12 Ziele postmoderner Pädagogik für Lehrerweiterbildung

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Vor der Durchführung einer Weiterbildung für im Beruf stehende Lehrer bzw. Pädagogen in verschiedenen Schultypen zum Thema der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik und Beratung in Schule müssen Ziele dieser Veranstaltung geklärt werden. Im Vorfeld die Frage zu beantworten, wozu es für Lehrer vorteilhaft sein könnte, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen, zielt auch bereits in Richtung einer Erstellung von Thesen (Kap. 14) über mögliche Veränderung ihrer kognitiven Strukturen, ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im Anschluss an die Fortbildung.

Deutlich soll an dieser Stelle gesagt werden, dass die Fortbildung explizit – darauf wurde im Vorfeld klar hingewiesen – nicht auf Veränderungen politisch festgelegter Rahmenbedingungen von Schule abzielen konnte und sollte. Vielmehr zielte sie gerade auch auf Einzellehrer in ihrer jeweiligen aktuellen schulischen Situation, die für sich selber schauen wollten, was ihnen im Moment für ihren Schulalltag hilfreich sein und gut tun könnte. Es wurde weiter davon ausgegangen, dass potenzielle Teilnehmer der Fortbildung bereits den ‚Praxisschock’ des Lehrers bei seiner „Einschulung“ (Retzer/Simon 1998, 4) hinter sich haben und nach mehrjähriger Erfahrung als Lehrer auf der Suche nach einem bereichernden „Burn-In“ (Palmowski 1998c; ‚Kommune 80’, 2000) sein würden. Nach den Ausführungen in den Kap.6 bis 11 (d.h. im zweiten Teil der Dissertation) ließe sich voraussichtlich eine solche Stärkung v.a. über Verbesserungen in den Bereichen Beziehungsgestaltung und Kommunikation unter ressourcenorientierter Beachtung sowohl typischer Muster des Systems Schule und seiner Umwelten als auch eigener persönlicher Selbst und Grenzdefinitionen der Teilnehmer erreichen.

In diesem Kapitel wird zunächst der Versuch unternommen, den Begriff der ‚Systemischen Pädagogik’ auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zusammenfassend zu beschreiben bzw. zu klären (Kap. 12.1). Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Frage, welche detaillierteren Ressourcen und Kompetenzen in einer systemischen Fortbildung für Lehrer gestärkt und ausgebaut werden sollten (Kap.12.2), welche Wege der Veränderung und welche neuen Selbstdefinitionsmöglichkeiten für Lehrer möglich sind (Kap. 12.3) und wie ein entsprechendes Curriculum unter inhaltlichen und formalen Aspekten aussehen kann (Kap.13).

12.1 Begriffsklärung ‚systemisch-konstruktivistischer Pädagogik’

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Explizite Definitionen systemischer Pädagogik finden sich derzeitig in der entsprechenden Literatur und auch im Internet512 fast nicht. Wie in dieser Dissertation deutlich geworden sein dürfte, stellen viele Ideen zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik adaptierte Übertragungen aus der beraterischen, therapeutischen, psychologischen und organisationsentwickelnden Systemik dar. Angesichts der mittlerweile erheblichen Vielfalt systemischer und konstruktivistischer Ansätze in diesen Bereichen ist es nicht leicht, zu einer sinnvollen und handhabbaren Definition des Begriffes der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik zu gelangen. In diesem Kapitel soll der Begriff zunächst definiert513 und anschließend zusammenfassend erläutert werden. Ein solcher wissenschaftlicher Anspruch ist notwendig für eine Dissertation aber auch für eine Fortbildung, die den Anspruch erhebt, sich in ihren Praxisvorschlägen wesentlich an einer theoretischen Richtung zu orientieren.

‚Systemisch-konstruktivistische Pädagogik’ sei definiert als die Kunst reflexiver und beraterischer Handlungswissenschaft für ko-evolutionäre Bildungs- und Erziehungszusammenhänge mit Menschen im Umgang mit Konstrukten unter besonderer Berücksichtigung von Ressourcen, Mustern und Umfeldern hin zu differenzierteren Formen der Selbstorganisation.

Im Folgenden soll diese Definition näher erläutert werden. Wichtige Bestandteile der Definition werden kursiv gesetzt.

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Systemisch-konstruktivistische Pädagogik verbindet Systemtheorie und konstruktivistische Epistemologie. Sie kann als Kunst angesehen werden, da sie mit letztlich unberechenbaren selbstorganisierenden Systemen umgehen muss. Der Lehrer muss Zugänge finden zu den Wirklichkeiten der Schüler und diesen persönliche Zugänge zum Stoff ermöglichen (Palmowski 1999c, 132f). Der reflexive Aspekt dieser Definition bezieht sich hierbei sowohl darauf, dass Pädagogik in postmodernen Zeiten eine über sich selbst reflektierende Wissenschaft sein muss, als auch darauf, dass das Nachdenken über das eigene Tun auf eben dieses Tun zurückwirkt, welches sich zirkulär wieder auf die Theorie auswirkt. Insofern ist pädagogische Wissenschaft immer auch Handlungswissenschaft; sie erhält ihre Relevanz aus ihrer Nützlichkeit für den pädagogischen Alltag. Reflexive Pädagogik ist ein ständiger wissenschaftlicher Veränderungsprozess ohne Anspruch auf Wahrheit, der die stets zu wiederholende Einnahme von Metapositionen und Außenperspektiven betont. Der reflexive Charakter von Pädagogik bezieht sich damit auch auf die Betonung der Position des Beobachters, erstens, als eines Standpunktes der Beobachtung 2. Ordnung (Lindemann 2003, 144), und zweitens als unvermeidbar aktiver und kreativer Teil des pädagogischen oder beraterischen Systems.

Schon allein aufgrund der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion kann Pädagogik andere Individuen nicht steuern, sondern nur zu koevolutiven Prozessen ‚bei-steuern’, sie kann immer nur begleitend wirken. Sie ist insofern, als sie allenfalls Impulse zur Selbststeuerung geben kann, ‚beratend’ (Huschke-Rhein 1998b, 10) bzw. ‚beraterisch’ zu nennen. Systemisch-konstruktivistische Pädagogik muss aber auch deshalb beratend sein, weil sie in einer Zeit versucht, (ergänzende oder alternative) Antworten auf aktuelle pädagogische Fragen anzubieten, in der der Beratungsbedarf deutlich wächst (vgl. Kap. 10.1). Die systemisch-konstruktivistische Pädagogik sieht Beratung als eigenen Bestandteil bzw. Spezialfall ihrer selbst. Sie verwendet in diesem Zusammenhang die bereits in Kap.10.2 aufgeführten, charakteristischen Ideen und Grundhaltungen (S.385).

Auch wenn Erziehung eine Unmöglichkeit ist, so sind doch Bildungs- und Erziehungszusammenhänge Gegenstand pädagogischer Bemühungen. Die Verwendung des Begriffs des ‚Menschen’ in der Definition beabsichtigt zweierlei. Zunächst soll deutlich gemacht werden, dass Schüler primär nicht Gegenstände von Erziehungsprozessen sondern Subjekte in koevolutionären Bildungsprozessen (mit beidseitigen Lernchancen) sind. Zweitens soll der Begriff des Menschen’ hier die Diskussion, ob nun Kommunikation oder Menschen Objekte oder Subjekte von Pädagogik sind, abkürzen. Sowohl in der Literatur zum Thema als auch in der Praxis von systemischen Fortbildungen zeigt sich immer wieder, dass Pädagogen davor zurückschrecken, das Individuum – wie Luhmann dies tut, wenn er Kommunikationsprozesse als relevanten Gegenstand sieht - aus der Theorie herauszunehmen, vielleicht in der Befürchtung, das Individuum als zentrales Gegenüber pädagogischer Bemühungen ‚unterwegs’ versehentlich aus dem Blick verlieren zu können. Pädagogik lebt ja geradezu vom Einzelfallbezug, was auch Luhmann nie in Abrede gestellt hat.514 In der systemischen Pädagogik geht es also immer auch um den Umgang des Menschen mit sich selbst und anderen - und von dieser Frage der Beziehungsgestaltung sind alle drei ‚Systeme menschlichen Lebens’ (Ruf 2005, 19) betroffen - schon allein dadurch, dass sie sich aufeinander beziehen in ihrer (modellhaften, analytischen) Getrenntheit. Postmoderne reflexive Pädagogik begleitet mithin Interaktions- und Beziehungsgestaltungen von Menschen mit sich selbst (mit der eigenen Psyche und dem eigenen Körper) und mit anderen Menschen (im Verhalten).

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Da das psychische System mit Konstrukten operiert, begleitet Pädagogik Menschen im Umgang mit deren Konstrukten. Lernen sind Prozesse der Assimilation und Akkomodation, während derer Welt- und Selbstbilder sich verändern, in der Postmoderne günstigenfalls sich auch pluralisieren. Ziel von pädagogischen Prozessen ist, dass primär die begleiteten Menschen und sekundär auch die begleitenden Menschen stärker und weiter ausdifferenzierte Formen der Selbstorganisation erreichen, also mehr Selbstständigkeit bzw. ‚Individuation’ (Stierlin) oder ‚Differenzierung’ (Schnarch)515. Dies geht dann einher mit einem Anstieg der Beschreibungs- und Handlungsmöglichkeiten dieser Menschen insofern, als eine strukturelle Kopplung zwischen Lernen und Entwicklung interpersoneller Kommunikationsfähigkeit vorausgesetzt wird (Willenbring 2003, 158).

Eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik achtet im Zusammenhang mit solchen Prozessen insb. auf Ressourcen, Muster und Umwelten. Der Fokus auf vorhandene Ressourcen (Kap.9.7) wird in der Definition verstanden als Ausdruck einer grundlegenden Wertschätzung der Person. Diese Achtung zeigt sich u.a. in der Betonung der Wichtigkeit von Beschreibungen person- und umfeldbezogener Fähigkeiten, Fertigkeiten und Möglichkeiten – gerade auch in einem bewertenden und selektierenden Schulsystem. Wertschätzung von Menschen widerspricht nicht einer Respektlosigkeit gegenüber Ideen (vgl. Kap.9.9). Der Blick auf Muster erlaubt die Erkennung, Verstörung und Anregung dynamischer Wechselwirkungen und damit insb., nach dem „Wie der Wechselwirkungen zwischen dem jeweiligen Denken und Verhalten aller Beteiligten“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 103) zu fragen. Hier werden viele der Fragen aus dem breiten systemischen Repertoire (Kap.10.6.5) relevant.

Da Systeme sich mit Umfeldern koppeln und ihre gegenwärtigen Zustände und ggf. auch ihre Überlebensfähigkeit von solchen Kopplungen mit beeinflusst werden, kommt auch der Beachtung von Umfeldern eine große Bedeutung in der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik zu. Sie orientiert sich im Umgang mit Systemen (Individuen, Familien, Klassen, Kollegien und Organisationen) an der Eigendynamik von Systemen, die ihre internen Strukturen und Ordnungen sowie ihre externen strukturellen Kopplungen besitzen. Auf diese Weise betont die systemische Pädagogik selbstorganisierende Kräfte, die sie - bei allen Beteiligten – stärken will. Bezogen auf zu hochgradig engagierte bzw. im Schul(haus)system eher gesundheitsschädlich als selbstfürsorglich verstrickte Pädagogen bietet sie die Chance, Verantwortlichkeiten zu relativieren und frühzeitig gegen Burn-Out-Prozesse (Palmowski 1998a, 136) und für eine innere und äußere Work-Life-Balance zu wirken.

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Die Verbindung des autopoietischen Moments mit dem ko-evolutionären Aspekt systemisch-konstruktivistischer Pädagogik stellt die Betrachtung von Beziehungsgefügen in den Mittelpunkt (Voß 2000b, 23) und lädt alle Beteiligten bzw. Systemmitglieder ein zu einer gemeinsamen Kommunikation, Reflexion, Verhandlung und Vereinbarung von Sichtweisen, Interessen, Regeln, Prozessen, Zielen, Inhalten, Methoden, Fähigkeiten und Wissen, sowie zu einer gemeinsamen Metakommunikation über Beziehungsgestaltungen, Kommunikation und Reflexionen selbst (Lindemann 2003, 148) - all dies unter Wahrung eines Gesamtblicks für miteinander relevant gekoppelte Systeme.

Auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen und dieser Definition können nunmehr Ressourcen und Kompetenzen benannt werden, deren Stärkung aus einer systemisch-konstruktivistischen Sicht hilfreich für Lehrer in der Gegenwart sein können.

12.2 zu stärkende Ressourcen- und Kompetenzfelder

Mit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist es zu einer „ ‚Überlebensfrage’ im beruflichen und persönlichen Kontext“ geworden, (immer wieder neue) Orientierung in einer sich stark wandelnden gesellschaftlichen und institutionellen Umwelt zu finden (Martin/ Schuster 2005, 17). Die in dieser Dissertation entwickelte und evaluierte Fortbildung zielt auf eine solche Stärkung von (v.a. Einzel)Lehrern, zugleich aber auch exemplarisch auf die Sicherung „einer hohen Qualität des Lehrens und Lernens, [die] auf Dauer nur mit psychisch gesunden Lehrern gewährleistet werden [kann], d. h. mit Lehrern, die sich durch Zufriedenheit, Engagement und Widerstandsfähigkeit gegenüber den berufsspezifischen Belastungen auszeichnen“ (Schaarschmidt 2005, 18). Zufriedenheit wird sich hier am ehesten einstellen können, wenn Pädagogen Perspektiven auf ihr Alltagshandeln in für sie relevanter Weise verändern und bereits vorhandene Professionalität und Kompetenz aktivieren und ggf. ausdifferenzieren und erweitern können (Kreter 2005, 60).

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Während individuelle Präferenzen und Ressourcen letzen Endes definitiv erst in einer bereits laufenden Fortbildung erfragt werden können, lassen sich doch einige grundlegende Ideen zu dem, was Lehrer angesichts des gegenwärtigen Zustands gesellschaftlicher und schulischer Systeme gebrauchen könnten, im Anschluss an die bisherigen Ausführungen durchaus im Vorfeld anstellen. Anhand diese begründeten Vermutungen lässt sich ein entsprechendes Curriculum entwerfen.

Wie weiter oben bereits beschrieben, hat der schulische Pädagoge - heute mehr denn je - essentiell mit Beziehungsgestaltung und Kommunikation und daher mit Nähe-Distanz-Regulierungen und Konfliktaustrag zu tun. Da chronische soziale Konflikte mit anderen Menschen krank machen können, müssen Professionalisierung und „Gesundheitsprävention im Lehrerberuf Maßnahmen einschließen, welche den Umgang mit schwierigen Beziehungssituationen, also die Beziehungskompetenz verbessern“ (Bauer 2007b, 90). Von besonderer Bedeutung ist hier die Fähigkeit, eine distanzierte Außenperspektive bei gleichzeitigem In-Kontakt-Sein beziehen zu können, also immer wieder eine Metaposition einnehmen zu können, in der der Berater „weder mit seinen eigenen Primärgefühlen noch mit denen des Gegenübers identifiziert“ ist (Hubrig/ Herrmann 2005, 114) und präsent bleibt.

Zugleich ist es für Pädagogen hilfreich, sich bewusst zu machen und zu sein, wo ihre persönlichen und auf das gegenwärtige Schulsystem passenden unterstützenden Ressourcen, Stärken, Freuden und auch Grenzen liegen. Wenn man in den Bereichen tätig ist, die den eigenen individuellen Stärken und Begabungen entsprechen, entsteht mehr Freude im und am Beruf – und auch die Organisation profitiert dann vom höheren Einsatz ihrer Mitglieder (Martin/ Schuster 2005, 111). Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass die gegenwärtige Schulkultur mit ihrem Defizitfokus immer noch eher in eine „Schwächekultur“ (Martin/ Schuster 2005, 112) ‚einlädt’. Da obendrein Lehrer zum Teil zu Selbstausbeutung neigen (Schaarschmidt 2005; Kretschmann 2001a), ist für sie die Kenntnis eigener Grenzen um so wichtiger. Zu den gerade angesprochenen institutionellen Aspekten gehört auch die Kenntnis institutionell, also vom Schulsystem vorgegebener Regeln und Grenzen. Die tägliche pädagogische Praxis stellt an Lehrer die zentrale Anforderung eines souveränen Umgangs mit den im Schulsystem angelegten Paradoxien und in Erziehung enthaltenen Ambivalenzen bei „Kultivierung pädagogischer Reflexivität“ (Völkel/ Völkel 2005, 235).

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In einer Zeit steigenden Beratungs-, Gesprächsführungs- und Absprachebedarfs in Schule ist also davon auszugehen, dass – insb. für Lehrer, die (wie in der hier untersuchten Fortbildung) keine vollständige Beratungsausbildung durchlaufen haben – es nützlich sein dürfte, zu einer bewussteren Beziehungsgestaltung und erweiterten Kommunikationsfähigkeit zu gelangen. Dies setzt voraus bzw. beinhaltet die Kenntnis, Wahrnehmung und Wahrung eigener Ressourcen und Belastungsgrenzen. Dabei müssten insbesondere auch Kompetenzen vermittelt werden, die die Handlungsfähigkeit im Bereich von schulischer ‚Beratung’ (in ihrem breiten Spektrum) und außerunterrichtlicher Gesprächsführung erweitern oder ausdifferenzieren. Ein solcher Ansatz dürfte dann zu einer Erhöhung von Handlungsoptionen und zu einem vertieften (auch intuitiven) Wissen über die je situative, auch persönliche Angemessenheit dieser gewachsenen Handlungsmöglichkeiten führen.

Huschke-Rhein (1998b,11) schlägt auf dem geschilderten Hintergrund v.a. Beratungsmethoden, Konfliktberatung und -bearbeitung, Supervision, Kollegiale Fallberatung und Training von Entlastungstechniken vor. Deutlich wurde bereits, dass dieses nur Sinn macht, wenn gleichzeitig auf die dahinter stehenden Haltungen geachtet wird. D.h. aber, dass Fortbildungsveranstaltungen - wie die hier beschriebene - Fragen der eigenen (professionellen) Identität betreffen können (Bauer 2004b, 38). Für schulische Pädagogen zu klären ist die Frage, wie man sich in einer für sich selbst authentisch-stimmigen Weise als Person zu erkennen gibt unter Wahrung der beruflichen Rolle. Identität wird ja gerade auch in Beziehungen ausgehandelt, gestiftet und gefunden (Watzlawick 1974). Zu Balancieren sind u.a. die Identifikation mit dem Beruf einerseits und der Abstand zur beruflichen Sphäre andererseits; sowie die Hinwendung zum Schüler zum einen und die Notwendigkeit, zu führen und auszuwählen zum anderen (Bauer 2007a, 88).

Deutlich wird bereits, dass die Vertiefung von Schlüsselqualifikationen v.a. im Bereich ‚weicher’ Faktoren liegen muss, d.h. im Gebiet sozialer (d.h. auch kontextangemessener), kommunikativer, persönlicher Kompetenzen. Unter Rückgriff auf die bisherigen Ausführungen lassen sich an dieser Stelle fünf fundamentale, für den systemisch-konstruktivistischen Ansatz charakteristische Kompetenzbereiche festhalten, in denen mögliche Veränderungen für Pädagogen während und im Anschluss an eine entsprechende Weiterbildung stattfinden können: Systemkenntnis, Beziehungsgestaltung, Kommunikationsfähigkeit, Ressourcenzugriff, (Belastungs)Grenzwahrung. Diese gestatten hohe Flexibilität, Kontextpassung und berufliches Leistungsvermögen und stärken Selbstmanagement und Selbstlernfähigkeit. Sie werden in Kapitel 13 weiter ausgeführt.

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Im folgenden Unterkapitel soll zunächst untersucht werden, wie solche Kompetenzen und Ressourcen vermittelt werden können und, da sie Fragen der eigenen beruflichen Identität betreffen, wie sie Möglichkeiten von Pädagogen zur Selbstdefinition verändern können.

12.3 Veränderungs und neue Selbstdefinitionsmöglichkeiten

Insofern als eine umfangreichere Fortbildung wie die hier behandelte den Teilnehmern eine innere Standortbestimmung (Martin/ Schuster 2005, 89) anbietet, kann sie – ebenso wie Supervision - als „Innovationsinstrument“ (Palmowski 1998a, 136) verstanden werden. Ein solches Instrument besitzt sowohl inhaltliche als auch formale Dimensionen: Da instruktive Interaktion nicht möglich ist, müssen die Inhalte der Weiterbildung sich an vorhandene Strukturen ankoppeln: „Eine auf langfristige Veränderungen abzielende Lehrerbildung kann letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, Lehrer ‚in den Verhältnissen zu stärken’, indem diese lernen, mit der Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit der Schulpraxis so umzugehen, dass ihr erworbenes theoretisches Wissen […] durch permanente Angleichungsprozesse […] umgebaut und immer wieder angepasst werden kann“ (Völkel/ Völkel 2005, 235). Für solche Lernprozesse muss es den Teilnehmern möglich sein, die oben genannten, in der Fortbildung fokussierten Ressourcen und Kompetenzen in für sie persönlich stimmiger Weise zu stärken (Kap.13) oder ggf. auch als für sie nicht nützlich zu verwerfen. „Im Mittelpunkt der Fortbildung stehen deshalb die persönliche Entwicklung der [...] Lehrer, ihre individuellen Muster, ihre Wahrnehmungs- und Deutungsgewohnheiten“ (Hubrig/Herrmann 1997, 160).

Die Form der Weiterbildung muss dem systemisch-konstruktivistischen Inhalt bzw. der systemisch-konstruktivistischen Theorie entsprechen, da das Medium des ‚Transports’ dem ‚Gelehrten’ korrespondieren sollte, um einerseits glaubwürdig zu sein und andererseits überhaupt angemessen wirken zu können. Auf diesem Weg gefundene, für die Teilnehmer stimmige Veränderungen bzw. ‚Lösungen’ werden nicht als unmittelbares „Handlungsrezept“ verstanden sondern zunächst als „Auflösung einer Problemkonstruktion im Kopf“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 33). Derartige „Selbstveränderung [...] erfordert Mut, Durchhaltevermögen, Anstrengung, Wachsamkeit, Frustrationstoleranz, meist mehrere Anläufe, und der Ausgang ist immer ungewiss“ (Martin/ Schuster 2005, 107). Der Fortbildungsrahmen muss hier eine entsprechend einbettende Kultur zur Erprobung und Reflexion anbieten – auch dies ist eine Frage der Form.

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Grundsätzlich lassen sich, nach Clement (2007), drei Wege zur Veränderung für die Teilnehmer unterscheiden:

  1. Veränderung der realen Gegebenheiten (Assimilation): hier kann es um eine Veränderung eigener Verhaltensmuster aber auch von Umfeldern (bzw. struktureller Kopplungen) gehen.
  2. Veränderung der Bedeutung (Akkomodation): hier geht es um die Umgestaltung von Ideen und Glaubensmustern (insb. auch um die Akzeptanz von Unveränderlichem).516
  3. eine Mischung beider Arten der Veränderung: also Veränderungen, die sowohl die Verhaltensebene als auch kognitive Einstellungen betreffen.

Abb. 12-1: Veränderungsprozesse (nach: Clement 2007)

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Entscheidungen über Veränderungen sind nach der Theorie des systemischen Ansatzes in zirkuläre Interaktionsprozesse eingebettet. Daher gilt, erstens, dass es möglich ist, solche Veränderungen und Entscheidungen in einer Fortbildungsreihe in einer festen Gruppe zu begleiten. Und zweitens gilt, dass über alle drei von Clement unterschiedenen Wege Veränderungen in ein (z.B. Schulhaus-)Ssystem eingebracht werden können. Denn, je mehr man das Kommunikationsmuster in einem Problemsystem bzw. in einem als problematisch erlebten System kennt, desto mehr kann jeder Beteiligte es ändernd beeinflussen, indem er sich mit einem relevant neuartigen, angemessen ungewöhnlichem Verhalten unterschiedsbildend in die Beziehungsgestaltungen einbringt (Hubrig/ Herrmann 2005, 107).

Derartige bisher eher ungewohnte Beziehungsgestaltungen können – aus einer Innen- wie aus einer Außenperspektive - als Ausdruck neuer Selbstdefinitionsmöglichkeiten oder Identitäten erlebt werden. Bausteine hierfür bietet der systemisch-konstruktivistische Ansatz den Pädagogen in staatlichen, schulischen Umfeldern insb. in den fünf im vorherigen Kapitel genannten Bereichen an: differenziertere Systemkenntnis, bewusstere Beziehungsgestaltung, erweiterte Kommunikationsfähigkeit, verbesserter Ressourcenzugang, klarere Wahrung eigener Grenzen. Wie die Selbstdefinitionsmöglichkeiten im einzelnen ausfallen, muss jeweils den Teilnehmern überlassen bleiben, die als Experten für ihr eigenes Leben selber entscheiden, wie viel und was sie in welcher Form erproben und ggf. ‚übernehmen’ bzw. sich in für sie adäquater Art aneignen wollen.

In der Literatur finden sich in dem Zusammenhang ‚neuartiger’ Lehreridentitäten zahlreiche Etiketten. Struck (2004, 178ff) umschreibt die gegenwärtige Entwicklung hin zur Betonung von Beziehungs und beratenden Aspekte als Bewegung „vom Fachlehrer zum Klassenlehrer“. Geht man davon aus, dass sich für eine solche Fortbildung eher Lehrer und Sozialpädagogen anmelden, die entweder ein hohes Engagement mitbringen oder sich durch Schule belastet fühlen und nach Entlastung suchen, dann könnte der Bereich der Selbstdefinitionsmöglichkeiten, die der systemisch-konstruktivistische Ansatz anzubieten hat, auch in Richtung „gelassener Lernberater“ (Struck 2004, 167, Hvg. R.M.) umschrieben werden oder als ‚reflexiver, differenzierter517, beratender, ressourcenorientierter Bildungsbegleiter’. Eine solche Entwicklung – v.a. in der letzten Bezeichnung, die mit dem Begriff der Differenzierung sogar die Idee eines lebenslangen Reifungs- und Professionalisierungsprozesses für Lehrende mit einbringt - braucht Zeit und kann in einer Fortbildungsreihe letztlich wohl nur angestoßen werden.

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Nachdem der Begriff der systemischen Pädagogik geklärt, zu stärkende Ressourcen- und Kompetenzfelder benannt und eine grobe Richtung veränderter Selbstdefinitionsmöglichkeiten für systemische Pädagogen aufgezeigt worden sind, muss nunmehr untersucht werden, welche detaillierteren Anforderungen an das Curriculum zu stellen sind.


Fußnoten und Endnoten

512  Auch in Wikipedia fehlt noch eine entsprechende Definition, während es durchaus Einträge zu systemischer Therapie und zu systemischer Sozialarbeit gibt (Stand 30.08.2007).

513  Ich halte es für sinnvoll, zunächst in dieser Arbeit die entsprechenden Ideen entwickelt zu haben, um erst an dieser Stelle zu einer umfangreicheren Würdigung der Definition zu gelangen, die diesen bisherigen Ausführungen und Überlegungen angemessen Rechnung tragen kann, ohne zu umfangreich zu werden.

514  Möglich wäre, den Begriff ‚Mensch’ in der Definition zu ersetzen, z.B. durch den Begriff der ‚strukturellen Kopplung psychischer, biologischer und sozialer Systeme’. Im Luhamnn’schen Ansatz würde in der Definition statt ‚Mensch’ wahrscheinlich nur ‚psychisches System’ stehen, da letztlich dieses sich in pädagogischen Prozessen verändern soll und seine Veränderung sich, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, auch in einer dauerhaft veränderten Beziehungsgestaltung wiederspiegelt.

515  vgl. Kap. 9.6.3.

516  Vgl. zu diesen beiden Punkten auch: Schweitzer/ Schlippe 2006, 32.

517  im Sinne der Differenzierung nach Schnarch (Kap.9.6.3)



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09.06.2008