6 Ansichten auf Schule

▼ 126 (fortgesetzt)

Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, verändern sich mit dem postulierten Wandel von einer modernen zu einer postmodernen Gesellschaft auch kollektive Bilder von und Erzählungen über Kindheit, Schule, Pädagogik und Erziehung. Zugleich kann auch in der Art und Weise, wie Strukturen und Prozesse von Schule momentan staatlicherseits organisiert werden, ein Rahmen gesehen werden, durch den bestimmte Lernarten, -prozesse und –inhalte vorgegeben oder zumindest bevorzugt werden und durch den sie operationale Bedeutung erlangen.142 Diese beiden Deutungsrahmen (gesellschaftliche Erzählungen über, institutionelle Rahmenbedingungen von Schule) werden aus Sicht verschiedener Personen bzw. Gruppen unterschiedlich wahrgenommen. Das gilt auch bei Verwendung eines idealtypischen Modells, wie es in diesem Kapitel verwendet werden soll.

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Dieses Kapitel ist entsprechend der drei oben genannten Bereiche gegliedert. Zunächst (Kap.6.1) werden verschiedene Vorstellungen über Kindheit, Jugend und Erziehung aus den letzten Jahrzehnten aus der Geschichte der BRD idealtypisch kurz zusammengefasst. Das Schulgeschehen prägende, institutionelle Rahmenbedingungen von Schule heute werden in Kap.6.2 dargestellt und auf ihre reichhaltigen Paradoxien hin untersucht. Abschließend wird der heutige Schulbesuch idealtypisch aus Sicht von drei Personengruppen (Schülern, Eltern, Lehrer) auf Verhaltenswahrscheinlichkeiten hin beschrieben (Kap.6.3). Insofern als alle in den drei Kapiteln vertretenen Sichtweisen heutigen Pädagogen in Schule begegnen können und zumindest in Teilen erheblich das schulische Geschehen prägen, sollten sie systemisch-konstruktivistischen Pädagogen in Beschreibung und innerer Logik bekannt und vertraut sein.

6.1 Erziehungsvorstellungen der letzten Jahrzehnte

Die Bedeutsamkeit von Kontexten für eigenes Handeln ist eine zentrale systemisch-konstruktivistische Auffassung. Insb. unter sozial-konstruktionistischen Aspekten (vgl. Kap.4.5 und 7.4) stellen Vorstellungen über Kindheit, Jugend, Erziehung und auch Schule kulturell geprägte Narrationen im Wandel dar (Rotthaus 1999a, 34). Sie sind sich ändernde unbewusste „Alltagstheorien“ (Palmowski 2003, 20), die Wahrnehmung und Handeln beeinflussen. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Sichtweisen auf die genannten Bereiche Kindheit, Jugend und Erziehung, wie sie für Eltern und Pädagogen in den letzten jahrzehnten relevant waren bzw. sind, in idealtypischer Weise grob skizziert. Dabei werden vier Phasen modellhaft unterschieden: die Zeit vor den Veränderungen um 1968, die ‚humanistische Wende’ danach, die Veränderungen parallel zur zunehmenden Globalisierung ab Mitte der achtziger Jahre und schließlich die gegenwärtige Situation.143 Eine Pädagogik, die auf der Höhe ihrer Zeit sein will, muss diese Narrationen kennen und die aktuelle Situation berücksichtigen können.144

Vor diesen vier Phasen wird Kindheit als ein vom Erwachsenenalter abgegrenzter Lebensabschnitt und Schonraum historisch vom Bürgertum konstruiert und setzt sich erst ab Ende des 19. Jahrhunderts allmählich in Deutschland durch (und ist weltweit bis heute die Ausnahme). Kindheit wurde damit zugleich zu einem Defizitstatus des Noch-nicht-Erwachsen-Seins und mithin zur Aufgabe, erwachsen zu werden, was impliziert, dass Kinder nicht die volle Verantwortung für ihr Tun übernehmen können und müssen (Rotthaus 1999a, 28,33f). Schule wurde Ende des 19. Jahrhunderts staatlich organisiert und professionalisiert. Damit ergaben sich spezielle Charakteristika von Schule, die bis heute fortwirken und in Kap. 8.2 näher erläutert werden. Die heute noch immer gängige Form der „Schule ist eine Erfindung der Moderne“ (Huschke-Rhein 1997, 35).

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Bei der Darstellung der pädagogischen Erzählungen des letzten halben Jahrhunderts wird erkennbar, dass einige heute im systemisch-konstruktivistischen Ansatz gängige Thesen, wenn vielleicht auch in abgewandelter Form, ihre Vorläufer haben. In der wissenschaftlichen Literatur vorfindbare, teilweise vielleicht etwas zuspitzte Formulierungen ermöglichen es, modellhafte Unterschiede in den Erziehungsvorstellungen der letzten Jahrzehnte im Folgenden zu verdeutlichen.

6.1.1 Die 50/60er Jahre

„Aufstellen! Wenn die Linie gerade ist, ist auch der Verstand gerade!“ (Kreter 2005, 22).

Ein einengendes, autoritäres, teilweise entwertendes Vorgehen kontrollierter, direkter Wissensvermittlung und folgerichtigen Lernens mit repressiver Prägung, teilweise auch Strafen, Erniedrigungen und öffentliche Beschämungen, gehörte in diesem Denkmodell zu Erziehung und Schule. Ein solches Vorgehen wurde als nützlich betrachtet, um junge Menschen zu formen (Rotthaus 1999a, 11.; Kreter 2005, 23; Schlippe 2006, 14), wirkte aber u.U. als Herabsetzung der Person in einem Lebensalter, in dem es (Kindern) schwer fällt, einzuschätzen, welches Unrecht ihnen angetan wird (Singer 2007, 84). Autorität i.S. autoritären Verhaltens, Bevormundung und Zwang waren Selbstzweck (Bergmann 2001, 214), getragen von grundlegender Befürwortung von Abhängigkeit und Disziplin als förderliche Größen für die pädagogische Beziehung (Reich 1998c, 21). Kindliche Bedürfnisse nach Selbstständigkeit und Autonomie wurden als Feindseligkeit interpretiert (Bastian 2001, 63), auf korrekte Weise geäußerte Widersprüche wurden bestraft (Bauer 2007, 86).145

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Diese traditionelle Form der Systemsteuerung baute auf rigider patriarchalischer Autorität und Macht pädagogischer Institutionen auf. Die Beziehungsgestaltung war grundsätzlich asymmetrisch: „Erzieher - Zögling, Wissender - Unwissender, Erwachsener - Kind, Lehrender - Lernender, Führer - Geführter“ (Huschke-Rhein, 1998, 34,29), die Unterordnung unter Autoritäten schon bereits in der Familie trainiert (Retzer/Simon 1998, 3). Die Jugendlichen hatten nur die Wahl zwischen der Dominanz der Erwachsenen oder der auf sich allein gestellten Suche nach einem Weg in der Welt (Rotthaus 2004, 11). Eltern und Lehrer hatten aufgrund ihrer Position grundsätzlich Recht (Bastian 2001, 26).

6.1.2 Veränderungen in den 60/70er Jahren

„Lehrer reden ja nur, die machen ja nichts.“ (Kreter 2005, 50)

Mit dem kulturellen Wandel in Westdeutschland ab Mitte der sechziger Jahre wurden Ideen über Kindererziehung wesentlich von alltagstheoretischen146 Versionen der Psychoanalyse und der humanistischen Psychologie beeinflusst, der gemäß Kinder seelisch verletzbare Wesen sind, die für ihre Entwicklung möglichst gute Rahmenbedingungen benötigen. Kinder galten dabei als „so zart und verletzlich [...], dass der geringste Fehler in der Erziehung unauslöschliche Narben hinterlasse, denn psychische Störungen seien durch mangelnde Liebe und fehlendes Verständnis der Eltern verursacht“ (Omer/Schlippe 2002, 21). Da (insb. auffälliges) Kinderverhalten nunmehr als (fast mono)kausal abhängig von der Erziehung durch die Eltern und Pädagogen gesehen wurde, bekamen diese als Verantwortliche für die Gestaltung der erzieherischen Rahmenbedingungen sehr hohen oder sogar den alleinigen Einfluss und damit auch sehr viel Verantwortung zugerechnet (Eichhorn 2003, 55). So entstand ein hoher Rechtfertigungsdruck gegenüber der Öffentlichkeit, den Kindern und nicht zuletzt sich selber (Omer/Schlippe 2002, 22) und in Folge zumindest teilweise ein Überforderungsgefühl. Dies ist aus systemisch-autopoietischer Sicht nicht verwunderlich, da es unmöglich ist, die unbegrenzt wirkende Anzahl von komplexen Rahmenbedingungen von Erziehung und Bildung zu kontrollieren und gezielt zu beeinflussen (Omer/Schlippe 2002, 25).

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Aus diesem Überforderungsgefühl konnte (auch heute noch) eine „Angst vor dem Kind“ (Bastian/ Bastian 1996) entstehen, genauer: davor, ihm durch schlechte oder ungenügend perfekte Erziehung dauerhaft zu schaden und sich so schuldig zu machen. Diese Angst kann u.U. zu einem - meist verschwiegenen, schambesetzten - Gefühl großer Ohnmacht und Verzweiflung führen (Bastian 2001, 99,101). Während Schuld ein schmerzliches Gefühl der Reue ist, das sich auf das eigene Handeln bezieht und Wiedergutmachung als Ausweg offen lässt, ist Scham „ein inneres Gefühl der völligen Herabwürdigung und Unzulänglichkeit als Person. [...] Die Möglichkeit [...der Wiedergutmachung] scheint dem schamerfüllten Menschen verschlossen, weil Scham eine Frage der Identität ist und keine Verletzung von Verhaltensregeln“ (Fossum/ Mason 1992, 25f; vgl.a. Kopp 1976, 3f). Daraus kann eine „beklemmende Konfliktscheu“ auf Seite der Erziehenden entstehen (Bastian 2001, 104).

Die Idee des großen elterlichen Einflusses als ‚einfache Kausalverknüpfung’ wurde verbunden mit der Idee der Kinder als ‚voll-wertige’ Wesen bzw. als quasi gleichberechtigte Partner für Erwachsene. Dies führte zu der Überzeugung, „eine duldsame Umgebung für das Wachsen des Kindes sei das Beste, die Eltern sollten sich möglichst zurückhalten, um die Entwicklung ihres Kindes nicht zu beeinträchtigen“ (Omer/Schlippe 2002, 22). Zugleich nahm eine „Art Demokratisierungszwang“ den Eltern den „Mut zum berechtigten ‚Nein’“, so Zangerle (1998, 42). Die Vorstellung, „dass die ideale Erziehung unter den Bedingungen totaler Akzeptanz und Freiheit erzielt würde [...] in einem Umfeld ohne Forderungen oder Eingrenzungen“ oder Bedrängen führte dazu, eigene elterliche oder pädagogische Bedürfnisse aus Rücksicht auf und Schonung für das Kind zu verstecken. In dieser Sicht sollen Kinder „selber herausfinden, was für sie richtig ist, ohne dass die Eltern Grenzen setzen“ (Bastian 2001, 12, Hvg.i.Org.). Omer/ Schlippe (2004, 167) bezeichnen dies als die „permissive Ideologie“ dieser Epoche, die bis heute sich auswirke. Möglichst (grenz)freies Aufwachsen sollte ermöglicht werden, „als sei das Behaupten eigener Überzeugungen so etwas wie Aufdringlichkeit und das Anmelden eigener Bedürfnisse ein Ausdruck von Egoismus“ (Omer/Schlippe 2002, 159). Grenzsetzung und Strafe galten per se als unpädagogisch und schlecht.

Die postulierte Gleichwertigkeit der Kinder implizierte auch soziale Reversibilität und deren Mitbeteiligung. Soziale Reversibilität verlangte von Eltern und Lehrern, so freundlich und gleichwertig mit den Kindern zu reden („Würdest du bitte...“), wie sie prinzipiell auch untereinander bzw. diese mit ihnen reden (könnten). Mitbeteiligung manifestierte sich in der Schule z.B. in der Forderung nach politischer Mitbestimmung und Beteiligung an Unterrichtsplanung und gestaltung. Das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern einerseits und Schülern andererseits wurde als partnerschaftlich (Kreter 2005, 24) oder gar als Freundschaft (Bastian 2001, 172) normiert, so dass Harmoniehoffnung entstand. Lehrer, bereit auf die Durchsetzung der eigenen Meinung zu verzichten, erwarteten von Kindern eigene Meinungen und eigenständige Entscheidungen. Einfluss auf Verhalten zu nehmen, sei es über Rituale oder über die Durchsetzung eines Modus, den man selbst für richtig erachtete, galt als Beeinflussung und Manipulation (Kreter 2005, 26,137).

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Zugrunde lag in der radikalen Fassung dieses Denkens, der Antipädagogik, die Überzeugung, dass „alle Menschen von Geburt an sinnvoll über sich und ihr Schicksal bestimmen können und Kinder mithin nicht beherrscht und erzogen werden müssen“. Erziehung war dann „Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen, souveränen Menschen“, ein Verstoß gegen das Gebot der Wahrung strikter Gleichberechtigung (Rotthaus 1999a, 20). Die Verantwortung für das Tun der Kinder wird in einer solchen Erziehungsphilosophie in einer Vertrauenshaltung diesen selbst übertragen, sie werden dann wie kleine Erwachsene behandelt. Auf der anderen Seite werden sie aber auch, da Kindheit Schonrau für freies Experimentieren ist, „als engelsgleiche Majestäten betrachtet, die sozialen Forderungen und Regeln [...] sehr weitgehend enthoben sind und sich als das Zentrum der Welt fühlen dürfen“. Für die Kinder entsteht damit eine verwirrende „höchst doppelbödige Beziehungskiste“ (Bastian 2001, 20).

Man kann allerdings für die 70er Jahre auch gemäßigtere, teilweise auch ‚offizielle’ Versionen von Bildung bzw. Lehrplan heranziehen, denen gemäß Lehrer ihre Schüler gezielt zu sozialem und mündigem Verhalten erziehen, ihnen relevante Werte und Wissen vermitteln, sich um Bedürfnisse und Wohl der Schüler kümmern (Siebert 2005b, 42). Aber auch dann ergeben sich Versionen von Pädagogik, denen, strukturell beschrieben, Vorstellungen zugrunde liegen, die im systemisch-konstruktivistischen Diskurs mittlerweile in Frage gestellt werden: die Möglichkeit nämlich, gezielt Inhalte und Werte zu ‚übertragen’, gezielt zu Mündigkeit zu erziehen – was Schüler tendenziell zu passiven Adressaten von pädagogischen Lehrbemühungen macht.

Am Ende dieser historischen Phase (und in der nächsten, ja bis heute) erfahren Lehrer zunehmend, dass Freundlichkeit, Duldsamkeit, Partnerschaftlichkeit und Toleranz die Schüler nicht in der Form erreichen, wie die begleitenden Eltern oder Pädagogen sich das wünschen. Vielmehr überschreiten Kinder Grenzen und erweitern ihr Territorium in der Suche nach orientierenden Grenzen bzw. Grenz-Erfahrungen. Kinder in permissiven Familien gelten nachweislich als in ihrer Entwicklung gefährdet (Omer/Schlippe 2002, 22). Die Dominanzposition, die es eigentlich durch eine humanistische Pädagogik zu verhindern galt, geht dann u.U. von den Eltern auf die Kinder über, wobei die Eltern ihre Präsenz verlieren. Von der Idee sozialer Reversibilität bleibt dann wenig übrig (Omer/Schlippe 2004, 21f).

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Konfrontierende schulische Gespräche mit Eltern, die im Stil der partnerschaftlichen Nichteinmischung erziehen, müssen sich schwierig gestalten, da dieses Denken uneingeschränkte Solidarität nicht nur mit dem eigenen Kind sondern auch mit dessem Tun erfordert. Denn sein Tun spiegelt wider, was das Kind gerade ist, wobei das, was das Kind gerade ist, gut ist, weil es stets Ausdruck seiner authentischen und kongruenten Entwicklung ist.

Probleme der Beziehungsgestaltung durch Pädagogen oder Eltern zeigen sich dann u.a. in (a. Kreter 2005,100, Omer/Schlippe 2002,2004) in Doppelbotschaften und Überkompensation elterlicher Gewissensbisse durch Nachgeben, Wegschauen, Übersehen und Geschenke dort, wo es nicht angebracht ist. Auch kann es zu einem Kippen ins Gegenteil kommen und damit zu einer Konflikteskalation, bei der der Konflikt mit dem Kind als Nullsummenspiel gesehen wird, das sich um die Durchsetzung von Macht dreht. Dieses Handeln ist begleitet von Selbstvorwürfen, „nicht tolerant, motivierend und verständnisvoll genug gewesen zu sein“ (Kreter 2005, 116), die den eigenen Handlungsfreiraum in der Beziehungsgestaltung entscheidend einengen.

6.1.3 Veränderungen in den 80/90er Jahren

„Ich habe meinem Sohn erklärt: Bevor du angegriffen wirst, teilst du selber aus!“ „Wollen Sie mit mir Sex haben, Frau Kreter? Ich kann Ihnen alles zeigen“ (Schüler, 13 Jahre). „Das Wochenende wird schön [...], mein Vater hat gesagt, ich darf fünf Videos ausleihen.“ „Sie haben mir gar nichts zu sagen! Mein Vater/ Meine Mutter wird es Ihnen schon zeigen!“ (Kreter 2005, 30,28,34)

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Ab Mitte der 80er Jahre 147 führen Werte wie Individualität, Autonomie und Durchse t zungsvermögen dazu, dass sich Heranwachsende zunehmend zu Selbststärke ausstrahlenden und „fordernden Interaktionspartnern entwickeln, die sich nicht mehr so einfach und widerspruch s frei leiten und lenken lassen wie in früheren Zeiten“ (Bünder 2006, 205). Sie wollen gesehen, aber immer weniger kontrolliert und reglementiert werden (Eisentraut/Weber 2006, 243). Durchsetzungsvermögen wird zur Definition elterlicher und kindlicher Stärke. Neben dem wachsenden Leistungs- gibt es auch einen steigenden Zeitdruck, der erhebliche Synchronisationsleistungen auf Seiten der Familie und auch der Kinder verlangt. Hinzutreten wachsende finanzielle Belastungen (v.a. bei Alleinerziehenden) und verschärfte gesellschaftliche Forderungen, ‚gute Eltern’ sein zu müssen (Bastian 2001, 56). Kinder und Jugendliche werden dann unter Leistungsaspekten stark gefordert, aber unter Gesichtspunkten der Erfahrung begleitender elterlicher Präsenz vernachlässigt. Eine Kompensation findet ggf. über materielle Verwöhnung und Konsum statt (Bastian 2001, 63).

Der direkte kommunikative Austausch mit peers und auch mit möglichen Leitbildern ging zurück. Zugleich diversifizierte und relativierte die zunehmende Pluralisierung Orientierungen auch für die Eltern, so dass es zu Erziehungsunsicherheit und –resignation (Rotthaus 1999a, 11) kommt. Die orientierende und verlässliche Beziehung stiftende Bedeutung, die Regeln und Grenzen für Kinder haben können, weichte weiterhin – soz. in Fortsetzung der 70er Jahre – auf.148 Uneinigkeiten zwischen den Eltern bzw. Lehrern über Erziehungsfragen und richtige pädagogische Handlungsweisen sind erwartbar geworden (Kreter 2005, 105). Und zwar um so mehr, je schlechtere ‚Noten’ das deutsche Schulsystem erhält bei (inter)nationalen Untersuchungen, die überprüfen sollen, inwieweit Schule Zukunftschancen für eine konkurrenzbetonte Welt eröffnet. Das Leben in der Gegenwart, ‚Fun’, wird wichtig, da Vergangenheit vielfältig interpretierbar und die Zukunft unsicher ist (Bauman 1994, 1996). Der Medienkonsum als „Unterhaltung aus zweiter Hand“ (Kreter 2005, 27) stieg und gab den Kindern und Jugendlichen zugleich Zugang zu einem Wissen, das früher Erwachsene strategisch vor ihnen verborgen hielten und zu verborgen halten hatten.

Zugleich hat sich durch verschärfte wirtschaftliche Wettbewerbsbedingungen und erhöhte (Jugend-)Arbeitslosigkeit der Druck auf die nachwachsende Generation – und auf ihre Eltern als Begleiter, die ihren Kindern gute Startmöglichkeiten mitgeben möchten – zum Teil drastisch erhöht. Parallel hat sich ein „Managementmythos“ entwickelt, der „die Anbetung der Zweckrationalität auf der Grundlage einer Priorität des Wettbewerbsgedankens“ beinhalte, so Reiser (2000, 115).149

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Die Situation Ende der 90er beschreibt Kreter zugespitzt folgendermaßen: „Kinder aus den 90er Jahren sind laut, unbeherrscht, frei von Tabus, verhalten sich grenzen- und schrankenlos, verlangen die Erfüllung ihrer Wünsche sofort und ohne Aufschub, stellen ungebremst materielle Ansprüche, verweigern Reflexion und Empathie, wenn sie etwas angestellt haben, und zeigen deutlich nur geringe Sozialkompetenzen der Art, auf die die Schule bis in die 70er Jahre hinein als Gratislieferung aus den Elternhäusern setzen konnte. Es fehlt ihnen an Rücksichtnahme im weitesten Sinne: den Älteren Vortritt lassen; Schweigen, wenn andere reden; Schwachen beistehen; Verantwortung für Ordnung und Sauberkeit übernehmen; Regeln akzeptieren; bei Fehlverhalten für die Konsequenzen eintreten. Über Werte und Normen, darüber, ‚was man tut’, gibt es zwischen Schule und Elternhaus [...] keinen Konsens mehr“ (Kreter 2005, 33). Das bedeute nicht, dass solche „machterfahrenen, kampferprobten und energiegeladenen“ (Kreter 2005, 116) Kinder heute böswilliger wären als früher, sondern diese veränderte Verhaltensweisen können als Ausdruck gewandelter Sozialisation interpretiert werden. Sozialisationsagenten (zu denen auch die Lehrer gehören) handeln in veränderten Kontexten anders (Kreter 2005, 39,49).

Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, lassen sich die aus einer lehrerzentrierten Innenperspektive beschriebenen Schwächen (ichbezogen, distanziert, notenfixiert, unruhig, affektgesteuert, ablenkbar) ressourcenorientiert, sozusagen aus einer anderen Außenperspektive heraus, durchaus auch als große Stärken interpretieren (Kreter 2005, 42).150 Diese Kinder haben gelernt,

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Insofern können Erziehungsideale der siebziger Jahre als erreicht, wenngleich vielleicht wenig ausbalanciert, gesehen werden.

6.1.4 Kindheit und Jugend zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Wie lässt sich nun die Sichtweise auf Kindheit, Jugend und Erziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland beschreiben? Die Beschreibung solcher modellhaft zugespitzten Vorstellungen und Erzählungen, wie in den letzten Unterkapiteln erfolgt, setzt i.d.R. einigen Zeitabstand voraus. Daher will ich mich an dieser Stelle darauf beschränken, die gegenwärtige Situation von Erziehenden und Zu-Erziehenden aus einer Außenperspektive zu beschreiben. Damit ist nicht gesagt, dass diese Ausführungen zugleich die modellhafte Sichtweise der Gegenwart darstellen. Weiter oben (Kap.5.2) wurde ausgeführt, dass die Postmoderne veränderte Anforderungen an Kindheit und Jugend mit sich bringt. Wenngleich man die gegenwärtige Zeit modelltypisch als Übergangsstufe (Stufe 4½ nach Kegan) betrachten kann, so ergeben sich doch bereits erhebliche Veränderungen im Anforderungsprofil an heutige Kinder und Jugendliche (Balgo et al 2007).

Sie werden bspw. relativ früh mit ehemals erwachsenentypischen Themen und Problemen konfrontiert – sei es über die Medien, sei es über anders strukturierte oder auseinandergebrochene Familien. So kommt es zu einer biographisch früheren Verantwortungsübernahme als vor vielleicht 20-30 Jahren. Schon vor dem Alter von zehn Jahren, so Rotthaus (1999a, 40), sollten Kinder zunehmend befähigt werden, in Rechten und Pflichten gleichermaßen Eigenverantwortung zu übernehmen. Das hängt u.a. mit veränderten Familienstrukturen zusammen. Es gibt eine steigende Anzahl von Alleinerziehenden und von Patchworkfamilien (Beck u.a. 1990, Ebbecke-Nohlen 2007) und generell eine „zunehmende Beziehungs- und Bindungslosigkeit, in der Kinder und Jugendliche heute heranwachsen“ (Bauer 2007c, 33). Gleichzeitig sinkt die Aufmerksamkeit, die Kinder bekommen151, und der Druck (angesichts einer unklarer insb. wirtschaftlichen Zukunft) steigt – auch schon in den ersten Schuljahren (Taffertshofer 2006). Angesichts der Veränderungen in der Medienlandschaft gilt, dass das Ausmaß und die Art der Informationen, die Kinder erreichen, in einer mediatisierten Welt nicht mehr von den Erwachsenen bestimmt, dosiert und kontrolliert werden können, um gezielt Experimentierräume für kindliches Probehandeln zu eröffnen (Rotthaus 1999a, 36f): der Spielmodus nimmt faktisch gegenüber dem Ernstmodus ab152. All dies findet statt, während die Anzahl angebotener, sich pluralisierender Sinnstiftungen steigt. Damit nehmen Entscheidungsmöglichkeiten zu, Entscheidungen selbst sind aber schwieriger (und teilweise früher) zu treffen, zumal möglichst viele Optionen offen gehalten werden müssen, gerade als Jugendlicher.

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Gleichzeitig ist Lernen lebenslang geworden, und zwar auch akkomodatives Lernen in Krisensituationen. Individualisierung und ständiger Wandel verlangen nach je situationsangemessener Flexibilität, Funktionsvielfalt und Eigenverantwortung. Individualisierung bedeutet - vor allem in der Übergangsphase 4½ und häufig auch auf gesellschaftlicher Ebene - fehlende einbettende Kulturen, die bei der Krisenbearbeitung helfen, während aber Scheitern nicht etwa (mangelnden) Kontexten sondern den Individuen selbst zugeschrieben wird (Beck 1993, 1986). Selbstmanagement wird wichtiger, prozesshafter, schwieriger und individualisierter. Während Ausbildungszeiten sich verlängern, sind unter den Erwachsenen Tendenzen zum Ewig-jung-Bleiben und zur Infantilisierung zu verzeichnen. Es verschwindet so nicht nur die Kindheit (Postman 1983) sondern auch die ‚Erwachsenheit’, die Trennung zwischen beiden wird dadurch weniger scharf. Kindheit verkürzt sich, Jugendzeit verlängert sich (Rotthaus 1999a, 35,40,54), kann aber die gestiegene Verantwortung des einzelnen nur scheinbar aufheben.

Grenzen sind aufgrund gesellschaftlicher Pluralisierung - unvermeidbar und Chancen eröffnend - unsicherer geworden: Kinder und Jugendliche müssen um so stärker Grenzen austesten, je schwieriger es für die Erwachsenen geworden ist, klare und eindeutige Erziehungsbotschaften an Kinder auszusenden, sowohl auf verbaler wie auf Verhaltensebene. Heutige Kinder zeigen in ihrem Grenzüberschreiten - immer wieder auch provozierend – ihr Verlangen nach dem Erfahren von Grenzen und begrenzender Orientierung. Daher erfahren Pädagogen und Eltern für Wegsehen - aus ihrer Sicht ggf. eine Großzügigkeit - häufig keine Wertschätzung der Betroffenen, da gesellschaftliche Veränderungen zunehmend mehr und frühere Verantwortungsübernahme von den jungen Bürgern verlangen. Mutiges Grenzwandern ist eine Schlüsselqualifikation für postmoderne Gesellschaften und ihr permanentes ‚change management’ geworden (Doppler/ Lautenburg 2000). Das beinhaltet auch einen veränderten Umgang mit Fehlern bzw. dem Machen von Fehlern.

Die Erwachsenenwelt ist durch Erziehungsunsicherheit gekennzeichnet (Rotthaus 1999a, 38), da als Eltern und Pädagogen keine starren Funktionen bzw. Rollen mehr festgeschrieben sind. Eltern haben damit ihren Platz als selbstverständliches Zentrum und Mittelpunkt der Familie verloren und zugleich ein breites Feld an Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung mit ihren Kindern gewonnen. Gerade für Patchworkfamilien „liegt die Lösung in der Unterschiedlichkeit“ (Ebbecke-Nohlen 2007).

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Die in den letzten Jahren konstatierbare „Psychologisierung, Pädagogisierung und Therapeutisierung der Elternrolle“ (Schlippe 2006,12) hebt aber diese Unsicherheit oft nicht auf, welche sich auf Kinder z.B. als Doppelbotschaft auswirkt, weil „viele Eltern und ErzieherInnen sehr unvermittelt schwanken zwischen einerseits relativ großzügigem Gewähren von Freiheiten und Vergünstigungen und andererseits plötzlichen Anforderungen an die Selbstverantwortung und Entscheidungsfähigkeit des Kindes. [...] Alte Ideen von glücklicher, unbeschwerter Kindheit hindern daran, rechtzeitig genug Eigenständigkeit zu fördern und die angemessene Erledigung von selbständig zu leistenden Aufgaben zu fordern“ (Rotthaus 1999a, 39). Kommen die Kinder in solchen Situationen – von außen betrachtet: verständlicherweise – nicht nach, kann das zu Resignation auf Seiten der Erwachsenen führen. Anders als noch in der Moderne, als große Erzählungen (Lyotard) Sinn gaben, und anders auch als bis Mitte der achtziger Jahre, als noch ein Bündnis zwischen Gesellschaft, Eltern, Schule und Jugendlichen bestand (Bauer 2007c, 15), kommt es in pluralen postmodernen Zeiten nur noch „dort, wo sich Beziehungspersonen für das einzelne Kind persönlich interessieren, [...] in diesem zu einem Gefühl, dass ihm eine Bedeutung zukommt, dasss das Leben einen Sinn hat und dass es sich deshalb lohnt, sich für Ziele anzustrengen“ (Bauer 2007c, 20).

Die Unsicherheit über Funktionen oder Rollen im Erziehungsprozess betrifft auch die Kinder und Jugendlichen. Selbstverständlichkeit, also allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit von Traditionen oder Verhalten, geht mit wachsendem Alter schneller verloren als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Wird es schwieriger, Ziele erreichen zu können, wird Zukunft unsicher und fallen gleichzeitig Traditionen weg, dann wird die Gegenwart zur wichtigsten Zeit, ohne dass verlässlich bleibende Räume zur Verfügung stehen. Angesichts der unbekannten Qualität der Zukunft „sind das Finden von neuen Lösungen, Querdenken und Umgehen mit einer rasanten Veränderungsdynamik wichtig geworden“ (Renoldner et al 2007, 76). In einer angehenden postmodernen Gesellschaft werden damit Fähigkeiten der angemessenen Informationsgewinnung, -verarbeitung und –bewertung immer wichtiger: Welche angebotenen (Wissens)Alternative hält eher? Welche Art und Weise, mit Wissen umzugehen, kann vermittelt werden? Neben einem solchen Methodenlernen werden ebenfalls soziale, kommunikative, interaktionelle und kooperative Fähigkeiten bedeutsamer.

In der Postmoderne ist mehr Persönlichkeitsentwicklung nötig als früher, sind mehr Durchgänge durch idealtypische Krisen der Persönlichkeitsentwicklung gefordert als in einer modernen Gesellschaft (Kap.5.2.3). Auch die Notwendigkeit, in einer pluralen Welt Verantwortung für die eigenen Konstrukte zu übernehmen, lässt Selbstreflexion nötiger erscheinen als früher. Gleichzeitig aber gibt es momentan153 eher weniger verlässliche gesellschaftliche Begleitangebote (‚einbettende Kulturen’, Kegan 1991) für individuelle Übergänge bei Entwicklungsstufen als früher. Das führt dazu, dass der Begleitungs- und Beratungsbedarf in pädagogischen Handlungsfeldern steigt (Huschke-Rhein 1998b) – und zwar Beratung im Sinne eines formalen Rahmens zur Selbstreflexion und nicht inhaltlicher Vorgaben des richtigen Lebens. Die Beratungsbedürftigkeit in Schule (die nicht gleich zu setzen ist mit zurzeit tatsächlich geäußertem Bedarf) wächst für alle Beteiligte (Schüler, Eltern, Pädagogen, Schulleiter) - und speziell für die Kindern und Jugendlichen. Hubrig/ Herrmann (2005, 94) sehen den schulischen Erziehungsauftrag mittlerweile nicht nur gesetzlich fundiert, sondern auch darin begründet, dass „immer mehr Eltern einen Teil ihrer Pflichten an die Lehrerinnen delegieren“ .

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Postmoderne Schule muss dann Grund- bzw. Schlüsselqualifikationen vermitteln wie „Teamfähigkeit; Dialogfähigkeit; Fähigkeit eines Denkens in Zusammenhängen; Problemwahrnehmungs- und Problemlösefähigkeit; Fähigkeit zum Loslassen früherer Erfahrungen, Gewohnheiten und Erkenntnissen; Fähigkeit, die Zukunft zu planen und zu gestalten; Fähigkeit, sich auf Neues und Ungewohntes einzustellen und umzulernen“ (Rotthaus 1999b, 48). Schule zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss/ müsste gezielt individuelle Ressourcen fördern und Mittel zur Selbstorientierung und –realisierung an die Hand geben. Es ginge um eine Orientierung an den Interessen, Ressourcen und Entwicklungsprozessen der Schüler als Subjekte. Schule wäre dann anders zu konzipieren - was nicht primärer Gegenstand dieser Dissertation aber sicherlich ebenfalls ein wichtiges Thema ist. Vielfältige Vorschläge, Fächerteilung aufzuheben, Inhalte mit den Betroffenen gemeinsam festzulegen, Didaktik weiter zu verändern, finden sich zahlreich in der (auch nicht-systemischen) Literatur. Hingegen relevant für die hier vorliegende Arbeit und Untersuchung ist die Frage, wie Pädagogen auf diese Herausforderungen bereits im Moment als Individuen reagieren können innerhalb der existierenden Schulstrukturen, u.a. also ohne Schule als Zwangsveranstaltung abzuschaffen. Hier spielen Sichtweisen und innere Konstrukte eine Rolle, die bestimmte pädagogische Beziehungsangebote setzen können.

Die hohen Anforderungen, wie sie für postmoderne Gesellschaften zentral werden, bringen auch eine andere Sicht vom Kind und vom Schüler mit sich: Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Erwachsene (der das momentan noch defizitäre Kind einmal werden soll), sondern vielmehr das Kind selbst in seinem gegenwärtigen prozessualen Sein. Kinder verhalten sich dann einfach nur „schlicht anders“ (und zunächst nicht besser oder schlechter) als Erwachsene. In ihrem Sich-anders-Verhalten verfügen Kinder, so der systemisch-ressourcenvolle Blick, über Fähigkeiten, die Erwachsene nicht in dem Maße haben - und nicht nur umgekehrt (Rotthaus 1999a, 46). Hargens nennt als besondere Fähigkeiten, die Kinder Erwachsenen voraus haben, vor allem, dass Kinder eher im Hier und Jetzt leben, wenig nachtragend sind sowie über eine ‚ernsthafte spielerische Leichtigkeit’ verfügen (Hargens 2006, 80).154

Kinder und Jugendliche sind am Anfang des 21. Jahrhunderts also frühzeitig ernst zu nehmen aber nicht zu überlasten. Sie müssen, ohne bevormundet oder entmündigt zu werden, verlässlich begleitet werden, was das Spiel mit Freiräumen und Grenzen (als wechselseitige Bedingung füreinander) beinhaltet. Grenzwanderungen und Verhandlungen über nicht mehr eindeutige Wirklichkeiten sind unvermeidbar. Beziehungsgestaltung und Erziehung werden schwieriger und verlangen nach ausdifferenzierteren Modellen. Zugleich können erwachsene Erziehende in der gegenwärtigen Unsicherheit auch entlastet werden, weil es verschiedene mögliche Wege der Begleitung von Kindern und Jugendlichen gibt. Diese Dissertation geht davon aus, dass die für den Beginn des 21. Jahrhunderts geschilderten Umstände und ‚Not-wendigkeiten’ von Erziehung und Bildung es nahe legen, davon auszugehen, dass gerade systemisch-konstruktivistische Ideen wichtige Impulse verleihen können. Darüber, ob der systemisch-konstruktivistische Ansatz die gängige Erzählung der Pädagogik zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird, wird die Zeit bzw. ‚Geschichte’ entscheiden.

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Neben den dargestellten epochalen Narrationen über Kindheit, Jugend und Erziehung und neben den situativen Bedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts geben auch die institutionellen Rahmenbedingungen der heutigen Schule einen bedeutungsgebenden Kontext für Wahrnehmen und Handeln der diversen Beteiligten ab, über den sich eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik bewusst sein muss, wenn sie angemessen handeln können will.

6.2 institutionelle Rahmenbedingungen heutiger Schule

Neben gesellschaftlich relevanten Erziehungsvorstellungen prägen auch institutionelle Rahmenbedingungen des Systems Schule mit ihren rechtlichen, politischen und finanziellen Vorgaben, Strukturen, Prozessen, Regeln und Ritualen als Kontextbedingungen bzw. ‚heimlicher Lehrplan’ wesentlich das Verhalten von Schülern, Lehrern und Eltern mit. Unter systemisch-konstruktivistischem Blickwinkel lohnt es sich und ist es notwendig, diesen verhaltensbeeinflussenden Kontext eingehender zu betrachten, zumal er mit mehreren grundsätzlichen Gegensätzen bzw. „zentralen Paradoxien“ (Fried 2005, 191) gespickt ist, wobei letztlich jeder einzelne Lehrer oder Schüler entscheiden muss, wie er dann tatsächlich mit diesem Rahmen umgeht. Ursprünglich wurde dieser Kontext staatlicherseits als ein normatives Gerüst entworfen, das Bereitschaft zur Lernanstrengung auf Schülerseite hervorrufen sollte und dies meist auch tat. Heute hingegen entspricht es noch am ehesten der Denkweise leistungsorientierter Mittelstandfamilien, geht aber an Sichtweisen gerade gesellschaftlich benachteiligter Gruppen vorbei (Palmowski 1997b, 68f).

Obwohl sie postmodernen Anforderungen genügen soll/ müsste, ist die heutige Schule noch immer als moderne ‚Industrieschule’ konzipiert mit folgenden gesellschaftspolitischen Funktionen, die die Schüler sowohl trennen als auch vereinheitlichen (Tschira 2005):

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Um diese Funktionen wahrnehmen zu können, ist Schule durch den Staat bzw. die Politik, die Verantwortung für die Art der Organisiertheit der Schule beanspruchen, organisiert (Tschira 2005)

▼ 141 

Dies etabliert eine „komplementäre, asymmetrische und unumkehrbare Struktur“ des Lehrer-Schüler-Verhältnisses (Fried 2005, 196).

Eine Ansicht auf zentrale Paradoxien von bzw. in Schule ist anhand der systemischen Schultheorie Luhmanns möglich. Dieser unterscheidet im Zusammenhang mit sozialen Systemen156 Funktions-, Organisations-, Interaktions- und Umweltsysteme (Luhmann/ Baecker 2006). Hier lassen sich jeweils Widersprüche aufzeigen (Luhmann 2002; Fried 2005). Die nächsten Unterkapitel behandeln dementsprechend Paradoxien in der Erziehung (Kap.6.2.1), in der Schulorganisation (Kap.6.2.2), im Unterricht (Kap.6.2.3) und im Umgang von Schule mit ihren Umwelten (Kap.6.2.4).

6.2.1 Paradoxien im Funktionssystem Erziehung

Das Funktionssystem von Schule ist Erziehung (Kap. 7.1.2) und bedient sich sowohl der Selektion als auch der Gleichbehandlung. Da diese sich logisch ausschließen, geraten Schule und mit ihr die in ihr tätigen Pädagogen in eine unmögliche Situation. Es ist dies zugleich auch der Widerspruch zwischen Selektions- und Qualifikationsfunktion, zwischen ‚Förderung und Forderung’. Will Schule eher Unterstützung anbieten und Lernangebote offerieren (Qualifikation) oder eher einschätzend auswählen (Selektion)? So wie sein Rahmen derzeit faktisch organisiert ist, ist es das Ziel des jetzigen schulischen Systems, dass sehr viele Schüler (Abschluss-)Prüfungen bestehen - und einige nicht (nur durch letzteres kann die Funktionstüchtigkeit von Selektionen belegt werden). Die derzeitige Schule zielt primär auf Lernergebnisse, nicht auf Prozesse oder Subjekte.

▼ 142 

Schule verlangt aufgrund der Selektion, die sich auf individuell erbrachte Leistungen bezieht, Konkurrenzdenken, verlangt aber aufgrund gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen gleichzeitig zunehmend kooperative Teamarbeit von den Schülern, die sie aber nicht ausreichend belohnt. Die Pädagogik versuche diese Paradoxie dadurch zu lösen, dass sie „die Gleichbehandlung als ihr ureigenstes Anliegen geliebt, die Selektion dagegen als staatlich aufgezwungenes Amt ablehnt“ (Luhmann 2002, 62). Auf diese Weise kann diese Paradoxie von Lehrern ausgeblendet werden, allerdings nur zum Preis eines Reflexionsdefizits, das eine Bearbeitung der Differenzen gerade verhindert (Fried 2005, 194).

Insofern als die Schüler über Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung geführt werden sollen, hat Schule einen weiteren paradoxen Auftrag. Bedenkt man darüber hinaus, dass Schüler als autopoietische Systeme nicht direkt beeinfluss- bzw. steuerbar sind, wird Erziehung, streng konstruktivistisch genommen, sogar zu einer Unmöglichkeit.

6.2.2 Paradoxien in der Organisation von Schule

Damit das System Schule „eine gewisse Stabilität gesellschaftlicher Normen und eine gewisse Objektivität der Wissensbestände“ garantieren kann, muss sie Kontrolle ausüben und mit Macht ausgestattet sein (Huschke-Rhein 1998b, 123). So versucht das Organisationssystem von Schule, den Erfolg von Erziehungsprogrammen (wie z.B. Lehrplänen) zu kontrollieren (z.B. über Zensuren und Prüfungen).

▼ 143 

Geht man von einem konstruktivistischen Lernbegriff (Kap.4.4.5) aus, ist eine solche Kontrolle aber nicht verlässlich möglich, Kontrollversuche können lediglich Scheinsicherheiten schaffen. Ob ein Erziehungserfolg ‚tatsächlich’ gelang, kann nicht definitiv festgestellt werden, da man nicht ‚in den Kopf des Schülers schauen kann’. Es kann daher auch nicht definitiv erkannt werden, ob ein eingetretener Erziehungserfolg ‚tatsächlich’ auf die Maßnahme zurückgeht, der er zugeschrieben wird. Der Kontrollbedarf von letztlich Nicht-Kontrollierbarem führt dazu, dass immer kleinere organisatorische Einheiten (Schularten, Schulklassen, Schulfächer, Ausbildungsabschnitte, Vergleichsarbeiten) durch ein komplexes Regelwerk koordiniert und abgesichert werden sollen (Luhmann/ Schnorr 1988, 259f). Eine derartige ‚Verregelung’ des Bildungssystems birgt aber die Gefahr in sich, dass „Erziehungsmaßnahmen durch das bestehende Regelwerk eingeschränkt bzw. verfälscht werden. […] Dies gilt umso mehr, als dieses Regelwerk ob seiner Komplexität nicht mehr im Bildungssystem gehandhabt werden kann, sondern von einem darauf spezialisierten Organisationssystem (Schulaufsicht) verwaltet wird“ (Fried 2005, 196). Beobachtungen und Entscheidungen orientieren sich dann weniger an pädagogischen als an verwaltungstechnischen Prämissen und Erfordernissen.

Die Pädagogik steht damit im formalen Machtgefüge nicht im Mittelpunkt. Das gilt auch für die Schüler, die zwangsweise zur Schule gehen müssen, ggf. von der Polizei zugeführt werden. Schule ist in diesem Sinne grundsätzlich eine Zwangsveranstaltung (Kap.9.12), die durch Druck notfalls unfreiwilliges Lernen erreichen können muss157. Eine authentische Kommunikation von Lehrer-Seite ist innerhalb dieses Rahmens weder gefragt noch nötig. Strukturelle Charakteristika von Schule sichern die formale Macht der Lehrer gegenüber den Schülern: z.B. die Ungleichverteilung der Personenzahl, der Kommunikationschancen und zeiten, die Regulierung der Interaktion bezüglich Zeitpunkt, Treffpunkt und Pünktlichkeit, zeitunabhängige Themenkontinuität sowie die (bisherige) Umweltabschottung von Schule (Fried 2005, 197).

Die Idee richtigen Verhaltens, auf die das Gemeinschaftsleben in der Schule nicht verzichten kann, produziert notwendig abweichendes Verhalten, um die Norm betonen zu können. Regelverstöße von Schülerseite sind unter diesem Aspekt nicht notwendig Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Sanktioniert wird ein vom System selbst hervorgebrachtes Produkt, wobei die Sanktionierung der Selbstbestätigung dient, wie dies für rekursive konservative Systeme typisch ist (Huschke-Rhein 1997, 36).

▼ 144 

Schule und Erziehung haben mit den - nach unterschiedlichen Spielregeln ablaufenden - Seiten von Unterstützung einerseits und Bewertung sowie Kontrolle andererseits gleichzeitig zu tun. Dabei ergibt sich für den Pädagogen das Dilemma, welches Mischungsverhältnis er finden will bzw. kann zwischen den Anforderungen von faktischem Schulsystem (sowie Politik und Wirtschaft) einerseits und dem Prozess, Schüler im Einzelkontakt in die mündige Selbstständigkeit zu führen (Pädagogik), andererseits (Kap.8.3).

6.2.3 Paradoxien im Interaktionssystem Unterricht

Durch Unterricht ausgelöste Lernprozesse können nicht exakt vorhergesagt oder gar determiniert werden. Routinen lassen sich in einzelfallbezogener Arbeit zwar herausbilden, sie tragen aber nicht weit, sondern werden vom Zufall konterkariert. Angesichts der hohen Komplexität des Prozesses des Unterrichtens ist es verständlich und vielleicht auch nötig, dass Lehrer auf Unterrichtstechnologien und Listen (vermeintlich) kontrollierbarer Bedingungen (im Sinne der Entlastung des Lehrers von unnötiger Aufmerksamkeit) zurückzugreifen suchen (Luhamnn/ Schorr 1988, 131; Fried 2005, 197f). Den für Lernen und Erziehung notwendigen pädagogischen Einzelbezug kann ein solches Vorgehen nicht sichern.

Obwohl Lehrer und Schüler als autopoietische, selbstreferenzielle Systeme gleichwertig bzw. „gleichwürdig“ (Juul 1998, 49) sind, ist das Lehr-Lernverhältnis durch eine klare Asymmetrie gekennzeichnet, die in paradoxer Weise zur Selbstständigkeit des Schülers führen soll.

6.2.4 Paradoxien von Schule im Umgang mit ihren Umweltsystemen

▼ 145 

Systeme können aufgrund der soeben erwähnten Selbstreferenzialität nicht erkennen, wenn ihre Umweltkonstruktionen (bzw. ihre Wahrnehmung von Systemkopplungen) aus anderer Perspektive ggf. als problematisch beschrieben würden. Das betrifft Schule auf zweierlei Arten. Erstens müssen Aussagen über die Kopplung mit den psychischen Systemen der Schüler, die nicht von außen einsehbar sind, unverlässlich bleiben. Dies gilt ebenso, zweitens, für Aussagen über (in der Postmoderne sich verschiebende) Kopplungen von Schule mit Systemen wie Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Aus einer Innenperspektive kann das System Schule allenfalls feststellen, dass Probleme trotz Lösungsversuche aus eigener Sicht nicht ab oder zu nehmen.

Probleme, die schulintern auftreten, können dann z.B. über Schuldzuweisungen an andere Systeme externalisiert werden (bspw. Finanzausstattung durch die Politik, veränderte Medien und Familienstrukturen). Ob solche Sichtweisen nun ‚echt-echt wirklich’ (G.Schmidt 2004b) sind oder eher Konstrukte, lässt sich unter konstruktivistischen Prämissen nie genau sagen. Entscheidend ist hier aber, dass dann, wenn Problemursachen durchweg externalisiert werden, eigene Veränderungsnotwendigkeiten nicht nötig sind. Der Preis der Entlastung von Verantwortung ist, dass potenzielle, erweiterte Handlungsoptionen verloren gehen (Fried 2005, 198f).

Die vorangegangen schultheoretischen Ausführungen, mit Hilfe derer zentrale Paradoxien von Schule rekonstruiert wurden, können Lehrern helfen, „sich typischer Denkfallen bewusst zu werden“ (Fried 2005, 200) und sich entsprechend zu schützen bzw. zu positionieren. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass im Umgang mit diesen Widersprüchen Lehrer letztlich auch berücksichtigen müssen, dass ihr Auftraggeber der Staat ist, der für die Qualität von Schule explizit Verantwortung trägt und zu tragen beansprucht. Für die Qualität von Schule tragen Lehrer also nur Mit- bzw. Teilverantwortung – nach Festlegung des konzeptionellen, rechtlichen und finanziellen Rahmens von Schule durch den Staat (der seinen Auftrag von der Gesellschaft ableitet). Teil des offiziellen Auftrags in Schulgesetzen ist, dass Schule Schüler erziehen soll, obwohl Lehrer und damit Schule, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, allenfalls als ungünstig erachtete Kognitionen oder Verhaltensweisen von Schülern zu verstören versuchen kann.

▼ 146 

„Weil und insofern Bildung und Erziehung in ihren unterschiedlichsten Formen Orte der Arbeitsteilung, der Institutionalisierung und ritualisierter Handlungsabläufe“ darstellen, konstruieren Pädagogen, Schüler und Eltern ihre Wirklichkeit immer auch in einer und über eine „Kunstwelt Schule“ (Reich 2002, 128). Hierbei ergeben sich, je nach Persongruppen, idealtypische Unterscheide.

6.3 Ansichten nach Persongruppen

Schüler, Eltern und Lehrer sehen Erziehung und Schule - auch in der Gegenwart - aufgrund ihrer unterschiedlichen Position bzw. Funktion und dem damit verbundenen Selbstverständnis in den jeweiligen Kontexten aus unterschiedlichen Blickwinkeln. D.h. auch, sie gehen unterschiedlich mit den Erzählungen und v.a. den gerade erläuterten, häufig widersprüchlichen Rahmenbedingungen von Schule um.genden Ausführungen verstehen sich idealtypisch.158 Zunächst soll die Sicht der Schüler auf den heutigen Schulbesuch entworfen werden, dann die der Eltern und der Lehrer. Aus den jeweiligen kontextbedingten Sichtweisen lassen sich entsprechende Verhaltenserwartbarkeiten ableiten, die systemisch-konstruktivistischen Pädagogen bekannt sein sollten als Ausdruck primär von Rahmenbedingungen und nicht von zugeschriebener Persönlichkeit.

6.3.1 Schulbesuch aus Sicht von Kindern und Jugendlichen heute

Insofern als Schule als System und Zwangsveranstaltung einen quasi-verordneten relevanten Lernkontext für Schüler darstellt, müssen diese auch für das System lernen (Huschke-Rhein 1997, 36). Sie tun das in einer Gesellschaft, die hohe Freiheitsgrade bietet bei einer ggf. verunsichernden Lockerung sozialer Bindungen und kultureller Eindeutigkeit. In diesem Kapitel soll systemisch-konstruktivistisch beschrieben werden, welche idealtypischen Auswirkungen eine rationale Berücksichtigung des Kontextes Schule als System in der gegenwärtigen Gesellschaft auf die Sichtweisen von Schülern hat.

▼ 147 

Schule qualifizierte bis vor wenigen Jahren fürs spätere Berufsleben durch Lehr- und Zeitpläne.159 Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und schwieriger zu erreichendem, nicht garantiertem Jobzugang ermöglichen (oder zumindest: garantieren) schulische Abschlüsse heute weit weniger Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen als vor 20-30 Jahren. Schule bot auch die Möglichkeit für einen Wissenserwerb, der durch Lern- und Informationsaneignungsprozesse auf das spätere berufliche und gesellschaftliche Leben (halbwegs) angemessen vorbereitete. Heutiges Wissen vergeht hingegen wesentlich schneller, ist weitaus kurzfristiger gültig, immer davon bedroht, irrelevant zu werden - unsicher ist es in einer pluralen Welt sowieso. Die jetzige Schulorganisation passt nicht mehr in unsere Gesellschaft. Entwicklungsrelevantes Lernen findet momentan zunehmend außerhalb von Schule statt, zumindest unabhängiger von vorgegebenem Lernstoff. Es lohnt sich insofern weniger als früher, inhaltliches Wissen zu erwerben.

Kurzum: das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Schulbesuchs hat sich verschlechtert, und so wird der Zwangscharakter von Schule deutlicher erlebbar. „Es ist in viel höherem Maße als früher eine eigenständige Entscheidung des Kindes, lernen zu wollen und sich erziehen zu lassen. Das bedeutet aber: Im Grunde genommen, muß das Kind eine erwachsene Entscheidung treffen, um die innere Bereitschaft für Bildung und Erziehung selbst herzustellen“ (Rotthaus 1999a, 41).

6.3.1.1 zu erwartendes Schülerverhalten

Schule hat schon allein aufgrund des Ausmaßes an Zeit, das Kinder und Jugendliche in ihr verbringen, aber auch durch den hohen Organisationsgrad mit festen Rollenvorschriften und Ritualen innerhalb einer hierarchisierten Struktur hohe Wirksamkeit auf die Schüler (Rotthaus 1999a, 126). Idealtypisch lassen sich hierbei einige zentrale Handlungslogiken ableiten „aus der Vorgabe von Curricula und Notensystem, aus der letztlich immer ‚mächtigeren Position’ des Lehrers und vor allem aus dem Prinzip der Selektion“ in Verbindung mit gesellschaftlichen Veränderungen (Cachay/ Thiel 1997, 338). Diese Handlungserwartbarkeiten können auch als „nicht-geplante Lerneffekte“ oder ‚heimlicher Lehrplan’160 verstanden werden, die „unvermeidlich [...] Teileffekte des charakteristischen Operierens sozialer Systeme“ darstellen (Rotthaus 1999a, 127). Es lassen sich Schlussfolgerungen über zu erwartendes Verhalten von Schülern (als rationalen, zielorientierten, komplexen, lebenden Systemen) in verschiedenen Bereichen ziehen.

▼ 148 

Für das Arbeitsverhalten bspw. gilt, dass es für Schüler als Objekte von Lernbemühungen in einer Zwangsveranstaltung mit vorgegebenen Curricula und rigiden Auswahlverfahren bei einer zunehmend unsicheren Zukunft gemäß Kriterien ökonomischer Logik sinnvoll ist, sich die Fähigkeit anzueignen, mit möglichst wenig Einsatz möglichst gute Ergebnisse zu erreichen. Sich ‚durchzumogeln’ - d.h. strategisch, den Erwartungen der Schule auf Bewertungs-/ Ergebnisebene gerecht zu werden und sie auf Verhaltensebene kognitiv und sozial zu unterlaufen - ist auf diesem Hintergrund legitim und unter Kosten-Nutzen-Aspekten zumindest kurzfristig (häufig aber auch angesichts wegfallender Jobgarantien bei gutem Abschluss langfristig) intelligent. Dies geschieht, passend zur Risikogesellschaft (Beck 1986), auf eigenes Wagnis, d.h. der Schüler muss die Konsequenzen seines Handelns tragen.

Da obendrein die Fähigkeit zum langfristigen komplexen Denken erst auf der “voll formal-operationalen” Stufe nach Piaget erreicht wird (Piaget 1991), sind i.d.R. erst Schüler ab ca. 16 oder 17 Jahren soweit, dass sie langfristige negative Konsequenzen, wie sie sich durch die im schulisch-organisatorischen Kontext vorgegebenen Spielregeln ergeben können, für die eigene Biographie durchschauen. Aber auch dann können sie es angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen für sinnvoller halten, nach der gerade genannten wirtschaftlichen Logik des minimal nötigen Einsatzes für unklare kommende Chancen vorzugehen. Alternativ freilich ist bei altersabhängiger Fähigkeit zur Weitsicht auch die Strategie sinnvoll, viel zu investieren, um sich möglichst viele Optionen offen zu halten (Gross 1994, also z.B. am besten ‚erst mal’ ein sehr gutes Abitur zu machen).

Die Macht des Lehrers qua Amt verlangt von den Schülern, denen ihre Bewertungen wichtig sind, Anpassung an die Vorstellungen des bewertenden Lehrers161 (oder des von der Lehrerschaft umgesetzten Schulprogramms). Letztlich ist das Schülerverhalten auf die soziokulturelle Organisation von Lernbestätigung ausgerichtet und steht in Beziehung zur kollektiven Ordnung der Bewertung von bestimmten Handlungsperformanzen. Auch diese Anpassung ist eine konstruktivistische Lernleistung. Die wissenschaftliche Literatur162 unterscheidet dabei zwei Lernziele:

▼ 149 

Das Verhalten der Schüler, die ihre Konstrukte ja in ihren bisher relevanten Umfeldern erworben und ggf. bestätigt bekommen haben, wird auch durch ihre „innere Landkarte“ mitbestimmt. So lebt der Schüler zuhause erlernte Strategien in der Schule weiter, soweit sie sich für ihn aus seiner Sicht als nützlich (oder zumindest nicht abträglich) erweisen. Konstruktivistisch gesehen, ist das sinnvoll und legitim, da es sich um erworbene Fähigkeiten des Schülers handelt, die ihm im nicht-schulischen Kontext bisher das Überleben gesichert haben. Bspw. kann ein Schüler ein Verhalten, dass ihm zuhause ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zusichert, auch in der Schule an den Tag legen, wo es aber als störend oder abweichend definiert werden kann. Oder von den Eltern für globalisierte Zeiten vielleicht als angemessen empfundene, konkurrenzbetonende Verhaltensweisen (Kap. 6.1.3) können in der Schule auftreten. Der Punkt, um den es hier geht, ist nicht, dass ein bestimmtes Verhalten (per se) richtig oder falsch wäre, sondern dass es für den Schüler zunächst einmal sinnvoll erscheint, während sein (schulisches) Umfeld über Kommunikationsgeschehen zu einer anderen Bewertung kommt, aus der sich dann wiederum Handeln und Reaktionen in zirkulären, sich ggf. selbst verstärkenden Prozessen ergeben. Schule kann Schüler dabei nicht gezielt erziehen, sie kann aber Verhaltensmuster von Schülern stören, wenn diese sich stören lassen.

Junge Menschen befinden sich in einem permanenten Entwicklungsprozess, sind auf der Suche nach Identität und Orientierung. Dazu gehört das Austesten und Finden von Grenzen, d.h. das Sich-Reiben an Grenzen - im Verlauf zunehmend selbstverantwortlicher Realisierung von Optionenvielfalt ist ein solches Verhalten entwicklungsnotwendig. Regelverstöße sind damit nicht etwa überflüssig, sondern in Schule zu erwarten, weil sie wichtiger Lerngegenstand sind – zumindest wenn von Erwachsenenseite angemessen auf sie reagiert wird und sie thematisiert werden. In diesem Zusammenhang erweist sich „das Fehlen von Grenzen und Anforderungen [...] als nicht weniger schädlich als die engstirnigste Autoritätsausübung“ (Omer/ Schlippe 2004, 23). Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern könnten auch darin als erwartbar begründet liegen, dass Schule weder ihren Bedürfnissen noch ihrer Lebenswelt entspricht (Palmowski 2001, 5). Schule dürften sie oftmals als kontrastiv zu ihren gewachsenen Freiheiten zuhause und in der Gesellschaft erleben (Huschke-Rhein 1998a, 64).

▼ 150 

Da Menschen und Zusammenleben über Erwartbarkeiten funktionieren, dürfte häufig in einer Institution wie Schule mit ihren tendenziell knappen Ressourcen an pädagogischer Aufmerksamkeit ein Schülerhandeln, das Erwartungen widerspricht, mit höherer Wahrscheinlichkeit Aufmerksamkeit auf sich ziehen können als ein erwartungskonformes Verhalten. Nicht-konformes Verhalten kann in diesem Sinne - gerade in einer Gesellschaft, die mit Aufmerksamkeit geizt - subjektivvon Nutzen sein. Der junge Lernende versteht ja nicht von vornherein, mit der ihm gegebenen Freiheit angemessen umzugehen, sondern muss orientierende Grenzen im Austesten finden. Regelverstöße sind also deshalb systemimmanent angelegt, weil einzelne Schüler über Reaktionen auf ihre Grenzverstöße Orientierung finden und die Mehrheit sich über Reaktionen/ Sanktionen ihrer Regelhaftigkeit versichern kann. Auf Etikettierungen hat ein Schüler dann drei Reaktionsmöglichkeiten: Anpassung, Widerstand (Leugnung oder Rechtfertigung des eigenen Verhaltens) und Resignation.

Der Lehrer hat beim Ausbalancieren von Grenzen und Freiräumen für die heranwachsenden Schützlinge potenziell Vorbildfunktion (und u.U. Mentorenfunktion, da junge Menschen nach Orientierung suchen). In einer tendenziell unübersichtlichen, pluralen Gesellschaft gibt es aufgrund der Unübersichtlichkeit einen erhöhten Bedarf an Orientierung durch Vorbilder und gleichzeitig eine Vielzahl solcher Angebote, über deren Glaubwürdigkeit die jungen Menschen selbst entscheiden müssen. Zu erwarten steht, dass Schüler sowohl offen sind für mögliche (erwachsene) Vorbilder in der Schule, als auch, dass sie mögliche Vorbilder in der Beziehung mit konkreten Pädagogen, von deren Verhalten sie lernen können, besonders kritisch unter die Lupe nehmen. Grundsätzlich dürften Schüler in ihren Entwicklungsprozessen und innerhalb der Pluralität von Sinn- bzw. Handlungsangeboten in postmodernen Gesellschaften verstärkt auf der Suche nach angemessener, posttraditionaler und post-ideologischer Orientierung und Identität sein – in einer Schule, die als Organisation allerdings immer noch eher moderne als postmoderne Strukturen aufweist.

Außerdem lernen die Schüler, die sich auf verschiedene Lehrer einstellen müssen, neben Menschenkenntnis auch über die Jahre ein Stück Toleranz, wenn sie erkennen müssen, dass sie die Lehrer nicht entscheidend verändern können.164

6.3.1.2 zu erwartendes Klassenverhalten

▼ 151 

Auch zu erwartendes Klassenverhalten lässt sich modellhaft skizzieren, wobei systemtheoretisch die Klasse als ein selbstständiges Kommunikations bzw. Interaktionssystem mit Eigendynamik verstanden wird:165

Abb. 6-1: Klasse als Interaktionssystem: Mitwirkende und Umwelten (Renoldner et al 2007, 109)

Zwischen den Schülern (und Lehrern) gibt es zirkuläre Prozesse der Beeinflussung,166 es entwickeln sich Strukturen und Prozesse. Die zirkulären Kommunikationsprozesse der Klasse lassen sich (im Sinne einer Klassen-Organisationskultur (Kap.8.1.1) so beschreiben, dass der Einzelschüler geprägt ist durch das Klassenverhalten und umgekehrt das Verhalten des einzelnen das prägt, was in der Klasse passiert. Es handelt sich um einen realitätsstiftenden Kreislaufprozess, in dem „Regeln, Rituale, Rollenverteilungen“ im Sinne erwartbaren Verhaltens vergeben bzw. unausgesprochen ausgehandelt werden (Siebert 2005b, 39).167 Wird Klasse so verstanden, ist sie ein essentieller sozialer Ort zum Lernen von Beziehungsgestaltung - ob so intendiert oder nicht. Es findet in ihr unvermeidbar ‚soziales Lernen’ statt, da sowohl Handeln als auch Nichthandeln mit Bedeutung unterlegt wird. Die Klasse ist das zentrale Umfeld des Schülers in der Schule und notwendig Ort des gemeinsamen Ausprobierens von sozialen Umgangsformen und Beziehungsgestaltung. Es entstehen durch das faktische Verhalten „wirk-same“ Regeln, und Positionen werden vergeben. Dabei lässt sich zurzeit beobachten, dass es einer steigenden Anzahl von Schülern an der Fähigkeit mangelt, sich aus Sicht der Erwachsenen angemessen in die soziale Zwangsgemeinschaft Klasse einzufügen. Das lässt eine achtsame Begleitung ‚sozialen Lernens’ durch Pädagogen sinnvoll erscheinen. Für die bewusste gemeinsame Reflexion sozialen Lernens in und mit der Klasse spricht auch, dass Lernprozesse - systemisch-konstruktivistisch betrachtet - grundsätzlich in Beziehungen stattfinden.

▼ 152 

Wenngleich Schüler also Teamfähigkeit lernen sollen, so darf doch nicht vergessen werden, dass sie zugleich Auswahlprozessen nach Individualleistungen unterliegen. Klassen sind (meist) verordnete Zwangsgemeinschaften, in denen die Individuen gemäß Einzelbeurteilungen eingestuft und eingeschätzt werden. Diese Bewertungen beinhalten für die Beteiligten (häufig auch für die Lehrer) Selbstwertfragen. Auch wenn alle Schüler einer Klasse oder eines Kurses kurz-, mittel oder langfristig einen bestimmten Schulabschluss erreichen wollen, so hat eine Klasse als solche erst einmal keine oder nur kaum selbstdefinierte verbindliche gemeinsame Ziele (Renoldner et al 2007, 110f). Gemeinsame Zielvorstellungen bzw. Motivation können – ebenso wie automatische Klassengemeinschaft – vom Pädagogen weder erwartet noch gezielt hergestellt werden.

Neben den Schülern lassen sich auch für Eltern Erwartbarkeiten in Sichtweise und Handeln aufstellen.

6.3.2 Schulbesuch aus Sicht von Eltern - heutige Elterngeneration

Idealtypisch zu beschreibende Ansichten und Einstellungen von heutigen Eltern lassen sich aus den Ausführungen in Kap. 6.1.2 - 6.1.4 ableiten. Häufig sind die Vorstellungen der heutigen Elterngeneration von gesellschaftlich noch immer machtvollen kausalen Narrationen aus traditionellen Psychotherapierichtungen (insb. der Psychoanalyse) bestimmt. In diesen eher deterministischen Konzepten168 liegen Störungen in der frühen Kindheit, und Eltern sind für die Verursachung solcher Störungen durch ihre schlechte Erziehung verantwortlich. Kindern nicht die perfekte Kindheit bieten zu können, heißt dann Schuld, Mitleid, Angst ihnen gegenüber empfinden und Scham nach außen, wenn Erziehungsprobleme im Umfeld (Bekannte, Schule usw.) bekannt werden. Die Kombination aus hohen freiheitsbetonenden Idealen und der Angst, dass insb. ungenügende Erziehung prägend für den Rest des Lebens sei, kann zu einer Lähmung führen, aus der heraus Eltern vor Grenzsetzung und Auseinandersetzung mit dem Nachwuchs zurückschrecken. Mit geschädigt wirkenden Menschen muss nach dieser Logik sehr nachsichtig und behutsam umgegangen werden. Eine solche Verunsicherung über die Schwierigkeit richtigen Erziehens führt dann zu einem Handeln nach – allerdings vielfältigen und häufig auch widersprüchlichen - Vorgaben anderer Menschen, Institutionen und Büchern und weg von der eigenen Intuition und Überzeugung. Eltern sehen dann – nicht ganz unberechtigt – auch in Pädagogen psychosoziale Fachleute, von denen sie sich u.U. erzieherischen Beistand erhoffen (Omer/ Schlippe 2002, 2004; Kreter 2005, 71). Eine andere Sichtweise - die Betonung von Konkurrenz und Durchsetzungsvermögen gerade auch aufgrund von Globalisierungstendenzen und knapper werdenden gesellschaftlichen Ressourcen wie Arbeitsplätzen – kann die Eltern ebenfalls unter sehr hohen Druck setzen..

▼ 153 

Aus der ersten Sichtweise ergibt sich ein Elternverhalten, dass auf Schonung der Kinder setzt und Grenzsetzungen wie Forderungen vermeidet, damit den Schützlingen aber auch Chancen auf Orientierung nimmt. Eine solche, die eigenen Kinder schützende Haltung wird dann auch Pädagogen gegenüber eingenommen, die ggf. von Eltern aggressiv angegangen werden, wenn die Pädagogen ein fordernderes Konzept verfolgen, wie das z.B. in der systemisch-konstruktivistischen Sichtweise der Fall sein kann. Wenn, wie zurzeit, in der Gesellschaft Erziehungsdefizite festgestellt werden und damit Schuld im sozialen Raum bewegt wird, kann es dazu kommen, dass Eltern und Pädagogen sich diese gegenseitig zuschieben, statt anzuerkennen, dass sie im gleichen Boot sitzen (Kap.9.3). Auch die zweite Variante, eine Furcht um die (ungewisser werdenden) Zukunftschancen des eigenen Kindes, kann sorgende, sich kümmernde Eltern dazu veranlassen ihr Kind gegenüber Schule in Schutz zu nehmen und aggressiv und fordernd aufzutreten. Mit solchen Verhaltensweisen müssen Lehrer also rechnen, ohne es persönlich zu nehmen.

6.3.3 Schulbesuch aus Sicht von Lehrern

Aus den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule lassen sich auch Wahrscheinlichkeiten für Lehrerverhalten ableiten im Sinne eines kontextangemessenen Verhaltens.

Schule als staatlich-technokratisch organisiertes Lernsystem ist darauf angelegt, „den Eigenwert des Systems, die Lernleistung, zuverlässig zu erbringen“, weshalb es in ihr – von ihrer Anlage her - primär nicht um Erziehung oder Sozialisation geht. Psychische Prozesse (der Schüler) erlangen unter dieser Sicht am ehesten Aufmerksamkeit, wenn sie als „Störgrößen“ wahrgenommen werden (Huschke-Rhein 1998a,60f). Der institutionelle Rahmen erzeugt, wie gesehen, Druck auf die Schüler. Er tut das aber auch auf die Lehrer, die ebenfalls unter den Prämissen des Schulsystems arbeiten müssen. Der Lehrer muss die vom staatlichen Schulsystem gestellten Ziele innerhalb des strukturell vorgegebenen Rahmens verwirklichen, weil sich daran seine Qualität aus schuladministrativer Sicht bemisst. Die Nicht-Hintergehbarkeit von z.B. Lehrplan oder rechtlich haltbarer Benotung können dabei Schülerinteressen irrelevant werden lassen. Zentrale Aufgaben des staatlichen Auftraggebers, die der Lehrer mit Vorrang zu sichern hat, sind Kontrolle und Auswahl.

▼ 154 

Als Vertreter der Institution Schule erscheinen Lehrer – zumindest für den Auftraggeber Staat (Kap.8.2) - zentral für das Erreichen des zentralen Ziels der Schule: Versetzungen und Abschlüsse durch die Schüler. Der Lehrende kann glauben, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, und, dass von seiner Vermittlung das Lernergebnis wesentlich abhinge. Hierfür stattet das Schulsystem den Lehrer mit Macht aus, und zwar mit formaler Macht qua Amt (Kap.9.1.7). Diese ist abgesichert durch seine Bewertungsuniversalität und Sanktionsmöglichkeiten sowie die Schulpflicht der Schüler.

Auf der anderen Seite aber sind sowohl das System Schule als auch die einzelnen Lehrer zum Erreichen des eigentlichen Ziels (Abschlüsse der Schüler) auf die Mithilfe der Schüler essentiell angewiesen. Insofern ist der Pädagoge – zumal dann, wenn der Auftraggeber Vergleichsverfahren169 einführt – auch psychologisch abhängig von der Klasse und den Schülern. Diese braucht er für seinen Unterricht. Und diese entscheiden darüber, ob sie ihm Autorität zuerkennen (oder nicht). Der Lehrer ist also auf die Mitarbeit der Schüler angewiesen, um die staatlich vorgegebnen Ziele zu erreichen. Besonders deutlich wird dies unter den speziellen Bedingungen des Referendariats. Außerdem besitzen die Schüler hohe (potenzielle) Gestaltungsmacht über das, was in der Klasse als sozialem Gebilde passiert. Der Lehrer ist nicht der Mächtige schlechthin.

Durch die beschriebenen Umstände und ggf. dadurch, dass Lehrer in ihrem Fach das wichtigste Fach der Schule erblicken, kann es dazu kommen, dass Lehrer die Schüler zu motivieren versuchen – häufig gilt das als Teil der Professionalität.170 Dabei wird übersehen, dass dies im Rahmen einer Zwangsveranstaltung geschieht, die Schule letztlich ist. Sich den für soziale Berufe häufigen Versuch, in Zwangskontexten andere zu motivieren, als Kontextbedingung nicht bewusst zu machen, kann zu Burn-Out führen (Schumacher 2002). Dass die Nichtberücksichtigung des staatlichen und schulischen Rahmens - der Systemebenen - der pädagogischen Arbeit zum Ausbrennen führen kann, gilt grundsätzlich.

▼ 155 

Eine begrenzte Reichweite von Interventionen für Pädagogen, die sich durch die Unmöglichkeit instruktiver Interaktion systemtheoretisch sowieso ergibt, wird dadurch verstärkt, dass die Kinder durch das Elternhaus bereits stark geprägt sind und in der Jugendphase die Peergroup i.d.R. höhere Relevanz hat als Pädagogen. Interventionen werden dem Pädagogen obendrein dann erschwert, wenn das Schulhaus nicht als einheitliches System auftritt und/oder die Eltern dem Kind gegensätzliche Signale geben.

Das Schulsystem bietet bei als überdurchschnittlich leistungsschwach oder störend empfundenen Schülern an, diese so zu sehen, dass sie nicht lernen können/wollen oder sogar bewusst den Unterricht boykottieren, und sie daher aus dem System der Regelschule auszuschließen. Unabhängig von der Diskussion, welche Beschulung in solchen Fällen die günstigste ist, gehen in den (vom System mitbedingten) Sichtweisen die eigentlich zu trennenden Ebenen von Beschreibung, Erklärung und Bewertung durcheinander (Balgo 2003, 100). Die Selektionsfunktion von Schule funktioniert unter der Prämisse, dass es immer gute und schlechte Schüler gibt, die es jeweils herauszufinden gilt, wobei in einem gewissen Rahmen, der keiner weiteren Erklärung bedarf, erwartet wird, das Schüler nicht lernen (Balgo 2005, 72). Umgekehrt setzen die staatlichen Bedingungen in einer Doppelbotschaft voraus, dass professionelle (zumindest Förder)Pädagogen mit jedem Schüler klarkommen und diesen zu angemessenen Leistungen bringen. Schülerversagen kann dann als Lehrerversagen interpretiert werden. Beide Interpretationen bzw. Erklärungsmuster sind in Schule geläufig und werden auch von vielen Lehrern unreflektiert (und handlungsleitend) übernommen.

Den diversen, in Kap.6 beschriebenen, handlungsleitenden Sichtweisen lässt sich die Erzählung des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes entgegensetzen. Aus ihr lassen sich (bzw. aus ihren Prämissen muss man) unterschiedbildende Folgerungen für die Pädagogik in der Postmoderne ziehen. Damit beschäftigen sich die folgenden Kapitel und, zunächst grundlegend, das unmittelbar folgende Kap.7. Jegliche Umsetzung systemisch-konstruktivistischer Ideen in der heutigen Schule in Deutschland muss die geschilderten Rahmenbedingungen und Sichtweisen der Beteiligten allerdings mitbedenken und berücksichtigen, um erfolgreich sein zu können.


Fußnoten und Endnoten

142  Unterricht(sfächer) können analog als Rahmungen eines Themas beschrieben werden (Huschke-Rhein 1997, 41,49).

143  Der folgende Kurzüberblick über Erziehungsvorstellungen der letzten Jahrzehnte ist mit Literaturstellen belegt und modellhaft zu verstehen. Letzteres bedeutet, dass Sichtweisen der einzelnen Pädagogen und Erziehenden jeweils durchaus gemischt sind, tendenziell aber bestimmte gesellschaftliche Narrationen verstärkt erzählt werden. Die Darstellung bezieht sich auf die BRD. Für die DDR dürfte tendenziell gelten, dass die Phase der Veränderungen der sechziger/siebziger Jahre weggefallen ist und zusammen mit den Veränderungen seit Mitte der achtziger Jahre massiv und nach dem Mauerfall plötzlich und unvermittelt auf die Gesellschaft einwirkte.

144  Für die gegenwärtige Zeit kann (noch) keine Narration als die führende beschrieben werden, wohl aber können gesellschaftliche und andere gegenwärtig prägende Kontexte beschrieben werden (Kap.6.1.4).

145  Verstärkt gilt das noch für kirchliche Erziehungseinrichtungen: „Die Erzählungen der heutigen Erwachsenen gleichen sich so entsetzlich [...]. Die Kinder mussten ihr Erbrochenes wieder aufessen, wurden aus nichtigen Anlässen in Arrest- und Besinnungszellen gesperrt. Fromme Frauen und Männer schlugen ihnen den Kopf vor die Wand, ließen sie auf scharfen Kanten knien oder mit umgehängtem urinnassen Bettlaken durchs Spalier der höhnenden Kinder gehen. Ohrfeigen gab es sowieso ständig; Barmherzigkeit oder gar Liebe galten den Erziehern als Schwäche. Kontrolle und Gängelung prägten den Alltag, besonders, wenn es auch nur im Entferntesten um Sexualität ging. Die älteren Jugendlichen mussten für ein Taschengeld harte Arbeit verrichten, Wäsche mangeln, Torf stechen. Bis in die 70er Jahre hinein ging das in manchen Häusern so. Und bis heute leiden die ehemaligen Heimzöglinge an den Folgen der Erniedrigung und Drangsalierung, an der schwarzen Pädagogik sadistischer Erzieher, die ihre Prügel im Namen des Herrn verteilten: In den 50er und 60er Jahren wurden die meisten Kinderheime von kirchlichen Trägern unterhalten“ (Drobinski 2006; vgl. Wensierski 2006).

146  Alltagstheorien können als wahrnehmungs- und handlungsleitende Regelsysteme verstanden werden, die nicht hinterfragt, begründet oder in logisch strukturierte Gesamtsysteme eingebettet sind (Palmowski 2003, 20).

147  Da vielfältige dieser Einflüsse auch für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts gültig zu sein scheinen, benutze ich hier teilweise grammatikalisch das Präsens.

148  Migrantenfamilien und ihre Kinder sind davon nicht ausgenommen (Kreter 2005,34; Schlippe et al 2004).

149  Mehr dazu in Kap. 9.12.6.3.

150  Für Verhalten, das unter den Kontrollkontext (und nicht den Unterstützungskontext) von Schule fällt (Vandalismus, Beschimpfen, körperliche Gewalt, Mobbing usw.), gilt, dass eine ressourcenorientierte Sichtweise zwar möglich bleibt, jedoch muss hier eine klare Grenzsetzung erfolgen, die sich am konkreten Verhalten des Schülers orientiert (vgl. Kap.9.1).

151  Dies ist zugleich eine soziologische Leseweise von Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

152  während in der Medien- und Konsumwelt der Spielmodus (ersatzweise) propagiert und vielfältig offeriert wird. (Die Begrifflichkeiten von Spiel- und Ernstmodus stammen von Clement 2007.)

153  Kegan (1995) geht davon aus, dass sich das allmählich mit dem Übergang in eine Gesellschaft der Stufe 5 verändern dürfte.

154  Weitere Unterschiede, die nur zum Teil positiv zu konnotieren sein mögen: Kinder verfügen über „Intensität, Ungestüm, Ungeduld, Hingegebensein an die Gegenwart, Überschwang, Zerstörungslust“ (Bastian 2001, 109).

155  Aus konstruktivistischer Sicht ist die Postulierung von Objektivität „die genialste Strategie, sich der Verantwortung zu entziehen“ (v.Foerster, zit.n. Heuwinkel 2002, 42). Die Funktionsweise einer technokratisierten Bürokratie unterliegt für ihr Funktionieren klassisch anderen als konstruktivistischen Prämissen.

156  diese grenzt er ab von psychischen und biologischen Systemen.

157  „Wird der Lernstoff abgelehnt, d.h. nicht gelernt, muß der Schüler das System verlassen. Insofern ist das Schulsystem enttäuschungsresistent organisiert“ (Huschke-Rhein 1998b, 145).

158  Dieses Kapitel richtet sich in wesentlichen Teilen nach den Ausführungen von Tschira (2005, Kap 1.).

159  Fleiß, Disziplin und Ordnung galten als Voraussetzung von Lernprozessen in einem selbstverstärkenden Prozess: „Wurden die Tugenden in der Schule, also im Lernsystem erfüllt, winkte später der erfolgreiche Anschluß an die Gratifikationen der Gesellschaft“ (Huschke-Rhein 1998b, 140).

160  Heimliche Lehrpläne ergeben sich nicht nur durch die institutionellen Rahmenbedingungen. Bedeutungsgebungen, Glaubenshaltungen, Beziehungsgestaltungen werden auch in pädagogischen Interaktionsprozessen stets mitgeliefert (G.Schmidt 2004a, 416).

161  konstruktivistisch genauer: Anpassung an die Vermutungen des Schülers über die Vorstellungen des bewertenden Lehrers gemäß der vermuteten Intensität der Nicht-Neutralität des Lehrers.

162  Verschiedene Autoren verwenden hier z.T. unterschiedliche Begriffe, die sich im Kern um die folgende Unterscheidung drehen..

163  Das Lernziel hier ist letztlich primär ein formales (Lernen, sich nach außen so zu verhalten, dass einem vom Kontext relevantes Lernen unterstellt wird, und dabei die inhaltliche Lernanstrengung zu minimieren), kein inhaltliches.

164 

Das kann auch umgekehrt gelten.

165  Palmowski (1998d) bietet vier andere Visualisierungen des Systems Schulklasse: nämlich (a) als ‚Mengenlehre’, (b) als Ganzes, das mehr ist als die Summe der Teile, (c) als vernetztes System, (d) als Netz von Kommunikationen im Sinne Luhmanns.

166  Die Frage, ob der Lehrer Teil einer Klasse ist, kann beobachterabhängig unterschiedlich definiert werden – daher die Klammer im obigen Text. Lehrer haben zwar während des Unterrichts aufgrund ihrer Machtstellung qua Amt eine besondere Position. Häufig aber haben sie faktisch auf das soziale Geschehen in der Klasse (gemeint ist das soziale Gebilde, nicht der Raum) wenig Einfluss, weil sie sich primär als Stoffvermittler sehen (sollen – vom Staat aus), wenig Stunden in der Klasse sind, weder Zeit noch Handwerkszeug haben/ sich nehmen, um mit den Schülerinnen den sozialen Prozess zu reflektieren. Schülerverhalten wird nicht hauptsächlich von Lehrervorgaben und Schulregeln bestimmt, sondern vorrangig von den Prozessen innerhalb der Klasse geprägt.

167  Systemisch betrachtet, können Lehr- und Lernsysteme über personunabhängige Operationen definiert werden (z.B. Luhmann). In diesem Sinne wirken systemisch-konstruktivistische Interventionen in Kommunikationsprozesse (und nicht Personen) ein.

168  Das systemisch-konstruktivistische Konzept, gemäß welchem Kinder aktive Anpassungs- und Lernprozesse durchlaufen, wäre hingegen eher ein aktives Konzept.

169  wie zentrale Abschlussprüfungen oder Vergleichsarbeiten.

170  So auch in Hessen: „Motivationsfähigkeit heißt, auch aus eigenem Antrieb engagiert aktiv zu werden und bzw. oder Menschen durch Überzeugung für die Beteiligung an Arbeitsprozessen zu gewinnen und zu dauerhafter Mitarbeit und besonderem Engagement zu bewegen“ (hess. Kultusministerium 2006b, 83).



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09.06.2008