2 aktuelle Herausforderungen und Chancen für Schule

▼ 7 (fortgesetzt)

Bevor eine Fortbildung in systemisch-konstruktivistischer Pädagogik und Beratung für schulische Pädagogen der Gegenwart in Deutschland konzipiert werden soll, werden in diesem Kapitel zunächst die Veränderungen in Gesellschaft, Familien, Wirtschaft und Medien der letzen circa zwei bis drei Jahrzehnte überblicksartig zusammengestellt (Kap. 2.1), auf die die Pädagogik reagieren muss. Danach werden aktuelle Trends von Veränderungen in der Schulpolitik Deutschlands der letzten Jahre beispielsartig dargestellt. Dabei greife ich insb. auf das Bundesland zurück, in dem die Fortbildung, die Gegenstand dieser Dissertation ist, durchgeführt wurde und aus dem die Teilnehmer kamen (Kap.2.2). Diese aktuellen schulpolitischen Trends werden kurz einer (auch systemisch-konstruktivistischen21) Kritik unterzogen (Kap.2.3), bevor Chancen und Ressourcen der gegenwärtigen Situation beleuchtet werden. (Kap.2.4).

2.1 aktuelle Herausforderungen

Erhebliche Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte in den Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft, Medien, Elternschaft, Schüler(gesundheit) sowie die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen haben Auswirkungen auf und stellen teilweise deutliche Herausforderungen für das Lehrerdasein an deutschen Schulen dar. Diese Umweltveränderungen bzw. Kontextbedingungen müssen von einer systemisch-konstruktivistischen Fortbildung für Lehrer berücksichtigt werden, wenn sie für die Praxis wirksam sein will. Im Folgenden werden daher wichtige Wandlungsprozesse und Herausforderungen auf den genannten Gebieten überblicksartig erfasst und kurz erläutert.

▼ 8 

Die Gesellschaft und ihre normative Vorstellungen sind plural und unsicherer geworden, so dass keiner mehr für sich die „wahre Art des Kindererziehens und die beste Familienstruktur“ (Omer/Schlippe 2002, 19) beanspruchen kann. Die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen (können), hat in den letzten Jahren drastisch abgenommen.22 In der verbleibenden Zeit steigt der Druck, die Zeit besonders gut zu nutzen, und das auch noch möglichst „spontan, entspannt und spielerisch“ (Bastian 2001, 18). Rotthaus (1999a, 16) konstatiert, dass dementsprechend gesellschaftliche Probleme auf die Schule (und ihre Pädagogen) abgewälzt würden, während – das muss kein Widerspruch sein - Retzer/Simon (1998) Elternhaus und Schule zur Existenz ‚in einem Boot’ aufgerufen sehen.

Der wirtschaftliche Wandel erfordert lebenslanges Lernen (d.h. auch: das Lernen zu lernen, Methoden zu lernen) und den selbstständigen und reflektierten Umgang mit Informationen (Wissensmanagement), letztlich eine Didaktisierung des eigenen Wissens. Gleichzeitig machen es die Anforderungen von Arbeitsplatz und Wohlstand den Eltern „immer schwerer, die Entwicklungs- und Erlebniswelt ihrer Kinder zu erhalten und zu schützen“ (DeGrandpre 2002, 44). Zukunft wird ungewisser, der Druck auf das (auch junge) Individuum steigt. Unter finanziellen Aspekten betrachtet, limitiert der deutsche Staatshaushalt Bildungsaufträge in einer Weise, dass – im Vergleich mit dem europäischen Ausland – eine „Vernachlässigung des staatlichen Bildungsauftrages“ (v.Lüde 2005, 167) konstatiert werden kann.

Durch das Aufkommen der neuen Medien sind wesentliche Informationsvorsprünge der Erwachsenen weggefallen. Mit der Konstatierung eines Prozesses, in dem die klassische Funktion der Wissensvermittlung zusehends von Medien wie dem Internet übernommen wird (Schweitzer 2005, 81), lässt sich auch eine Infragestellung der Lehr(er)funktion verknüpfen. Überhaupt werden Erfahrung und Alter in den sehr schnelllebig gewordenen Zeiten, in denen die Halbwertszeit von Wissen drastisch sinkt, geringer geschätzt als früher (Bünder 2006, 206). AD(H)S wird in der Literatur teilweise explizit mit dem hohen Tempo des Alltags, starkem Fernsehkonsum und hoher Computer(spiel)nutzung in Verbindung gebracht (Spitzer 2006). Der derzeitigen, in ihrer Form politisch zumindest mitgetragenen Medienkultur wird vorgeworfen, dem Irrtum zu unterliegen, dass „das, was die Kinder sehen, ohne Auswirkungen auf deren Verhalten bleibt“ (Bauer 2007a, 87).23 Ursachen für AD(H)S lassen sich daher keineswegs allein im Kind lokalisieren, vielmehr sind sie „auch im gesellschaftlichen, familiären und schulischen Umfeld zu suchen. [...] Wir leben in einer Zeit aberwitziger gesellschaftlicher Veränderungen mit erheblichen Beschleunigungen in allen Lebensbereichen“ (Wolff24, zit.n. Gründler 2002, 41). Bergmann (2001, 66) fasst dementsprechend zusammen: „Heutige Kinder entwickeln disparate Wahrnehmungsmuster, die ihrer disparaten Umwelt entsprechen“.

▼ 9 

Unter den genannten Bedingungen wird in der Literatur teilweise konstatiert, heutige Eltern könnten leicht in eine Situation kommen, in der sie sich teilweise überfordert fühlten. Entlastung böten dann Erziehungsbilder, nach denen Kinder auch ohne viel Begleitung angemessen aufwachsen: „Zu den Lebenslügen der ‚Nach-68er-Eltern’ gehört, dass sich Kinder allein dadurch gut entwickeln, dass man sie repressionsfrei erzieht und sich selbst überlässt“ (Bauer 2007a, 87).25 Zugleich wird konstatiert, dass Eltern nur das Beste – nämlich das Abitur - für ihren Nachwuchs wollten, so dass der wachsende Druck bereits in den ersten Schuljahren Kinder krank mache (Taffertshofer 2006).

Überlastete Eltern, veränderte Familienstrukturen, das Fehlen eines berechenbaren, gleichbleibenden, ritualisierten und langsamen Tagesablaufs zu Hause können als Ausdruck eines im Vergleich zu früheren Jahrzehnten gehetzteren, unstrukturierteren Lebens der Kinder heute gesehen werden (DeGrandpre 2002, 44). Till Bastian beklagt etwas zugespitzt, dass dort, wo es früher für Kinder hieß ‚benimm dich’, es heute ‚beeil dich’ heiße (2001), während DeGrandpre (2002, 44f) kritisiert, dass statt der Fähigkeit zur Selbstkontrolle (insb. mediale) Stimulation zu einer Ersatzstruktur für die heutigen Kinder werde. Schulische Unterstützung (der eigenen Kinder oder der Lehrer) von Seiten der Eltern falle nachweislich, so Bauer (2007a, 86), geringer aus. Ebenso gingen auch Lehrer teilweise verstärkt auf Distanz gegenüber Elternhäusern, so Omer/ Schlippe (2004). Eltern und Pädagogen werden außerdem (unbeabsichtigte) widersprüchliche Botschaften an Kinder vorgeworfen, die mit fast grenzenlosen Freiräumen für das Kind einhergingen (Bastian 2001; Omer/Schlippe 2002,2004).

In der Fachliteratur wird immer wieder eine Delegation von Erziehungsverantwortung konstatiert, und zwar insb. „an die Schule, die Lehrer, die Fachleute“ (Schlippe 2006, 13). Schule verkomme zur „Reparaturwerkstatt“ (Zangerle 1998, 44). Dabei würden an die Schule unerfüllbare, widersprüchliche, er- und überhöhte gesellschaftliche Erwartungen herangetragen, z.B. die Forderung nach mehr Leistung und gleichzeitig größerem sozialpädagogischen Engagement (Voß 2000b, 2). Gleichzeitig werden Lehrer als Berufsgruppe in der Öffentlichkeit eher abgewertet (Schweitzer 2005, 81). Allerdings lässt sich bekräftigen, dass „fast alle gesellschaftlichen Institutionen [...] derzeit in ihren bisherigen Strukturen und Aufgabenspektren massiv infrage gestellt“ werden, weil sich hier – und gerade in Schule – diese Veränderungen „wie in einem Brennglas bündeln“ (v.Lüde 2005, 167f). Schule ist ein Arbeitsfeld hoher Belastung und Verausgabung geworden, und zwar häufig, ohne dass Lehrer damit persönliche Zielsetzungen verbinden (Schaarschmidt, zit. nach Krumpholz-Reichel 2004a, 37), und ohne, dass ihnen (ausreichend) Anerkennung zuteil wird26. Dies stellt bereits eine gesundheitspsychologisch problematische Konstellation dar, zu der noch weitere Belastungen auf Beziehungsebene dazu kommen.

▼ 10 

Als Hauptbelastung von Lehrern gelten schwierige bzw. verhaltensauffällige, als destruktiv erlebte Schüler (Hubrig/ Herrmann 2005, 98; Bauer 2004,35 und 2007a,86; Kreter 2005, 57; Palmowski 1998a). Tatsächlich lässt sich belegen, dass es nicht nur um die beruflichen Zukunftschancen der Schüler schlechter bestellt ist27 sondern auch um die Schülergesundheit: Mehr als 15% der Schüler verhalten sich psychiatrisch auffällig28, ebenso viele Kinder zeigen schwere Defizite im Bereich der sozialen Kompetenzen, wobei gerade diese Schüler häufig in den Klassen tonangebend sind. Derart massive Verhaltensprobleme im Unterricht sind pädagogisch kaum oder gar nicht zu beeinflussen (Bauer 2004b,35 und 2007a,86). Ein Viertel der Schüler leidet nach Untersuchungen Hurrelmanns an Kopfschmerzen, die Hälfte der 10-16jährigen Mädchen erwies sich in einer Untersuchung als „chronisch schlapp“ (Krumpholz-Reichel 2004b, 39) bei steigender Tendenz (Unverzagt 2007, 80), wobei Eltern über die tatsächlichen Beschwerden und Probleme ihrer Kinder nur teilweise Bescheid wissen. Bauer wertet das als einen „weiteren Hinweis darauf, daß bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen keine ausreichende Betreuung im häuslichen Umfeld zur Verfügung steht (Bauer 2004a, 8). Der Arzneimittelgebrauch und missbrauch bei Kindern und Jugendlichen steigt (Glaeske/ Rumke 2000).

Kreter (2005, 97) und Bauer (2007c, 14) stellen des Weiteren fest, dass seit Mitte der achtziger Jahre sich keine Schule mehr darauf verlassen könne, dass alle Kinder mit den Sozialkompetenzen ausgestattet in die Schule kommen (bzw. in ihr unterwegs sind), die Voraussetzung für ein kooperatives Miteinander sind.29 Interessanterweise lässt sich beobachten, dass eine „freundlich bestätigende Kommunikation nach den Regeln der Gesprächspsychotherapie“ (wie sie in den letzten dreißig Jahren ja durchaus erfolgreich Einzug in Schule gehalten hatte) zunehmend auf Ablehnung stößt, insb. bei Kindern aus Familien mit prekärer Situation (Hubrig/ Herrmann 2005, 55). Innerhalb eines Jahres werden 43% der Pädagogen Ziel massiver verbaler Attacken und schwerer Beleidigungen, 7% erfahren eine Beschädigung an ihrem Eigentum, mehr als 4% werden konkret mit körperlicher Gewalt bedroht (Bauer 2007a, 89). Der durchschnittliche Lärmpegel in den Klassenräumen liegt nach Untersuchungen bei 65 bis 70 Dezibel, während Arbeitswissenschaftler 55 Dezibel bei geistiger Arbeit für die Obergrenze halten (Wimmer 2004). Freed/Parsons (1998, zitiert nach Voß 2000b, 4) fassen zusammen: die heutigen Kinder seien auch „ein Produkt unserer schnelllebigen, visuellen, überstimulierenden Kultur“, die im Zusammenhang mit der Individualisierung auch vereinzele und Kinder teilweise schon früh sich selber überlasse.

Weitere Belastungen für schulische Pädagogen stellen Probleme mit Kollegen und Schulleitung dar (Palmowski 1998a, 23,25), die in Schule meist nicht offen behandelt werden sondern verdeckt erkalten. Des Weiteren fällt es Lehrern mitunter auch schwer, zuhause den Privatbereich vom Arbeitsbereich zu trennen, so dass häufig die Erholungsfunktion einer abgegrenzten Privatsphäre nicht mehr (ausreichend) besteht (Bauer 2004a, 12; Kretschmann et al. 2001). Auch die institutionellen Arbeitsrahmenbedingungen gelten als schlecht (Krumpholz-Reichel 2004a, 37), dazu zählen v.a. die finanzielle und räumliche Ausstattung der Schulen, die hohe Schülerzahl in den Klassen30 und der hohe Zeitdruck31 bei übervollen Lehrplänen und finanzieller Unterversorgung32. Phasen extremer Arbeitsbelastung lösen sich ab mit Phasen geringerer Belastung.33 Kahl (2004, dvd1, 1:20 Min) unterscheidet metaphorisch vier ‚Pädagogen’: den Lehrer, andere Schüler, eine generöse und lernangemessene Raumgestaltung und den großzügigen Umgang mit Zeit. Schulen in Deutschland würden aus kurzfristigen Kostengründen lediglich auf den ersten ‚Pädagogen’ zurückgreifen, was eben diesen schwächen und überfordern würde.

▼ 11 

Der eher in ihrer Persönlichkeit anzusiedelnde Wunsch vieler Lehrer, zu helfen und unterstützen, führt dazu, dass sie wenig emotional abgegrenzt fühlen, denken und handeln und so auch kontextuelle oder schulsystemimmanente Probleme in die Selbstdefinition übernehmen (Hubrig/ Herrmann 2005, 19). Teilweise hängen sie noch ausgedienten Lernvorstellungen an, die ihnen eine unangemessene Funktion zuerkennen. Kahl (2004, dvd1, 1:40 min) spricht hier davon, dass die alte ‚Belehrungsschule’ ausgedient habe. Gemeint ist damit, dass Lehrer dazu tendieren, Beziehungsaspekte hinter Aspekten der reinen Stoffvermittlung zu vernachlässigen und im Frontalunterricht das eigene Reden als Schmiermittel benutzen, um den Unterricht in Gang zu halten, die vielen Organisationsfragen zu bewältigen und um zu disziplinieren (Meyer 2006). Dies wirkt sich letztlich jedoch kontraproduktiv auf das Unterrichtsgeschehen aus. Viele Lehrkräfte sind unsicher, inwieweit sie Identität und persönliche Authentizität in den Unterricht einbringen können (Bauer 2004a, 11).

Nach einer mit über 400 Lehrkräften durchgeführten Studie (Bauer 2004a, 1) befinden sich 35% der Lehrer in einer durch hohe Verausgabung, Erschöpfung und Resignation gekennzeichneten Situation, d. h. in einer Burnout-Konstellation. Stressbedingte Belastungssymptome in der Schwere einer medizinisch relevanten gesundheitliche Beeinträchtigung liegen bei 20 % vor. Absolut führend bei den medizinischen Symptombildern und den Frühpensionierungsgründen sind psychosomatische Gesundheitsstörungen (Bauer 2004a; Kretschmann 2001b).

Abb. 2-1: Dienstunfähigkeit bei Lehrern in Bayern 1996-98 (zit. nach Bauer 2004a)

▼ 12 

Schaarschmidt weist in seiner Studie zur Lehrergesundheit (2003, 2005) darauf hin, dass ein hoher Prozentsatz von Lehrern Risikomustern zuzuordnen sind, wenngleich es sich nicht immer um die volle Ausprägung der Burnout-Syndrome handelt. Auch lässt sich nachweisen, dass bereits junge Kollegen stark betroffen sind, dass es sich hierbei also nicht um ein altersspezifisches Phänomen handelt. Insgesamt bleibt die Rate der belasteten und betroffenen Lehrer in etwa über die Jahre gleich hoch, was - angesichts des im Lehrerberuf relativ hohen Anteils frühzeitig ausscheidender Kollegen - für eine Zunahme der Problematik mit steigendem Alter spricht (Schaarschmidt et al 2003, 15). Einige psychosomatische Kliniken haben bereits spezielle Behandlungskonzepte für diese „multidimensionale Problemsituation“ (Hubrig/Herrmann 1997, 159) der Lehrer entwickelt, die sich in einer Reihe mit gravierenden Indikationen wiederfinden:

Abb. 2-2: Werbezettel der psychosomatischen Klinik Heiligenfeld in Bad Kissingen (Auszug, o.J.)

Auch die Titel von Büchern zum Thema Schule haben sich über die Jahre verändert. Als Kahl 1983 sein Buch „Schule überleben“ nannte, bezog sich der Titel noch auf Schüler. 1989 bot Miller dann unter dem Titel „sich in der Schule wohlfühlen“ hilfreiche humanistisch geprägte Wege für Lehrer zur Entlastung im Schulalltag34. Er arbeitete auch mit bei einem Buch im Jahr 2000, dass unter dem Titel „Stressmanagement für Lehrer“ Professionalisierungsmöglichkeiten und –notwendigkeiten offerierte.35 Fast zeitgleich erschien aber auch schon ein Buch mit dem Titel „Überleben in der Schule“, der sich nunmehr auf Lehrer bezog (Münz, 1999).

▼ 13 

Im Folgenden Kapitel soll untersucht werden, welche Reaktionen staatlicherseits auf die beschriebenen Veränderungen vorgenommen werden. Insbesondere seit der Diskussion um die Pisastudie ist Bewegung in die Schulpolitik in Deutschland gekommen.

2.2 einige staatliche Maßnahmen

Angesichts wichtiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen muss der Staat versuchen, Schule zu modernisieren bzw. mit den anderen Systemen kompatibel zu halten. Außerdem ist es Aufgabe des Arbeitgebers, auch im Interesse der Schüler für verträgliche und gute Arbeitsbedingungen für Lehrer zu sorgen (Kretschmann/ Lange-Schmidt 2001, 25), die heute anderen Herausforderungen gegenüber stehen als vor dreißig Jahren. In diesem Kapitel wird zunächst untersucht, in welcher Art die getroffenen und diskutierten Maßnahmen in den verschiedenen Bundesländern sind und in welche Richtung diese gehen. Anschließend wird die Situation in dem Bundesland betrachtet, in dem die im Rahmen dieser Dissertation durchgeführte Fortbildung stattfand, nämlich Hessen.

Die Maßnahmenvielfalt in den diversen Bundesländern ist groß und relativ unübersichtlich. Die folgende Übersicht beansprucht keine Vollständigkeit, sie will vielmehr einige Formen und Richtungen (bundes)staatlicher Reaktionen erfassen und kurz skizzieren36. Während die Parteien heftig darüber diskutieren, welche Schulform die angemessenste ist, wurde das Gymnasium flächendeckend auf acht Jahre verkürzt, bei vollen Stundenplänen und der Möglichkeit (in Nordrhein-Westfalen), die Sechs-Tage-Woche einzuführen (Schultz 2007). In vielen Bundesländern wird momentan faktisch außerdem aus einem dreigliedrigen Schulsystem ein zweigliedriges gemacht. Es erfolgt eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschule bzw. von Real- und Gesamtschulen unter unterschiedlichen Namen37 oder eine Umwandlung von Hauptschulen in Ganztagsschulen38.

▼ 14 

Nicht nur Schulformen, auch Schulen und Klassen werden von den Bildungsministern zusammengelegt (Schultz 2006b). Außerdem soll die Eigenverantwortung der Schulen gestärkt werden, das betrifft nicht nur die Erstellung von Schulprogrammen sondern zunehmend auch eine eigene Personalauswahl. Auch die vorschulische Sprachförderung zum Zwecke der Integration spielt eine wichtige Rolle. Sachsen hat eigene Vorbereitungsklassen für Ausländerkinder eingerichtet, die Familien werden beraten und die Kinder sprachlich gefördert, überdies wird jedes Jahr ein Schülerstipendium an begabte Zuwandererkinder vergeben (Burtscheidt 2006). Baden-Württemberg will die Integration in Problembereichen mit dem Ausbau der Ganztagesbetreuung und einem Pflichtjahr im Kindergarten erreichen.39 Die Stärkung und der Ausbau der Ganztagsbetreuung, teilweise mit Mitteln des Bundes unterstützt, ist ebenfalls eine wichtige bundeslandübergreifende Entwicklungsrichtung. Verschiedene Bundesländer fördern mittlerweile auch die Kooperation zwischen Schulen, Polizei und Jugendstaatsanwaltschaft (SZ 21.4. 2006) und passen die Lehramtsstudiengänge an die Bachelor- und Master-Strukturen an (SZ vom 3.5.2007). Eher in den Medien diskutiert als bereits durchgesetzt wird die Einführung von Schuluniformen (Schultz 2006d).

Daneben gibt es bundeslandspezifische Entwicklungen. In Bayern bspw. können Störenfriede künftig vom Unterricht ausgeschlossen werden und Kinder mit nur geringen Deutschkenntnissen dürfen nicht mehr eingeschult werden. Nordrhein-Westfalen plant, das Sitzenbleiben abzuschaffen und Fördermaßnahmen zu erhöhen.40 Sachsen-Anhalt investiert verstärkt in den Schulbau. Das Saarland hat eine „Elternschule" gestartet, zusammen mit der Erwachsenenbildung der Kirchen und den Volkshochschulen bietet das Land Themenabende an.

Auch von der Politik oder der Wirtschaft einberufene Expertengruppen machen Vorschläge. Eine von der nordrhein-westfälischen Landesregierung beauftragte Expertenkommission41 warnt, die Aufteilung in eine erste (universitäre) und eine zweite Ausbildungsphase (Referendariat) müsse beibehalten werden (SZ 3.5.2007). Ein 2005 auf Initiative der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hin gegründeter Aktionsrat42 rät, alle Schulen sollten (nach niederländischem Vorbild) privat geleitet und die Lehrer nur noch befristet angestellt werden. ‚Privat’ bedeutet in so einem Modell nicht, dass die Schulen profitorientiert wirtschaften und sich auf die Elitenförderung konzentrieren sollen. Privat würde vielmehr heißen: zivilgesellschaftlich und gemeinnützig organisiert, aber weiter staatlich gefördert und gefordert (SZ 08.03.2007).

▼ 15 

Einige der genannten Maßnahmen beziehen sich auch auf Hessen.43 So wurde hier ebenfalls die vorschulische Sprachförderung verstärkt.44 Weniger Ganztagesangebote aber eher nachmittägliche Betreuungsmaßnahmen in Schulhäusern erhielten Geld. Schon seit längerem sind Schulprogramme zur eigenen Schwerpunktsetzung der Schulen Pflicht, die intern evaluiert werden soll(t)en, woraus momentan die Schulhäuser wiederum Fortbildungspläne erstellen müssen. Nach Einreichung haben Sie Anrecht auf ein Schulbudget zur Fortbildung. Eine Jahresstundentafel soll zukünftig den Schulen mehr Flexibilität für den Stundenplan bringen, und Bildungsstandards mehr Flexibilität innerhalb der Ausgestaltung der Fächer. Die Eigenverantwortung der Schulen soll zukünftig auch durch die zunehmende Möglichkeit der eigenständigen Personalauswahl verstärkt werden sowie durch eigene Budgetierung. Regelmäßige Mitarbeiter(jahres)gespräche sind bereits – zumindest nominell – eingeführt.

Neben solchen Maßnahmen der Stärkung der Eigenverantwortung der Schulhäuser wurden von der hessischen Landesregierung auch Maßnahmen beschlossen, die die Eigenverantwortung der Schulhäuser und der in ihnen Arbeitenden deutlich begrenzen. Die Fortbildungsplanverpflichtung wurde verbunden mit einer neu eingeführten Fortbildungspflicht für Lehrer. Die geforderte interne Evaluation wird mittlerweile begleitet von einer externen Schulevaluation (‚Schulinspektion’). Dem von den Schulhäusern selbst zu gestaltenden Schulprofil (ca. drei Schwerpunktsetzungen im Schulprogramm sind laut Aussagen des staatlichen Schulamtes sinnvoll) wurden inzwischen vier strategische Ziele vorgegeben, die innerhalb von zwei Jahren umzusetzen waren (allerdings nicht alle Schultypen betrafen). Vergleichsarbeiten und Landesabitur bzw. zentrale Abschlussprüfungen im Haupt- und Realschulbereich sind ebenfalls eingeführt worden; Schulleiter müssen sich zu schlechten Ergebnissen gegenüber den kontrollierenden staatlichen Schulämtern äußern. Und schulhausintern bekommt der Schulleiter mehr Macht dadurch, dass seine Funktion als Vorgesetzter gesetzlich festgelegt werden soll (und nicht mehr nur per Verordnung). Auch jederzeitiger Unterrichtsbesuch durch den Schulleiter als Vorgesetzter wird ausdrücklich betont.

Außerdem wurden kleinere (insb. Grund)Schulen geschlossen. Schulen müssen eine höhere Stundenabdeckung erreichen, wozu ihnen auch nicht-ausgebildete Aushilfskräfte bezahlt werden (‚Unterrichtsgarantie plus’). Mittelfristig geplant sind außerdem, den Stundenumfang der Lehrer gemäß den Anteilen an unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Tätigkeiten festzusetzen und eine Regelbeurteilung einzuführen, deren Kopplung an Gehaltsunterschiede innerhalb des Schulhauses noch offen ist. Begleitet wurden diese Maßnahmen außerdem von einer Stundenerhöhung für Lehrer bei (nicht nur relativer sondern absoluter) Gehaltsreduzierung.

▼ 16 

Die Landesregierung fasst diese Maßnahmen unter der Überschrift „Stärkung der Eigenverantwortung – Schlüssel zur Qualität“ wie folgt zusammen:

Abb. 2-3: Masterplan. Reformen der hessischen Landesregierung. (Hess.Kultusministerium 2006a).

Die beschriebenen Maßnahmen erfahren Kritik unterschiedlicher Couleur, auf die im nächsten Kapitel eingegangen werden soll, bevor in Kap.2.4 erste Chancen und Ressourcen dargestellt werden, die in der gegenwärtigen Situation beschrieben und beschritten werden können.

2.3 Kritik

▼ 17 

In diesem Kapitel sollen die Maßnahmen der Landesregierungen (und auch hier wieder insb. der Landesregierung des Bundeslandes, in dem die Fortbildung stattfand) kritisch beleuchtet werden. Zunächst wird eher allgemeinere Kritik wiedergegeben, danach sollen einige Aspekte speziell aus systemisch-konstruktivistischer Sicht beleuchtet werden. Dieser Kritik ist bewusst, dass Schule weder gesellschaftliche noch familiäre Probleme kompensieren kann: „Erstaunlich aber ist die verbreitete naive Suggestion, die Schule habe das uneingeschränkte Potenzial, die Defizite auszugleichen, die durch die unterschiedliche, teilweise sehr mangelhafte Förderung von Kindern in ihrem privaten und sozialen Umfeld erzeugt werden“ (Bauer 2007c, 119). In diesem Sinne ist die kommende Kritik zu relativieren.

2.3.1 allgemeine Kritik

Im Folgenden sollen einige zentrale Kritikpunkte an der gegenwärtigen Schulpolitik zunächst aus einer allgemeinen Sicht45 wiedergegeben werden. Es handelt sich auch hier nicht um einen vollständigen Überblick sondern abermals um eine beispielhafte Darstellung. An ihr wird deutlich, dass die allgemeine Kritik i.d.R. bemängelt, dass die bildungspolitischen Reformen nicht wirklich strukturelle Unterschiede darstellen bzw. die Voraussetzungen hierfür gar nicht erst schaffen.46 Eine sehr grundlegende und häufige Kritik, die sich die deutsche Schulpolitik gefallen lassen muss, ist, dass sie vergleichsweise zu geringe Bildungsausgaben tätigt, wie bereits in Fußnote 32 auf S.21 beschrieben. Ähnliches gilt auch für die Familienpolitik. Die geringen Ausgaben sowie immer wieder vorkommende negative Beurteilungen von Lehrern durch Politiker können als politisches Signal verstanden werden (Bußmann 2006)47, dass beide Sektoren dem Staat vergleichsweise wenig wert sind, dass es hier eher um verwaltende als investive Ausgaben geht. Neben der mangelnden finanziellen Ausstattung des Bildungssystems und der Schulen wird auch die mangelnde Koordination der Bundesländer in der Bildungspolitik und das Fehlen einer bundesweiten Strategie beanstandet48, die zu einem Verlust an Synergien führen (Schultz 2006e). Außerdem wird betont, dass Lehrer nur gut sein können, „wenn man auch gut mit ihnen umgeht. Das betrifft ihr öffentliches Ansehen, das betrifft die Investitionen in ihre Ausbildung“ (Struck 2004, 167) und Weiterbildung. Anzumerken ist freilich, dass mehr Geld nicht automatisch zu mehr Qualität und Gerechtigkeit führt. Es ginge dafür auch um grundlegende strukturelle Reformen.

Was die Chancengleichheit betrifft, so wird gerügt, dass die Bildungsausgaben falsch verteilt würden: Gerade die Schularten mit den größten Problemen, die Grundschulen und der Sekundarbereich eins, erhalten besonders wenig Geld (Finetti 2006). Außerdem stellen Kindergärten und Grundschulen einen Lebensabschnitt der lernenden Kinder dar, in dem das Gehirn sich wesentlich stärker ausbildet als in Oberstufe und Studium, weshalb hier Bildungsausgaben angebrachter sind (Kahl 2006). Auch werde die gesellschaftliche Benachteiligung von Rand- (und insb. Migrations-)Gruppen in der Schule reproduziert, so nach der PISA-Studie auch ein UN-Bericht vom März diesen Jahres, was eher „die Abwehrreflexe deutscher Bildungspolitiker“ wecke (SZ-Online 21.03.2007).49 Eine Politik gegen die Vererbung sozialer Nachteile müsse bereits im Kindergarten ansetzen50 und die Arbeitsbedingungen nicht nur der Schüler sondern auch der Lehrer verbessern. Zwar wird die vorschulische Sprachförderung mittlerweile in etlichen Bundesländern gestärkt, aber dies wird häufig begleitet von Kürzungen an anderen Etatstellen, - z.B. in Hessen bei Erziehungsberatung, Betreuung ausländischer Familien und Anti-Gewalt-Projekten (SZ 21.4.06). Es geht auch um die Effektivität der Schule: Noch immer nimmt „ein Großteil jeden Jahrgangs [...] aus der Schule nichts von dem mit, was einen Menschen fit fürs Leben macht: Selbstvertrauen und Motivation, fachliches Basiswissen sowie soziale und emotionale Kompetenz“ (Bauer 2007c, 11).

▼ 18 

Die Parteien diskutieren viel über die angemessenste Schulform. Es lässt sich aber zeigen, dass diese Diskussion eher wenig relevant ist. Nach OECD-Studien haben gegliederte Schulsysteme ebenso wie Gesamtschulen Vor- und Nachteile, ohne dass diese Studien für eines der beiden Systeme eindeutig überwiegende Vorzüge oder Defizite nachweisen würden. Deutlich stärker als die Art des Schulsystems wirkt sich das Ausmaß der privaten Förderung eines Kindes im Zusammenwirken mit der konkreten Qualität des Unterrichts auf den Bildungsweg des Kindes aus (Bauer 2007c, 116). „Es gibt mehrere Arten, eine gute Schule zu machen“ (Bauer 2007c, 113). Im übrigen stellt die bloße Zusammenlegung von Haupt- und Realschule bzw. von Real- und Gesamtschulen noch nicht eine Unterstützung für Hauptschüler dar. Der Vorschlag der Präsidentin51 der Kultusministerkonferenz 2006, das Sitzenbleiben abzuschaffen, ist u.a. finanziell motiviert52, unterstellt ihr die SZ (12.6.06).

Die Verkürzung der Schulzeit der Gymnasien auf acht Jahre besitzt keine pädagogische Vision: „Einen de facto ganztägigen Unterricht abzuspulen, ohne Freiräume für Projektarbeit und ein Mehr an Muße zu gewähren, wie es echte Ganztagsschulen tun, gefährdet die Gesundheit der Kinder“ (Schultz 2007).

Die oben bereits angesprochene Zusammenlegung von Klassen dient ebenfalls der Einsparung von Geldern. Damit wird eine wichtige Chance postmoderner Bildung: kleinere Klassen, die eine angemessenere Begleitung ermöglichen, verhindert: „In den kommenden Jahren gehen die Schülerzahlen stark zurück [...]. Endlich kann es gelingen, mehr Pädagogen für weniger Schüler einzusetzen, jeden einzelnen Jugendlichen besser zu fördern [...].Voraussetzung dafür wird jedoch sein, dass nicht die Finanzminister das Geld kassieren, das durch sinkende Schülerzahlen frei wird. Die Demografie-Dividende muss Schulen [...] zugute kommen“ (Schultz 2006f).

▼ 19 

Außerdem wird die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen kritisiert. Durch diese würden die Ausbildungsinhalte noch mehr festgezurrt. Für innovative Lehrmethoden bliebe da kaum Platz (Meyer 2006). Auch die Einführung von Bildungsstandards bleibt in Hessen sehr nah an den alten Lehrplänen, die Überfrachtung wird nicht aufgehoben. Und die inhaltliche Vorgaben für das dort neu eingeführte Zentralabitur weichen teilweise53 von den (Entwürfen der) Bildungsstandards ab.

Die eingeführten Jahresmitarbeitergespräche sind – zumindest in Hessen - widersprüchlich. Sie dürfen momentan nicht leistungsbezogen durchgeführt werden, die geplanten Regelbeurteilungen und u.U. Gehaltskopplungen sollen erst noch kommen. Die Handhabung der Jahresmitarbeitergespräche weicht von der in der Wirtschaft üblichen ab54, auf ausgefeiltere Konzepte für den bürokratischen Sektor (Thom/Ritz 2000) wird wenig zurück gegriffen.

Die Einführung einer Fortbildungsverpflichtung ist in Hessen gekoppelt an die Abschaffung des bisherigen Lehrerfortbildungsinstituts und seiner teilweise landesweiten Projekte und an die verzögerte Einführung eines minimalen Fortbildungsbudgets für Schulen. Der Fortbildungsmarkt ist völlig unübersichtlich. Auch die Einführung von Vergleichsarbeiten und Schulinspektionen wird vielfach von Lehrern als Ausdruck steigender Kontrolle der Kultusbürokratie angesehen. Ohnehin wird beklagt, dass sich das Mittel ‚Druck’ in den letzten Jahren zunehmend zu einem Instrument der Kultusbürokratie entwickelt habe (Bauer 2007c, 43). Sein Erfolg kann angezweifelt werden: Dass Druck kaum Anreize gibt, wenn nicht demotivierende Wirkung besitzt, ist Pädagogen gut bekannt. Die genannten Mess- und Kontrollsysteme „haben die Tendenz, zu parasitären Apparaten zu werden, [...von] denen sich viele Zaungäste ernähren, ohne letztlich die Einrichtung zu stärken, die sie evaluieren und kontrollieren sollen“ (Bauer 2007c, 120). Nachweisbar haben in den USA sich Schülerleistungen in als vergleichsweise schlecht eingeschätzten Schulen auch durch „flächendeckende Leistungstests sowie Sanktionen gegen erfolglose Schüler“ nicht verbessert, da entsprechende Unterstützungsmaßnahmen fehlten (Schultz 2006c).55

▼ 20 

Die Einführung des Projekts „Unterrichtsgarantie Plus“ in Hessen, das zur tatsächlichen Abdeckung der Stundentafel es vorsieht, Unausgebildete unterrichten zu lassen, schädigt das Ansehen der Lehrer weiter, da suggeriert wird, dass jeder ohne Ausbildung unterrichten könne. Die Abwertung der pädagogischen Arbeit zeigt sich in Hessen auch in einer Stundenerhöhung für Lehrer bei nicht nur relativer sondern absoluter Gehaltsreduzierung. Die hessische Bewegung in Richtung Ganztagsschule erschöpft sich überwiegend in nachmittäglichen Betreuungsmaßnahmen mit wenig geschulten oder ehrenamtlichen Kräften. Außerdem wirft der Rechnungshof Bundesländern Missbrauch von Bundesmitteln beim Ganztagsschulprogramm vor (SZ-Online 10.05.2006).

Bemühungen um Kooperation zwischen Schulen, Polizei und Jugendstaatsanwaltschaft lassen sich ausdrücklich begrüßen. Während in anderen Branchen angesichts der vor sich gehenden Wandlungsprozesse und Change-Management-Notwendigkeiten Einzelkämpfer eher ausgedient haben (Martin/ Schuster 2005, 26), gilt dies für den Lehrberuf noch eher weniger.56 In Hessen wurde aber zugleich das über 200 Schulen umfassende Gewaltpräventions- und Mediationsprojekt beendet. „Der Appell von Bundesbildungsministerin Annette Schavan, Netzwerke für Brennpunktschulen zu bilden, ist richtig - und heuchlerisch. Er schiebt die Kosten privaten Initiativen, Ländern und Kommunen zu“ (Schultz 2006g). Auf die ebenfalls herausragend wichtige Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern (Bauer 2004a, 1) reagierte Hessen mit der Beendigung eines weiteren landeseigenen Schulprojekts (‚Schule und Elternhaus’).

Auch der unausgewogene Generationen-Mix der Lehrerschaft wird bemängelt (Schweitzer 2005, 81). Dieser könnte interessant werden, wenn man den Thesen Kuhns (2002) folgen möchte, dass Wandel durch das Aufkommen neuer Generationen geschieht, wobei diese dann ihre eigene neue Theorie und Praxis mitbringen. Angesichts der Überalterung der Kollegien könnte dann für die nächsten zehn Jahre mit einem wesentlichen Paradigmenwechsel gerechnet werden. Dieser könnte sich in Richtung der systemisch-konstruktivistischen Sichtweise ereignen, die zunehmend in therapeutischen und beraterischen sowie sozialpädagogischen Bereichen Fuß gefasst hat und seit einigen Jahren auch für die schulische Pädagogik wichtige Impulse beisteuert. Bauer deutet dies an, wenn er beklagt: „Das Problem der Schule liegt nicht im Fehlen von Standards, sondern in der Unmöglichkeit, im Unterricht eine Situation herzustellen, die Lernen möglich macht und begünstigt. Der psychologischen Qualifikation und persönlichen Eignung von Lehrern muss daher bereits in der Ausbildung ein höherer Stellenwert zuerkannt werden“ (Bauer 2004a, 1). Hier wird deutlich, dass dieser Ansatz – zumindest in Teilen - an ganz anderen Aspekten ‚ansetzt’ als die gegenwärtige Schulpolitik.

2.3.2 systemische Kritik

▼ 21 

Wenngleich sich eine systemische Kritik bei etlichen der oben genannten Punkte anschließen kann, bietet sie auch eigene Aspekte, die hier vorgestellt werden sollen. Auffällig an der gegenwärtigen Schulpolitik ist der massive Widerspruch des gleichzeitigen Einführens von Maßnahmen unterschiedlicher Logiken und Prämissen. Einige Maßnahmen folgen der Logik fremdbestimmbarer, gezielt steuerbarer Systeme, andere parallel laufende Maßnahmen folgen der Logik selbstorganisierender Systeme: Einige Maßnahmen beruhen auf Prämissen von Ordnungssystemen, andere parallele auf davon abweichenden Voraussetzungen von Belohnungssystemen (Kap.8.4.2). So produziert die Kultusbürokratie neben Freiräumen für Schule (deren Umfang und Art momentan wenig einzuschätzen sind) auch einen permanenten Double-Bind. Da obendrein mit der Kultusbürokratie keine Metakommunikation erfolgt bzw. erfolgen kann (sie ist von dem noch aus der Moderne stammenden System nicht vorgesehen), finden sich Schulleiter, Kollegien und Schulhäusern in stark widersinnigen Situationen wieder.57 Double-Bind–Situationen, die nicht meta-kommunikativ abgeklärt werden können, gelten als gesundheitsgefährdend.

Haselbeck (2006) wirft – etwas pauschal - den Politikern vor, sich auf veraltete Studien zu berufen: „Viele dieser Untersuchungen sind allein auf den Aspekt der kognitiven Leistung ausgelegt. Es reicht aber nicht aus, immer nur nach Noten zu fragen. Es geht ja nicht der Kopf allein zur Schule, sondern der ganze Mensch. Lehrern und Schülern ist es wichtig, dass sie gut miteinander auskommen und gemeinsam erfolgreich lernen können.“ Hier geht es um die Kritik, dass die Logiken von Lernbedürfnissen und bildungspolitischen Lernimperativen auseinander gehen (Siebert 2005a, 64). Betont wird vielmehr der Aspekt der Beziehungsgestaltung: „Die gesamte Schulsituation hat sich grundlegend geändert. Kinder sind heute einer Flut von Reizen und Informationen ausgesetzt, sie sind unruhiger und mehr egozentrisch ausgerichtet. Deshalb brauchen sie eine stärkere individuelle Förderung sowie neue Wertbezüge und Lerninhalte, die ihnen in einer unsicheren Welt Orientierung bieten“ (Haselbeck 2006). Gleichzeitig produziert das soziale System Schule „eine Belastung für die psychischen Systeme der Lehrer und Lehrerinnen, der für viele und immer häufiger eine auftragsgemäße Erfüllung der primären Systemfunktion, nämlich die erfolgreiche Organisation der Lernprozesse, unmöglich macht“ (Huschke-Rhein 1998ba, 140). Diese Sichtweise konstatiert eine „interaktionelle Krise in der Schule“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 15, Hvg.R.M.). Es geht aber auch um grundlegende Erzählungen, auf denen die westliche Gesellschaft beruht, die dabei sind, sich zu verändern, und die die jetzige Schulpolitik kaum bis gar nicht einfängt: Gergen (2006, 25) merkt an, „dass wichtige Grundannahmen [wie Wahrheit, Objektivität, Priorität rationalen Denkens], auf denen überwiegende Teile unserer Bildungspraxis beruhen, in Vielerlei Hinsicht nicht zur Verminderung von Konflikten beitragen, sondern zu ihrem Bestehen.“

Die Kritik aus systemisch-konstruktivistischer Sicht gelangt so relativ schnell zu dem Schluss, dass die weiter oben beschriebenen kultusbürokratischen Reformversuche im Bereich der Lösungen erster Ordnung verbleiben: Sie verlaufen innerhalb der Systemlogik staatlicher Bürokratien, die auf Standardisierung setzen und Schüler zu „Trivialmaschinen“ (Werning 2003, 125) reduzieren: mehr Leistungsanforderung, Selektion und Sanktion (Jäpelt/Schildberg 2000, 125). „Im deutschen Bildungssystem stehen keine strukturellen Lösungen in Aussicht“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 99). Auch für die Schule gilt, dass sich „die Halbwertszeit der angestoßenen Lern- und Veränderungsprozesse [...] in vielen Organisationen in den letzten Jahren enorm verringert, dafür die Zahl der begonnenen Maßnahmen sehr erhöht“ hat (G.Schmidt 2004a, 418).

▼ 22 

Das, was unternommen wird, verbleibt also im quantitativen Bereich der Lösungen erster Ordnung nach dem Motto ‚mehr desselben’58: Die Kultusbürokratien machen „im Gefolge der Pisastudie nur das, was alle Bürokratien gerne tun: Es werden neue Leitlinien und Standards festgelegt, was Schüler in einer bestimmten Stufe lernen sollen. Es ist aber nicht so, als wenn die [...] Lehrer das bisher nicht wussten. Das Problem der Pädagogen besteht darin, dass sie diesen Lehrstoff in der kurzen Zeit des Vormittags und trotz Störungen von Schülerseite vermitteln müssen“ (Bauer 2007a, 88). Graf (2006, 93) kritisiert, dass der PISA-Schock lediglich zu „Lippenbekenntnissen zur schulischen Umgestaltung vor dem Hintergrund leerer Kassen“ geführt habe.

Vielmehr muss sich postmoderne Pädagogik in einer unsicher gewordenen Welt als „Reflexionstheorie pädagogischen Handelns“ (Lindemann 2006, 21) verstehen. Nur so kann sie

▼ 23 

Abb. 2-4: erweiterter Bildungsbegriff (Arnold 2005a, 205)59

In diesem vierten Punkt sind die zuvor genannten mit enthalten. Auch wenn im Verlauf der Arbeit immer wieder auf Fragen der pädagogischen Beziehungsgestaltung zurück zu kommen sein wird, soll bereits an dieser Stelle dieser Aspekt der Kritik ein wenig weiter ausgeführt werden. Der Medizinprofessor und Psychotherapeut Joachim Bauer, Leiter des ‚Instituts für Gesundheit in pädagogischen Berufen’, hat genau diesem Forschungsgegensatnd in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit geschenkt: Er gibt zu bedenken, dass der Lehrberuf ein Arbeitsumfeld darstellt, „in dem es fast ausschließlich um Beziehungen geht. [...Der Lehrer] muss mit einer Klientel, die er sich nicht ausgesucht hat, gute und erfreuliche Beziehungen gestalten und zwar so, dass zusätzlich noch das eigentliche Ziel erreicht wird: Wissen zu vermitteln“ (Bauer 2004b, 34). Nur wenige Berufe erforderten eine derart vielseitige Kompetenz wie die des Lehrers. „Zu ihr gehören fachliches Können, starke persönliche Präsenz und Ausstrahlung und flexibles Reagieren auf sich ständig verändernde Situationen genauso wie intuitives Gespür, Verständnis für völlig unterschiedliche Schülerpersönlichkeiten, Widerstandskraft, Geschick bei atmosphärischem Gegenwind und – vor allem – Führung“ (Bauer 2007c, 51). Übersehen würde häufig, dass die Gestaltung des schulischen Beziehungsgeschehens Voraussetzung für eine erfolgreiche Stoff- bzw. Wissensvermittlung sei, weshalb „schulische Beziehungsabläufe zwischen Lehrern untereinander, Lehrern und Schüler, aber auch Eltern und Lehrern zu einem Stressfaktor geworden sind“ (Bauer 2004a,2; Hvg. i.Org.): „Schulen scheitern daran, dass es Lehrern [...] über weite Strecken nicht mehr gelingt, eine Unterrichtssituation herzustellen, die erfolgreiches Lehren und Lernen überhaupt ermöglicht“ (Bauer 2007c, 11f). Erschwert wird dies auch dadurch, dass es an den meisten Schulhäusern keine etablierte Konfliktmanagementkultur mit klaren Zuständigkeiten und Abläufen gibt. Dann geraten Lehrer im Schulalltag in als hilflos erlebte Situationen, in denen ein Rückgriff auf formale Machtausübung hilfreicher zu sein scheint als pädagogische Konfliktlösungen (Singer 2007, 85).

▼ 24 

Für Bauer liegt der entscheidende Ansatz zur Reform der Situation an den Schulen dementsprechend „in Hilfestellungen, die zu einer Verbesserung der innerschulischen Beziehungsgestaltung führen. Angesichts einer verheerenden Situation bei der Schülergesundheit und eines wachsenden Anteils verhaltensgestörter Schülerinnen und Schüler muss die Qualifikation von Lehrerinnen und Lehrern verbessert werden, mit schwierigen psychologischen Situationen umzugehen" (Bauer 2004a, 1). „Eine Verbesserung der Unterrichtsqualität muss [...] ausdrücklich Einstellungen und Haltungen der Lehrperson einbeziehen"(Hubrig/ Herrmann 2005, 95). Lehrende müssen Halt und Haltung vermitteln (Arnold 2007), sie „brauchen Unterstützung und Hilfe bei der Entwicklung von Handlungsalternativen zu ihren starren Rollenmustern" (Juul zit.n. Gründler 1998, VI). So gesehen, ist es ein „unverantwortliches Versäumnis, dass die Wissenschaften vom Menschen in der Lehrerausbildung kaum eine Rolle spielen" (Singer 2007, 85). Satt dessen wird jungen Lehramtskandidaten [...] oft vorgegaukelt, dass das Unterrichten linear, leicht, erfolgreich und begeisternd zu verlaufen habe" (Oser/ Spychiger 2005, 17).

Währenddessen scheinen die oben geschilderten „pädagogischen Reformen [...] die Lehrer auf den Status von unteren Angestellten zu reduzieren, [...] deren Hauptfunktion darin besteht, Reformen durchzuführen, die von Experten auf den oberen Ebenen der staatlichen und erzieherischen Bürokratie beschlossen wurden" (Aronowitz/ Giroux 1991, 33, zitiert nach Gergen 2003, 71). Lehrern werden so ihre pädagogischen Fähigkeiten aberkannt, wenn sie wie Techniker behandelt werden, die vorgefertigte Pläne umsetzen sollen (Gergen 2003, 71). Die viel diskutierte PISA-Studie 60 übrigens geht auf die soeben angesprochenen Themen nicht ein. Tatsächlich kann sie „zu den sozialen Aspekten des Lernens, darüber wie die Schüler ihre Lehrer und deren Unterricht emotional erleben, wie Lernerfolg mit der Lehrer-Schüler-Beziehung zusammenhängt, aufgrund ihrer rein kognitiven Fragestellungen leider keine Aussage machen“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 92).61

Wenn die Themen Beziehungsgestaltung, Interaktion und Kommunikation bisher wenig im pädagogischen Blick waren, kann es auch nicht erstaunen, dass Verantwortung für das Personal sowie für Personalentwicklung auf dem Gebiet der Gesundheit und der Gesundheitsvorsorge für Lehrer in Deutschland als weitgehend unterentwickelt gilt – und zwar sowohl von staatlicher Seite wie von Lehrerseite (U.Herrmann 2005).62 Ergebnis ist, „dass die Verantwortung für das Gelingen und auch Misslingen von Lehrerbildung auf diejenigen verlagert wird, die Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen anbieten“ (Völkel/ Völkel 2005, 233f).

▼ 25 

Das Fazit aus der kritischen Betrachtung gegenwärtiger schulpolitischer Maßnahmen legt die Vermutung nahe, dass der derzeitige Schulbetrieb „ein Auslaufmodell mit wenig Effizienz, dafür aber mit einem hohen Verschleiß aller Beteiligten“ (Bauer 2007a, 88) ist. Es ist eine aus dem Industriezeitalter stammende Schule, die in postmodernen Zeiten zu arbeiten versucht. Das muss schulische Pädagogen aber nicht hindern, nach „Strategien und Alltagspraktiken [...zu suchen], die sie selber aus eigener Kraft mit ihren Schülern und ihren Kollegen erfolgreich umsetzen“ können (U.Herrmann 2005). Ziel von Veränderung bei einem solchen Vorgehen sind eher „innerer Landkarten“ als das direkte Einwirkungen auf eigenes oder fremdes Verhalten. Es geht hier zunächst weniger um einen Wandel von Verhaltensmustern als der Epistemologie, aus der Handeln entspringt. Es geht dann um die Frage, welche Anregungen und Impulse für selbstreferenzielle Systeme, die heute ‚Schule machen’, hilfreich sein können. Hierfür gibt es einige Anhaltspunkte über Chancen und Ressourcen.

2.4 Chancen und Ressourcen

Die geschilderte Sicht der gegenwärtigen Situation muss ihren Fokus nicht notwendig auf den eher unflexiblen bürokratischen Rahmen von Schule und seine häufig inadäquaten Bedingungen richten (bzw. auf ihm belassen). Die Berücksichtigung von Kontexten für wichtig zu halten, bedeutet (auch bei Schule als einem konservativen System) nicht notwendig, deren Unveränderbarkeit hinzunehmen. Vielmehr ermöglicht eine stimmige Kontextberücksichtigung es den einzelnen Lehrern und Schulhäusern, aufgrund der Kenntnis der Regeln und Funktions-

weisen des Kontextes schon jetzt gezielt in machbaren Dimensionen und angemessenen Vorgehensweisen auf Veränderung hinzuarbeiten. Dabei verlangt die skizzierte Entwicklung – analog zu Veränderungen im gesellschaftlichen und im wirtschaftlichen System – auch von schulischen Pädagogen zunehmend, die eigene Komfort- und Sicherheitszone zu verlassen (Martin/ Schuster 2005, 118). Schule als Prozess des Unterrichtens befindet sich vermutlich in einem Übergangsstadium zwischen moderner und postmoderner Ausformung. Reinhard (2003, 297) konstatiert „dass wir in unser pluralen Kultur inzwischen einen merkwürdigen Zwischenstand erreicht haben [...], in dem einerseits das auf hierarchischen Annahmen basierende ‚Wissen’, dieses ‚Ich weiß, was (für dich) gut und richtig ist!’ nicht mehr passt, aber noch ständig handlungsleitend gelebt wird, in dem andererseits neue Wege eines demokratischen Lernens [sich abzeichnen, R.M.] allerdings noch wenig gekannt bzw. beschritten werden.“

▼ 26 

Es kann also eine „gegenwärtige Schulmisere (die wahrscheinlich ja eine allgemeine Erziehungskrise ist)“ festgestellt werden. Dies bietet, bei einem ressourcevollen Blick, „auch eine Chance: Die Grundlagen erzieherischer Konzepte können überdacht werden und alternative Formen erzieherischen Praxis erprobt werden“ (Retzer/Simon 1998, 4). Die entscheidenden Personen hierfür sind die einzelnen Lehrer (Huschke-Rhein 1998a, 69). Ihnen stehen – auch bei dem derzeitigen Rahmen – zwei grundlegende Arten von Veränderungsmöglichkeiten offen, nämlich die Veränderung:

Erste Hinweise über ‚gesundheitlich erfolgreiche’ Lehrer lassen sich in der Fachliteratur finden (z.B. U.Herrmann 2005; Bauer 2007b). U.Herrmann (2005) berichtet von Lehrern, die „bei sich selber und mit sich selber angefangen [haben], ihre Situation und ihre Befindlichkeit zum Positiven hin zu verändern. Damit war manchmal auch ein Schulwechsel verbunden.“ Die sich selber als gesund und berufszufrieden bezeichnenden Lehrer machten dies an folgenden Punkten fest:

▼ 27 

Auch Bauer (2007c,78) verlangt „ein praktisches, anwendbares Wissen darüber, worauf es in der Klasse ankommt: ein Wissen über Gestaltung von Beziehungen, über die Art als Lehrkraft wirksam aufzutreten und die Aufmerksamkeit der Schüler zu binden, über die Fähigkeit, die in der Klasse ablaufenden dynamischen Vorgänge wahrzunehmen und auf konstruktive Beiträge wie auf Störungen angemessen und wirksam zu reagieren.“ Einige dieser Aspekte nennt Palmowski (1999c) auch als Kennzeichen des systemisch-konstruktivistischen Lehrers. Im Verlauf dieser Arbeit wird zu überprüfen sein, ob bzw. wie deratige Punkte aus den Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes folgerichtig entwickelt und in einer Fortbildung umgesetzt werden können.

Ein ressourcenorientierter Blick wird dabei auf Aspekte, die bereits nutzbar in der Schule vorhanden sind, zurückgreifen, soweit dies theoretisch konsistent möglich ist. Insbesondere haben in den letzten Jahrzehnten der Humanismus Rogerianischer Prägung und Personenzentrierung Einzug in Schule gehalten. Systemische Sichtweisen können hier vielfältige Aspekte übernehmen (insb. die Wertschätzung), vermögen aber, über die Berücksichtigung diverser situationsabhängig-relevanter Kontexte effektive „zusätzliche Handlungsmöglichkeiten oder ‚Werkzeuge’ “ im Umgang mit Schule zu Verfügung zu stellen (Palmowski 2002b,50; Hvg.i.Org.). Schulpädagogische Interventionstechniken sind, so Kreter (2005, 71f), z.B. ein ‚großes Aufgabenfeld’, das in schulinterner und schulexterner Lehrerfortbildung bearbeitet werden kann; professionelle Gesprächsführungskompetenzen müsse heute jeder Lehrer besitzen. Auch wenn psychotherapeutisches Werkzeug sicherlich „nicht unreflektiert 1:1 in die pädagogische Praxis umgesetzt werden“ kann und sollte, so vermögen wichtige Prämissen und Ideen aus (insb. der systemisch-konstruktivistischen) Beratung und Therapie über von ihnen vermittelte Denkmodelle, Haltungen und Methoden die Pädagogik anzuregen (Unterweger/ Zimprich 2001, XI).

▼ 28 

Lehrer benötigen, um aktiv Neuerungsprozesse in ihrem Berufsalltag angemessen ausprobieren, reflektieren und einüben zu können, berufsbegleitende Fortbildungen, die in einem etwas umfangreicheren aber dennoch zeitlich machbaren Rahmen neue und zeitgemäße Ideen vermitteln, so dass ergänzende Handlungsoptionen eröffnet und Freude am Beruf vermittelt werden können (Hubrig/ Herrmann 2005, 11). Schulische Pädagogen brauchen dann auch neue theoretische Fundierungen, die neuartige, erweiterte und/oder ausdifferenzierte Handlungsmöglichkeiten bieten. Es gibt, so gesehen, nichts Praktischeres als eine gute Theorie (Schumacher 2002), „weil nichts, was wir tun oder unterlassen, ohne entsprechende Theorie im Hintergrund geschieht“ (Palmowski 2003, 19).63

Wenn das zwischenmenschliche Geschehen eine zentrale Rolle in schulischer Pädagogik spielt, dann liegt hier sowohl eine Quelle (letztlich gesundheitlicher) Störungen und zugleich auch das Potenzial (letztlich gesundheitsförderlicher) Gestaltungschancen (Bauer 2004b, 34). „Eine Erweiterung des Blickwinkels und der Beratungskompetenz von [...] Lehrern auf der Basis der systemischen Orientierung wäre unter den gegebenen Umständen hilfreich, damit sie mit schwierigen Schülern und Unterrichtstörungen leichter und stressfreier umzugehen vermöchten. Entsprechende Weiterbildungen zum Stressmanagement und zur Beratungskompetenz der Lehrer wären nötig“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 99). Etliche veröffentlichte, aber nicht explizit bzw. umfassend theoretisch rückgebundene Trainingsprogramme bieten z.B. Meidinger 2000, Münz 1999, Kretschmann et al 2001. Andere Programmübersichten sind bereits nahe am systemischen Ansatz (Bauer 2007a, Hennig/Keller 1995) oder explizit systemisch basiert (Hubrig/Herrmann 1997; Jäpelt 2004a).

Die Vorteile, die der systemische Ansatz bietet, sind zum einen der explizite Blick auf Beziehung, Interaktion, Kommunikation, auf konkrete Kontexte, Spielregeln und Ressourcen von Individuen und sozialen Systemen. Zum anderen können diese Aspekte verbunden werden mit einem Blick auf das Innere des Menschen als System (z.B. als inneres Team). Dabei können Aspekte der humanistischen oder Gestalt-Psychologie übernommen werden wie Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität, Verantwortung, Gemeinschaft (Juul 2006). Wie noch zu zeigen sein wird, gehört dabei Erziehung - aus systemisch-konstruktivistischer sowie aus postmoderner Sicht - unauflöslich zu Bildung und Lehren. Mit dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz können differenzierte und komplexe psychologische Betrachtungen angestellt werden und kann der Forderung nach erhöhter Komplexität von Modellen begegnet werden. Von einer Meta-Ebene betrachtet, kann bzw. muss unter konstruktivistischen Aspekten letztlich immer das selbstverantwortliche Individuum entscheiden, welche Theorie für es in einer Situation am nützlichsten erscheint (Palmowski 2003, 53f). Der systemische Ansatz bietet darüber hinaus die Möglichkeit, der von Willke (1993, 133) behaupteten Notwendigkeit der Vernetzung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu genügen, um zu einem den postmodernen Herausforderungen angemessenen, reflektierten Handeln zu kommen (Willke 1993, 133). Büeler (2005, 135) sieht in der konstruktivistischen Systemik bereits einen Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns (2002) seit den 90er Jahren im Gange. Sicherlich richtig ist, dass die ‚stabile’ Fundierung in einer eher neuartigen Theorie neue Sichtweisen auch gegen die ‚Alltagstrance’ der Gewöhnung, auch gegen die eigene (bisherige) Erfahrung möglich macht (Palmowski 2001, 5). Nachweisbar ist, dass seit einigen Jahren pädagogische Konzepte von und Forschung über Kindheit von psychologischen Sichtweisen stark bereichert worden sind (Reich 1998c, 8). Dazu gehört zuvorderst der systemisch-konstruktivistische Ansatz mit seinen verschiedenen Prämissen und Ideen64, insb. mit jenem der Selbstorganisation.

▼ 29 

Folgt man der bisherigen Argumentation, stellt sich - angesichts der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion – die Frage: „Wie kann ein systemischer [...Pädagoge, R.M.] etwas Initiative wiedererlangen, ohne dem schon überholten, auf der Illusion von Macht und Kontrolle basierenden Modell zu verfallen?“ (Cecchin et al. 2005, 22). Und zwar unter der Voraussetzung, dass der derzeitig gegebene schulpolitische Rahmen sich momentan wenig grundsätzlich ändert. Bauer bietet hierfür drei Größen an, die ineinander greifen: Beziehungskompetenzen, sozial-kollegiale Einbettung im Schulhaussystem und die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis als Pädagoge.

Abb. 2-5: das Dreieck der Lehrergesundheit nach Bauer (2004a, 11)

Insb. wird es um die Frage gehen, mit welchen (anderen) inneren Haltungen (Hubrig/ Herrmann 2005, 18) der derzeitigen Schulwirklichkeit so begegnet werden kann, dass für den Lehrer Veränderungen angeregt werden, die ihn sich selbst insgesamt ressourcevoller erleben lassen (oder zumindest angesichts steigender Belastungen und Anforderungen bei weniger Gehalt und mehr zu leistenden Stunden nicht ressourcenärmer). Solche Haltungen sind interaktions- und metaebene-bezogen, d.h. sie betreffen den Umgang mit anderen und sich selbst aus einer reflektierten Selbstbeobachtungsposition.

▼ 30 

Damit lässt sich nunmehr eine Zielsetzung für die in der Dissertation vorzunehmende Untersuchung festlegen. Konzeption, Durchführung und Evaluation einer Weiterbildung für schulische Pädagogen in systemisch-konstruktivistischer Pädagogik und Beratung muss sich auf Haltungen beziehen, deren Veränderung nachweisbar sein muss.


Fußnoten und Endnoten

21  Im weiteren Verlauf der Arbeit werden dann systemisch-konstruktivistische Implikationen für Pädagogik in Schule systematisch entwickelt.

22  „Untersuchungen zeigen, dass Kinder unter 12 Jahren im Moment durchschnittlich noch 55 Minuten ungeteilte Zuwendung am Tag von der Mutter erhalten, vom Vater lediglich 25 Minuten. Für Kinder über 16 Jahren wenden Mütter durchschnittlich nur noch 16 Minuten, Väter nur 4 Minuten täglich auf“ (Bauer 2004b, 35).

23  Harte und fundierte Kritik äußert v.a. Spitzer (2006).

24  Georg Wolff, Psychotherapeut in einer Kinderklinik in Hannover und Begründer des ADHS-Forums und Qualitätszirkels.

25  Und an anderer Stelle: „Zu den Grundirrtümern unserer Zeit gehört die [...] Ansicht, Kinder und Jugendliche seien biologische Selbstläufer, deren Entwicklung von einem inneren genetischen Programm gesteuert werde und deren Gedeihen gesichert sei, wenn man in ausreichendem Maße für Unterkunft, Hygiene und Ernährung sorge“ (Bauer 2007c, 125).

26  Lehrerarbeit ist in Deutschland gekennzeichnet von einer „Gratifikationskrise“ (Bauer 2007c, 67) bzw. einer „effort-reward-imbalance“ (Bauer 2007a, 89).

27  Damit ist nicht nur die hohe (Jugend)Arbeitslosigkeit gemeint. Knapp zehn Prozent eines Jahrgangs erreichen gar keinen Schulabschluss, und ein hoher Teil sei nicht für weiterführende Ausbildungen geeignet, so Bauer (2007c, 10).

28  Ähnliche Hinweise gibt SZ-Online am 16.05.2007: 21,9 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zeigen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Zu den häufigsten Problemen zählen die Experten emotionale Schwierigkeiten und Hyperaktivität. Außerdem leiden immer mehr unter chronischen Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Asthma und Allergien. 28,9 Prozent der Mädchen zwischen elf und 17 Jahren zeigen Essstörungen. Ungünstiges Familienklima, niedriger sozioökonomischer Status und Migrationshintergrund seien die wichtigsten Risikofaktoren für Verhaltensauffälligkeiten.

29  Noch weitere, basale und banalere Dinge, von denen auch immer wieder Teilnehmer meiner Workshops berichten, sind teilweise nicht mehr vorauszusetzen: „Oft kommen Kinder in die Schule und können sich keine Schnürsenkel binden, wissen nicht, wie man eine Schere benutzt“ (Bullion/ Ramelsberger 2006).

30  Im OECD-Vergleich „sind hierzulande die meisten Klassen voller und das Verhältnis von Schülerzahl zur Anzahl der Lehrer schlechter“ (Finetti 2006). „In großen Klassen werden Schüler häufiger ermahnt, Lehrer drohen ihnen und geben öfter Strafarbeiten auf. Das macht Lehrer wie Schüler auf Dauer unzufrieden und kann deren Beziehung dauerhaft schädigen“, so der Schulwissenschaftler Haselbeck, der in einer größeren Studie an Hauptschulen die Auswirkungen der Klassenstärke auf den Unterricht untersucht hat. „Kleine Klassen steigern die Lernmotivation und stärken das Miteinander. Sie entsprechen in der Regel gut koordinierten Lernteams. Schüler haben mehr Vertrauen zum Lehrer. Konflikte können dadurch rasch bereinigt werden. Störer können nicht in der Menge abtauchen. Weil Lehrer weniger reglementieren müssen, bleibt mehr Zeit für den Unterricht. Die Lernatmosphäre ist schlicht entspannter. [...] Angesichts der veränderten Lernbedingungen und vielseitigen Belastungen der Lehrer und Schüler müsste die Obergrenze bei 25 Schülern liegen“ (Haselbeck 2006). Dem Vorwurf der hohen Schülerzahl in den Klassen entspricht die Kritik einer nicht ausreichenden Zahl von Lehrkräften.

31  Auch die Pausen bieten keine Rückzugsmöglichkeiten, sondern bringen für Lehrer eher noch mehr Belastung als der Unterricht selbst, so dass schulische Pädagogen am Vormittag einer ununterbrochenen, circa sechsstündigen Dauerbelastung ausgesetzt sind.

32 

„Das Geld bleibt eines der größten, wenn nicht das größte Problem im deutschen Bildungssystem. [...] Deutschland investiert deutlich weniger in Bildung als die meisten Industrieländer: Insgesamt sind die Ausgaben für Bildung in den OECD-Ländern zwischen 1995 und 2003 stark gestiegen, an den Schulen um 29 Prozent [...]. In Deutschland erhielten die Schulen dagegen nur acht Prozent [...] mehr. Auch gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinken die deutschen Ausgaben hinterher. [...] Noch größer sind die Unterschiede bei den gesamten öffentlichen Investitionen. Die OECD-Länder wandten 2003 im Durchschnitt 13,3 Prozent aller öffentlichen Ausgaben für die Bildung auf, Deutschland nur 9,7 Prozent“ (Finetti 2006).

33  Das gilt für den Tagesablauf ebenso wie für den Jahresablauf. Lehrer mit Vollzeitdeputat arbeiten mindestens 51 Stunden pro Woche, was sich angesichts der höheren Ferienzeit mit dem gesellschaftstypischen Jahresdurchschnitt deckt (Bauer 2007, 86). Es bleibt aber die Belastung der Stoßzeiten (Kretschmann 2001a). „Der eigentliche Wahnsinn des gegenwärtigen Schulbetriebes besteht in dem Zwang, dass riesige Stoffmengen in der kurzen Zeit des Vormittags untergebracht und abgearbeitet werden müssen. [...] Nachmittags dagegen hängen die Kinder herum. [...] Und das, während die Lehrer zuhause sitzen und sich stundenlang abmühen, das enge Programm für den nächsten Vormittag – der dann wieder für alle Beteiligten extrem stressig ausfällt – vorzubereiten“ (Bauer 2007a, 89). Der Zeitstress wird auch dadurch erhöht, dass relativ viel Stoff in weniger Zeit vermittelt werden muss: Schüler erhalten in Deutschland im OECD-Vergleich weniger Unterricht: „Für Sieben- und Achtjährige sind pro Schuljahr 631 Stunden Unterricht vorgesehen - 154 Stunden weniger als im OECD-Durchschnitt (785 Stunden). Die Diskrepanz wird später zwar geringer, doch erhalten auch die in den Pisa-Studien getesteten 15-Jährigen in Deutschland 70 Stunden weniger Unterricht als Gleichaltrige in anderen Industrieländern“ (Finetti 2006).

34  Der Titel befindet sich in der Literaturliste als: Miller 1992 (= 5.Aufl.).

35  Der Titel befindet sich in der Literaturliste als: Kretschmann 2001 (= 2.Aufl.).

36  Im Folgenden orientiere ich mich im Wesentlichen an der Übersicht von Arne Boecker, Christine Burtscheidt, Bernd Dörries, Detlef Esslinger, Charlotte Frank, Philip Grassmann, Hans-Jörg Heims, Christiane Kohl, Tom Webel, Ralf Wiegand aus der SZ vom 21.4.06, S.8.

37  „Mittelschulen“ in Sachsen, „Regionalschulen“ in Mecklenburg-Vorpommern, „Oberschule" in Brandenburg. Die Unterschiedlichkeit der Namen zeigt die nicht oder kaum vorhandene Koordination der Maßnahmen zwischen den Bundesländern.

38  bspw. in Nordrhein-Westfalen.

39  und hat jedoch parallel die Mittel für Schulsozialarbeit mit dem Schuljahr 2004/05 fast halbiert.

40  „Mehr als eine Viertelmillion Schüler mussten in Deutschland zuletzt ein Schuljahr wiederholen, das sind fast drei Prozent aller Schüler, so viele wie in keinem anderen Industriestaat“ (SZ 12.6.06).

41  Der Kommission gehörten 13 Wissenschaftler an, geleitet wurde sie von Jürgen Baumert, der als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung die erste Pisa-Studie in Deutschland koordinierte.

42  Der Aktionsrat besteht aus sieben namhaften Professoren und führenden Bildungsforschern, unter ihnen der Chef des deutschen Pisa-Teams, Manfred Prenzel. Während sich Studien wie Pisa oder der nationale Bildungsbericht, die von den Kultusministern in Auftrag gegeben werden, auf Diagnosen konzentrieren, gibt der Aktionsrat auch politische Empfehlungen.

43  Die folgende Darstellung bezieht sich u.a. auf neuere Gesetze und diverse Ankündigungen und Schreiben der Kultusministerin, insb. Wolff 2006; Hess.Kultusministerium 2006a.

44  96 Prozent aller Fünfjährigen mit Sprachproblemen nehmen nach Angaben des Kultusministeriums an Deutschkursen teil (SZ 21.4.06).

45  also nicht aus einer speziellen theoretisch fundierten Sichtweise.

46  Dies ist eine Kritik, die vom systemisch-konstruktivistischen Ansatz geteilt, dort aber theoretisch untermauert wird (vgl. Kap. 2.3.2).

47  Mangelnde Anerkennung für beide Aspekte (Bildungs- und Familienpolitik) zeigen sich insb. an Äußerungen des Ex- Bundeskanzlers Schröder, der Lehrer als ‚faule Säcke’ und Familienpolitik als ‚Gedöns’ bezeichnete und der Bildungspolitik in seinen Memoiren (2006) nur eine Seite widmete (Bauer 2007c, SZ 17.1.2006). „Die mangelhafte Honorierung der Erziehungsleistung dokumentiert, wie wenig diese dem Staat und der Gesellschaft wert ist. [...] Eltern [, Pädagogen, R.M.] und Kinder müssen in unserer Gesellschaft täglich erfahren, dass sie erwünscht sind und gebraucht werden. Die Deutschen scheinen das Bewusstsein dafür verloren zu haben, welches Glück und welche Bereicherung Kinder für ihr Leben bedeuten können“ (Bußmann 2006).

48  „Durch die Föderalismusreform macht sich der Bund in der Schulpolitik endgültig unsichtbar“ (Schultz 2006g).

49  „Die Zurückgebliebenen, die Verlierer, organisieren sich in einer kulturellen Diaspora. Sie wachsen nicht selten auf in bildungsfernen, patriarchalisch strukturierten Familien; ihr Ehrenkodex kollidiert mit den Werten einer modernen, westlichen Leistungsgesellschaft. Die Integrationsbereitschaft von Einwanderern der zweiten und dritten Generation nimmt ab, das Selbstbewusstsein einer wachsenden Zahl türkischer und arabischer Jugendlicher definiert sich durch die Nicht-Anpassung an die Ansprüche der deutschen Außenwelt. Deutschland hat also ganz offensichtlich neue Ghettos. [...] Sie befinden sich, sozial betrachtet, breit gestreut überall dort, wo eine nachwachsende Generation am unteren Ende des Bildungssystems laviert oder aus diesem herausfällt. [...] Diese Entfremdung wird fatalerweise auf beiden Seiten akzeptiert“ Kahlweit 2006). „Es gibt zu wenige Einwanderer, die als Erzieher und Lehrer arbeiten und kulturelle Brücken bauen; die Politik muss sie verstärkt gewinnen. Die neue Pisa-Auswertung zeigt, dass Migranten eine genauso hohe Motivation haben, in der Schule gut abzuschneiden, wie ihre Mitschüler. Um so niederschmetternder ist ihr geringer Erfolg“ (Schultz 2006e).

50  „Ausbau allein genügt nicht: Kindergärten müssen den Einstieg in Bildungskarrieren ermöglichen, ohne zur Mini-Schule zu werden. Das gelingt nur in kleineren Gruppen mit kompetenten Erzieherinnen und dem Wissen, dass Vierjährige behütet werden müssen, doch gleichzeitig wissbegierig sind (SZ 10.03.2007).

51  Ute Erdsiek-Rave, schleswig-holsteinische Bildungsministerin.

52  Pro Jahr kostet das Sitzenbleiben mehr als eine Milliarde Euro, vor allem für zusätzliche Lehrerstellen (SZ 12.6.06).

53  zumindest für den Abendschulbereich

54  U.a. darin, dass Jahresmitarbeitergespräche dort nicht mit mehr als bis zu 8-10 Mitarbeiten geführt werden, in der Schule hingegen in großen Systemen mit über 100 Lehrkräften geführt werden müssen (vgl.a. Heyde/Linde 2007).

55  Aus systemisch-konstruktivistischer Organisationsentwicklungssicht macht interne Evaluation mehr Sinn; aber auch deren Anreiz kann bei einem konservativen Ordnungssystem wie Schule in Frage gestellt werden (vgl. Kap.8.4.1).

56  „Schulen dürfen nicht isoliert werden; Lehrer brauchen Supervisoren und Hilfe von Sozialarbeitern, Polizisten, Vereinen. Bereits Kindergärten müssen zu umfassenden sozial- und bildungspolitischen Zentren für Familien ausgebaut werden“ (Schultz 2006g).

57  Im staatlichen Schulamt Gießen/Vogelsberg etwa wurden Grundschulleiter angehalten, die vom Kultusministerium erlassenen strategischen Ziele freiwillig als die ihren zu unterschreiben.

58  „Das Motto "Viel hilft viel" ist pädagogischer Irrsinn“ (Schultz 2007).

59  Die Darstellung bezieht sich auf Berufspädagogik, lässt sich allerdings verallgemeinern, wenn man die Jahreszahlen als Anhaltspunkte versteht.

60  „Nach Pisa neigen Politiker, Lehrer und Eltern zu Überreaktionen. Sie wollen, dass die Schüler möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit erwerben, und sie übersehen, dass die Gymnasiasten bei Pisa insgesamt gut abgeschnitten haben. Woran es aber auch an Gymnasien oft fehlt, ist eine Lernatmosphäre [...]. Das Wort Schule kommt aus dem Altgriechischen und Lateinischen und bedeutete ursprünglich ‚Ruhe’ und ‚Innehalten’“ (Schultz 2007).

61  Die beiden Autoren mahnen dementsprechend – unter Rückgriff auf den obigen Punkt 1 - dass die Vermittlung der Schlüsselqualifikationen der PISA-Studie nur gelingen kann, wenn diese mit Methoden- und Sozialkompetenzen verknüpft werden (Hubrig/ Herrmann 2005, 94).

62  „Die Dienstherren der Lehrerinnen und Lehrer sind ganz offensichtlich ihrer Fürsorgepflicht häufig nicht nachgekommen und laden die Folgekosten ihrer Versäumnisse schlicht als Pensionslasten auf dem Staatshaushalt und damit beim Steuerzahler ab. Viele Lehrkräfte sind ihrer Verpflichtung, sich gesund zu erhalten, aber auch nicht nachgekommen, und finden es anscheinend ganz normal, dass sie dann trotzdem bis zum regulären Pensionierungsalter auf Staatskosten alimentiert werden. Die freiberuflichen Akademiker beobachten das mit Erstaunen, sind sie doch ganz selbstverständlich für den Erhalt ihrer Berufsfähigkeit selber verantwortlich, und gegen das Risiko einer Berufsunfähigkeit müssen sie sich versichern – bei Strafe des finanziellen Untergangs“ (U.Herrmann 2005).

63  Es ist aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive sinnvoll, eine frühzeitige und zirkuläre Verbindung von Theorie und Praxis bereits lange vor dem Referendariat zu fordern.

64  Die Kenntnis der zentralen Ideen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes (bzw. der Ansätze) werden in dieser Dissertation vorausgesetzt (vgl. Kap.1).



© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 3.0TARGET
Textarchiv Gotha/Erfurt
HTML-Version erstellt am:
09.06.2008