannt, im Verlauf der Interviews aber vielfach beschrieben.573 Eine gewachsene Wertschätzung der Schüler wird u.a. an vermehrtem Perspektivwechsel, verstärktem Ressourcenblick auf die Schüler und mehr Bewusstsein für die Bedeutung von Kooperationsangeboten durch den Pädagogen festgemacht. Das eigene Führungsverhalten wird ebenfalls als verbessert geschildert, wobei bewusstere Vorbildfunktion und erhöhte Präsenz beschrieben werden. Die Konfliktbearbeitung fällt vielen Mitforschern leichter, sie ist gezielter möglich, insb. im Umgang mit Widerstand und dem selbstvalidierten Zeigen des eigenen Profils und Wollens. Darüber hinaus ließ sich anhand des Datenmaterial auch die nicht in die engere Thesenwahl aufgenommen Vermutung, dass die Fortbildung den Teilnehmern auch im Privatleben mehr Handlungsoptionen eröffnen würde, plausibel bestätigen, v.a. im Bereich der außerberuflichen Beziehungsgestaltung und Konfliktbearbeitung. Eine Bestätigung der ersten These, der gemäß die Teilnehmer davon berichten, dass sie über mehr und/oder bewusstere pädagogische Beziehungsgestaltungskompetenz verfügen, kann im Sinne von Plausibilität als gegeben angesehen werden.

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Zur Frage der Kommunikationsfähigkeit und –methoden erläutern die Mitforscher, dass sie über mehr Möglichkeiten der (gemeinsam und allein durchführbaren) Selbstklärung verfügen, wobei insb. Intervision und die frühzeitige Reflexion von Fallen, wie sie sich durch bestimmte schultypische Situationen und Gesprächskonstellationen ergeben können, als hilfreich beschrieben werden. Zur Vorbereitung und zur Durchführung von Beratungsgesprächen stehen den meisten Teilnehmern nunmehr vielfältigere Beratungsmethoden zur Verfügung, wenngleich ein weiteres Einüben für die meisten Mitforscher weiterhin wichtig, sinnvoll und notwendig erscheint. Für Beratungskontexte werden vor allem systemische Fragen - bei einem Schwerpunkt in Auftrags- und Zielklärungen574 - als besonders geeignet genannt. Auch differenziertere Schritte der Selbsterläuterung, die in diversen Kontexten anwendbar sind, werden mehrfach als unterstützend angeführt. Eine bewusstere systemisch-konstruktivistische Sprachgestaltung (v.a. für Beratungskontexte im engeren Sinne) konnte nicht ausreichend nachgewiesen werden, so dass für diesen Unterpunkt in dieser Untersuchung auch keine ausreichende Plausibilität beansprucht werden kann. Allerdings wird insgesamt die zunehmende Verfügbarkeit eines deutlich erhöhten Methodenrepertoires benannt, teilweise gekoppelt an Wünsche für einen Aufbaukurs zur Vertiefung des Bisherigen. Die These, dass die Seminarteilnehmer am Ende der Veranstaltung in ihrem schulischen Kontext beginnen, systemisch-konstruktivistische Methoden der Gesprächsführung und Kommunikation einzusetzen, kann mit leichten Abstrichen für sich Plausibilität beanspruchen.

Die dritte Arbeitshypothese, der gemäß die Mitforscher zum Zeitpunkt des Abschlussinterviews über mehr Distanzierungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten verfügen oder diese bewusster einsetzen, betrifft Fragen der Distanzierungsfähigkeit bei Engagement im und Freude am Beruf. Hier berichten die Mitforscher von deutlich gestiegenen (inneren) Distanzierungsfähigkeiten gegenüber den diversen an Schule beteiligten Personen(gruppen) bei gestiegener Selbstwahrnehmungskompetenz und Außenperspektive. Der inneren Veränderung entsprechend, beschreiben die Mitforscher auch, dass eine aktive Grenzsetzung in Kontakten nach außen ihnen deutlich leichter fällt und diese mitunter mit einem bewussteren, für sich selbst stimmigeren Umgang mit Körper, Raum und Zeiträumen verbunden ist. Damit kann die dritte These hohe Plausibilität für sich beanspruchen.

Die Kategorie des Ressourcenzugangs brachte wenig Ergebnisse für die explizite Benennung eigenen Könnens575. Eine Untersuchung der Äußerungen der Mitforscher in den Interviews zeigte jedoch, dass gerade die Achtsamkeit für das eigene Wohlergehen, wenngleich unter verschiedenen Begrifflichkeiten, so doch besonders häufig genannt wurde. Der Selbstschutz und die Akzeptanz eigener und fremder, nur schwer bzw. allein kaum oder gar nicht veränderlicher Rahmen spielten in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Auf diesem Hintergrund beschrieben einige Teilnehmer ausdrücklich Prozesse der Selbstvalidierung, die ein angemessenes Ausagierens des eigenes Profils und auch Freude am Beruf beinhalteten. Damit besitzt auch die vierte These, der gemäß die Teilnehmer über einen schnelleren oder bewussteren Zugriff auf ihre eigenen Ressourcen verfügen, deutliche Plausibilität.

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Die fünfte These vermutete, dass die Seminarteilnehmer am Ende der Fortbildung davon berichten würden, dass sie vermehrt und/ oder bewusster in Systemen, Umwelten und Interdependenzen denken. Die Untersuchung der Aussagen zum Thema Systemblick zeigt, dass die Teilnehmer ganz überwiegend zu einer flexiblen Verwendung des Systembegriffs in schulischen Kontexten unter besonderer Berücksichtigung multipler Kontexte kamen. Dieser Prozess wurde begleitet von der Gewinnung einer größeren strukturellen Klarheit. Das gilt sowohl für das Schulsystem im Allgemeinen wie auch das eigene Schulhaus. Die Schulentwicklungsprozesse am eigenen Schulhaus konnten von den Teilnehmern, die sich dafür interessierten und davon berichteten, genauer eingeschätzt und gezielter vorangetrieben werden. Das gilt insb. für die Lehrer-Gruppe, die aus einem gemeinsamen Schulhaus kamen und dort den Trainingsraum aufbaute. Aber auch darüber hinaus konnten einige Auswirkungen auf das je eigene Schulhaus im Zusammenhang mit innerschulischen Kooperationsprozessen festgestellt werden. Dazu können auch Entscheidungen der Mitforscher gezählt werden, bestimmte Funktionen bzw. Ämter nicht mehr oder besser doch nicht einzunehmen. Auch ein generell verstärktes Denken in systemisch-konstruktivistischen Kategorien und Sichtweisen, insb. das Gewinnen von Gesamt(system)blicken, konnten deutlich bei etlichen Teilnehmern nachgewiesen werden. Insofern kann auch die fünfte These Plausibilität beanspruchen.

All diese Punkte, so die sechste Vermutung, müssten, wenn sie nachweisbar wären, dazu führen, dass eine relevante Anzahl von Mitforschern davon berichten würde, dass sie in ihrem schulischen Alltag mehr Gelassenheit empfinden und dies zumindest in wichtigen Teilen der Fortbildung zurechnen würde. Denkbar war auch die Variante, dass aufgrund des differenzierteren Erkennens von problematischen Systemabläufen bei gleichzeitigem Verbleib im alten Schulhaussystem eher ein Druck zum Schulhauswechsel entstehen könnte. Die Auswertung der Interviews ergab, dass fast alle Teilnehmer von einer relevanten Erhöhung der eigenen Gelassenheit zumindest in wichtigen Teilbereichen berichteten, wobei die Wortwahl mal mehr auf die gewachsene Gelassenheit, mal mehr auf das gestiegene Sicherheitsgefühl abhob. Die kausale Verknüpfung zur Fortbildung wurde zum Teil explizit hergestellt, zum Teil ergab sie sich auch durch die Kontexte der Nennung bzw. des Gesamtinterviews. Diese These bezieht sich gerade auch auf die Bewertungsebene der Mitforscher, die damit die gewachsene Gelassenheit als zentrale Qualität des Unterschieds zu vorher benennen. Für einige war dies auch das explizite persönliche Seminarziel.576 Auch wenn bei einer zirkulär-kausalen Betrachtungsweise nicht eindeutig festgelegt werden kann, zu wie viel Prozent genau die Fortbildung für die beschriebenen Veränderungen verantwortlich zu machen ist, kann doch auch dieser sechsten These ausdrücklich Plausibilität zuerkannt werden.

Auf Erklärungsebene begründeten etliche Teilnehmer die Wirksamkeit der Fortbildung v.a. durch das elaborierte Theoriegebäude, dass aus ihrer Sicht im Großen und Ganzen in für sie relevanter Weise auf die schulische Praxis übertragen wurde. Mehr Übungen und mehr Zeit (z.B. Aufbaukurs), so die Auffassung etlicher Mitforscher, hätte die innere Vernetzung der verschiedenen Aspekte des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes ausbauen und den eigenen Übertrag in die Praxis des Alltags weiter erleichtern können. Deutlich wurde auch, dass die Teilgruppe der Lehrer einer Schule Vorteile in der Übertragung des Angebots in die eigene schulische Praxis hatte, da ihre Mitglieder sich untereinander begleiten und kurzschließen konnten und überdies (zum Teil) an der Realisierung eines gemeinsamen Projekts (Trainingsraum) kooperativ arbeiteten. Auch können mehrere Pädagogen an einer Schule mehr bewegen als eine Einzelperson.

▼ 752 

In der Auswertung der Eingangsreflexion in Kap. 15.2. hatte sich bereits gezeigt, dass einige Teilnehmer ansatzweise ein systemisch-konstruktivistisches Vorverständnis mitbrachten. Letzteres wurde durch die Fortbildung deutlich ausdifferenziert und erweitert. Genannte Ziele wurden zum Teil sehr genau erreicht oder die Teilnehmer waren zunehmend auf dem Weg dorthin gebracht.

Mit der Bestätigung der Plausibilität der sechs Thesen kann auch festgehalten werden, dass die Fragestellung der Dissertation aus Sicht der Mitforscher in ihrem Praxisfeld Relevanz besitzt. Die systemisch-konstruktivistische Theorie und die in dieser Arbeit vorgestellte Übertragung auf die Kontexte Schule (und Fortbildung) bieten eine Vielzahl neuer und relevanter Deutungen und Erklärungen für schulische Alltagsphänomene sowie vielgestaltige Anregungen zur Lösung schulischer Probleme und Herausforderungen für Pädagogen unter den gegebenen Rahmenbedingungen. Das Veränderungspotenzial systemisch-konstruktivistischer Pädagogik für Lehrkräfte in der gegenwärtigen Schule kann dementsprechend als hoch eingeschätzt werden. Die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse ist allerdings insofern eingeschränkt, als diese Dissertation die aufgestellten Thesen - letztlich in Einzelfalluntersuchungen - nur auf Plausibilitäten hin prüfen konnte (und von Anfang an auch nur wollte).577 Die hier vorliegende Studie ist insofern eher als Pilotstudie zu sehen.578

Eine Generierung zusätzlicher, vorher nicht explizit vorgesehener Thesen kann am deutlichsten im Zusammenhang mit Kap.24 gesehen werden - und zwar, neben Fragen der Auswirkungen auf den Privatbereich, v.a. im Bereich der Erklärungen der Mitforscher für den Eintritt der Veränderungen. Allerdings sei noch einmal ausdrücklich betont, dass auch in den vorherigen auswertenden Kapiteln etliche Kategorien auf Basis von Äußerungen der Mitforscher in den Interviews von mir als Hauptforscher ausgewählt wurden.

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Von einem in wesentlichen Teilen erfolgreichen Nachweis der Plausibilität der Thesen müssen Fragen des Erfolgs der Fortbildung selber unterscheiden werden. Über diese entscheiden die Mitforscher und Seminarteilnehmer anhand der von ihnen vorab konstruierten (Lern-)Ziele (Jäpelt 2004a, 287). Auch hier lassen sich in den Interviews deutliche Erfolge heraushören, deren Spannbreite allerdings variiert. Von einigen Teilnehmern, die berichten, dass genau ihre vorab aufgeschriebenen (und dann teilweise sogar wieder vergessenen) Zielformulierungen eintraten, reicht das Spektrum über Mitforscher, die von vielfältigen Neuerungen und der Erkenntnis, dass der systemisch-konstruktivistische Weg gerade erst beginne, erzählen, bis hin zu einer Teilnehmerin (D), die – trotz Verbleib in der Fortbildungsgruppe – konstatiert, dass ihr die Fortbildung sehr wenig gebracht habe.

25.2 kommende systemische schulische Forschungen und Weiterbildungen

Im Zusammenhang mit der Konzipierung, Durchführung und Auswertung der Fortbildung ergaben sich weitere Aspekte, die mögliche kommende systemisch-konstruktivistische Forschungen und Fortbildungen mit Pädagogen für den schulischen Bereich betreffen.

Für den Bereich der Forschung besteht bspw. die Möglichkeit, dass kommende wissenschaftliche Untersuchungen zum hier erforschten Themengebiet die „Wahrnehmungen von Lehrpersonen und Schüler/innen systematisch aufeinander beziehen“ (Oser/ Spychiger 2005, 194). Es könnte überprüft werden, inwieweit sich die These Huschke-Rheins (1998, 146) bestätigen ließe, dass eine Steigerung des Selbstwertgefühls von Lehrenden auch ihre Freude am Unterrichten und ihre Motivation bestimmt, und untersucht werden, inwieweit dies wiederum auf die Schüler und Klassen (und zwar aus deren Sicht) einwirkt. Auch könnte interessant sein, wie eine Klasse Verhaltensänderungen einer Lehrperson im Verlauf eines Jahres (oder auch länger) beschreiben, erklären und bewerten, die an einer umfangreicheren Weiterbildung zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik und Beratung in Schule teilnimmt. Außerdem könnte ein Konstrukt- und Konzeptwandel bei Lehrpersonen zu einem ähnlichen Wandel bei Schülern führen (Oser/ Spychiger 2005, 192). Altrichter et al (2003, 646) weisen zusätzlich auf mögliche Veränderungen bzw. den Einbezug von Eltern und Kollegen hin.

▼ 754 

Des Weiteren wäre es interessant, die Vergleichspopulation nach einem Jahr (und länger) nach den Auswirkungen der Fortbildung zu fragen. Damit könnten Langzeitwirkungen stärker untersucht werden. Jäpelt (2004a) weist darauf hin, dass gemäß ihrer Untersuchung gerade diejenigen Pädagogen, die das Angebotene wenig umsetzen, langfristig auch von eher wenig bis keiner Veränderung berichten. Allerdings wird es bei positivem Bescheid durch die früheren Teilnehmer mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer problematischer, eingetretene Veränderungen der entsprechenden Fortbildung zuzurechnen, da zunehmend mehr Faktoren das dann aktuelle Verhalten der Mitforscher bestimmen. Insofern kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass eine Überprüfung nach einem oder gar fünf Jahren zu deutlich valideren Ergebnissen kommt als diese Dissertation. Allerdings kann diese Dissertation nicht beanspruchen, Aussagen über Langzeitwirkungen der Fortbildung überhaupt zu machen. Deutlich wurde in etlichen Aussagen von Teilnehmern immerhin, dass sie gegen Ende der Fortbildung zunehmend begannen, Aspekte des systemisch-konstruktivistischen Denkens umzusetzen und Veränderungen zu erkennen.

Die Überprüfung einer weiteren These, dass nämlich die „Bereitschaft und Lust zum Ausprobieren und Experimentieren“ zunähme (Palmowski 2003, 235), war nicht explizit Gegenstand der Dissertation. Aus teilnehmender Beobachtung und aus den Interviews erstellt sich ein Bild, dass dies in dieser Fortbildungsgruppe erst im Verlauf und vermehrt gegen Ende der Seminarreihe festzustellen war. Interessant wäre allerdings eine Untersuchung über das Verhältnis von ‚faktischem Ausprobieren’ und ‚wahrgenommener Veränderungsintensität und qualität’. Deutlich wurde bereits, dass entsprechende Lernprozesse ohne ein Ausprobieren im Bereich von Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung kaum möglich sind.

Sehr lohnenswert dürfte auch eine Untersuchung dazu sein, wie Schule im Sinne von gesetzten und finanzierten Rahmenbedingungen in der Postmoderne unter besonderer Berücksichtigung systemisch-konstruktivistischer Aspekte angemessener funktionieren kann. Während diese Arbeit ja gerade nach Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrer unter den in Deutschland aktuellen Bedingungen suchte, wäre dann vielmehr die systemisch-konstruktivistische Idee im Vordergrund, dass veränderte Kontextbedingungen auch ein verändertes Verhalten hervorrufen. Das in dieser Dissertation mit Plausibilität belegte schulische Veränderungspotenzial des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes könnte hier noch wichtige Erweiterungen erfahren.

▼ 755 

Für den Bereich möglicher kommender Fortbildungen zur systemischen Pädagogik und Beratung in Schule können ebenfalls noch einige Überlegungen angestellt werden. Deutlich wurde in der obigen Auswertung v.a. eins: Wenn mehrere Vertreter einer Schule, die gemeinsam ein wichtiges Projekt zum sozialen Lernen an ihrer Schule vorantreiben, auch gemeinsam an einer fortlaufenden Fortbildungsgruppe teilnehmen und diese für ihre Anliegen nutzen, und wenn diese Fortbildung neben Beratungsfragen auch Selbstklärungen anbietet und Kontextbedingungen und Schulorganisationsfragen behandelt, dann steigt die Effizienz einer solchen Fortbildungsveranstaltung für das entsendende Schulhaus deutlich. Gerade für systemische Fortbildungen wäre es also wünschenswert, dass mehrere (interessierte und engagierte) Kollegen einer Schule teilnehmen. Auf der anderen Seite mag dies die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Gruppe genügend Teilnehmer bekommt, aus organisatorischen Gründen mindern – weshalb der Auftraggeber der hier untersuchten Fortbildung auf vergleichbare Bedingungen verzichtet hatte. Deutlich wurde aber auch, dass bereits eine Fortbildung mit 90 Zeitstunden bei den Teilnehmern erhebliche, von diesen überwiegend positiv bewertete, umfassende Veränderungen hervorrufen kann.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis und die didaktisch-methodische ‚Verpackung’ der Theorie ist für (Fortbildungen für) Lehrer wahrscheinlich ein besonders wichtiger Aspekt, da hier ggf. dem legitimen aber etwas unreflektierten Wunsch danach, möglichst einfach umsetzbare, einsatzbereite und rasch wirksame Instrumente an die Hand zu bekommen, von Seminarleitungsseite aus begegnet werden muss. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch (der Ausschreibung) des Seminars (theoretische Unterfütterung) und dem faktischem Anspruch etlicher Teilnehmer (schnelle, standardisierbare Praxisrelevanz und Entlastung) kann in den Bedingungen (bürokratisches Ordnungssystem) begründet liegen, unter denen Lehrer arbeiten. Deutlich wurde aber, dass gerade die Verbindung von Theorie und Praxis von einigen Teilnehmern explizit als Erklärungskonstrukt für die Wirksamkeit der Fortbildung genannt wurde und deshalb aufrecht erhalten werden sollte.

Ähnlich wie bei Jäpelt (2004a, 11 Off) blieb eine die Selbstorganisation betonende Weise, die Fortbildungsseminarreihe zu führen, bis zum Schluss unter den Teilnehmern und Mitforschern umstritten. Auch dies könnte daran liegen, dass Lehrer selber unter dem Druck der bürokratischen Vorgaben und des Aufsichtsdrucks durch Kultusministerien und staatliche Schulämter im schulischen Alltag einer Zwangsveranstaltung häufig anders vorgehen müssen (oder verständlicherweise zumindest davon ausgehen). Aus den Ergebnisse der Evaluation lassen sich hier wenig Anregungen für weitere Fortbildungen geben. Angesichts der für eine anspruchsvolle systemisch-konstruktivistische Fortbildung nötigen Theoriekonsistenz und der Möglichkeit, verstörend-anregende Unterschiede machen zu können, bietet es sich allerdings an, explizit an der Gewährung von Freiräumen für eigene Zielbestimmungs- und -gestaltungsprozesse festzuhalten und diese, theoretisch fundiert, entsprechend zu platzieren und vorzuleben.

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Da - auch das wurde an den Rückmeldungen der Mitforscher deutlich - der systemischkonstruktivistische Ansatz und Anspruch eng an die Beziehungsgestaltung durch den Seminarleiter und Hauptforscher als Vorbild gekoppelt ist, sei abschließend noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zur Durchführung einer entsprechenden Fortbildung nicht nur sozusagen ,technisches Know-How' nötig ist sondern eine entsprechende (Grund)Haltung inkl. standhafter Sensibilität.

Mit der Gesamtwürdigung und Ergänzung der Arbeitshypothesen sowie dem Ausblick auf mögliche Aufgaben für kommende systemische Forschungs- und Fortbildungsprozesse ist der dritte Teil der Dissertation – die Evaluation der Fortbildung – abgeschlossen. In einem letzten Kapitel werden meine Position als Hauptforscher im Forschungsprozess sowie die gefundenen Ergebnisse noch einmal reflektiert.


Fußnoten und Endnoten

572  Wie gefordert von König 2003, 94.

573  Zur Außenperspektive: vgl. a. weiter unten.

574  Dieser Akzent überrascht angesichts der schulischen Komplexität von Gesprächssituationen wenig.

575  Obwohl es im Seminarverlauf eine Übung gegeben hatte, in der eigene Stärken anderen gegenüber benannt worden waren. Andererseits war es am Ende des letzten Tages nicht mehr zu einem gegenseitigen Stärken-Feedback gekommen, da Teilnehmer sich dagegen ausgesprochen hatten.

576  Basale Kritik am systemisch-konstruktivistischen Ansatz gab es nur von einer Teilnehmerin, die auch ansonsten wenig positive Auswirkungen berichtete.

577  Das gilt auch für weit umfangreichere Studien ganzer Forschungsgruppen in der Pädagogik (vgl. z.B. die Untersuchungen von Oser/ Spychiger (2005), die ähnliche Einschränkungen für die Verallgemeinbarkeit machen müssen (S.193) ).

578  Da diese Fortbildung schon allein durch ihre Dauer und die Tatsache, dass die Teilnehmer selber zahlen müssen, ein hohes Maß an Eigenmotivation bei den Teilnehmern voraussetzt, besteht außerdem die Möglichkeit, dass weniger innovative (oder Veränderung suchende) Kollegen in der Fortbildungsreihe unterrepräsentiert waren. Das beinhaltet die Gefahr, dass die im Zusammenhang mit den Thesen erworbenen Plausibilitäten u.U. nicht so einfach auf ‚breitere Massen’ schulischer Pädagogen übertragen werden könnten.



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09.06.2008