7 pädagogische Implikationen systemisch-konstruktivistischer Erzählungen

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Geht man von den Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Modells aus, lassen sich vielfältige grundlegende Implikationen für diverse Bereiche schulischer Pädagogik in der (angehenden) Postmoderne171 ableiten. Wenngleich diese in einigen Teilaspekten bereits angeklungen sein mögen, werden sie in diesem Kapitel systematisch entwickelt und dargestellt.172 Diese Ausführungen bilden zusammen mit den gedanken zur Organisationskultur von Schule (Kap.8) das Fundament für die kommenden Kapitel des zweiten Teils der Dissertation (Kap.9-11). Der innere Zusammenhang der Kapitel wurde in der Einleitung zum zweiten Teil der Dissertation (auf S.106) bereits geschildert.173

In diesem Kapitel werden nach der wissenschaftlich notwendigen Klärung einiger zentraler Begrifflichkeiten (Kap.7.1) basale, für Schule wichtige systemisch-konstruktivistische Haltungen und Sichtweisen zusammengefasst (Kap.7.2), bevor wichtige pädagogische Folgerungen gezogen werden aus den zentralen Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes, nämlich aus: dem radikalen Konstruktivismus (Kap.7.3), dem sozialen Konstruktionismus (Kap.7.4) und der Systemtheorie (Kap.7.5). Diese systemisch-konstruktivistischen Setzungen haben weitere pädagogische Implikationen, nämlich: für die Verwendung (der Begriffe) von ‚Wissen’ und ‚Wahrheit’ (Kap.7.6), für den Gebrauch von Sprache (Kap.7.6), für die Betrachtung von Kommunikation (Kap.7.8) und Lehr- und Lernprozessen (Kap.7.9). Außerdem ergeben sich Schlussfolgerungen für Erziehungsprozesse (Kap.7.10), für pädagogische Ethik und Verantwortung (Kap.7.11 und 7.12) und – als einem Herzstück systemisch-konstruktivistischer Pädagogik – für konkrete Aufgaben pädagogischer Beziehungsgestaltung (Kap.7.13).174 Aufgrund der inneren, logischen Verbindungen ergeben sich Teilüberlappungen zwischen den verschiedenen Unterkapiteln des 7. Kapitels.

7.1 einige Begriffsklärungen

Zunächst sollen einige für die hier vorliegende wissenschaftliche Arbeit zentrale und in schulpädagogischen Zusammenhängen häufig benutzte Begriffe aus einer systemisch-konstruktivistischer Sicht näher bestimmt werden: Pädagogik, Erziehung, Bildung und Unterricht. Die Ausführungen diesen zweiten Teils der Dissertation führen dann zu einem späteren Zeitpunkt (in Kapitel 12.1) noch zu einer Definition ‚systemisch-konstruktivistischer Pädagogik’, wie sie in der entsprechenden wissenschaftlichen Literatur in dieser (knappen) Form mir nicht bekannt ist. Die im folgenden ausgeführten Begriffe sind – aus konstruktivistischer Sicht –vorläufige Konstrukte.

7.1.1 Pädagogik

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Pädagogik kann als die wissenschaftliche Disziplin verstanden werden, die sich mit Bildung und Erziehung befasst. Sie unterliegt dem paradoxen Ziel, sich selber überflüssig zu machen, indem unmündige Kinder zu Menschen und Bürgern werden, die sich in ihrem Leben und in der Gesellschaft selbstständig orientieren und einbringen können. Praktische Pädagogik bewegt sich daher stets „im Spannungsfeld zwischen Fremdorganisation und Selbstorganisation“ (Jäpelt 2004a, 146).

Der Pädagogik als Wissenschaft kommt eine Doppelrolle zu. Einerseits erforscht sie als Reflexionswissenschaft Bildungs- und Erziehungszusammenhänge. Zum anderen macht sie als Handlungswissenschaft theoretisch rückgebundene Vorschläge für die Gestaltung und Verbesserung der Bildungs- und Erziehungspraxis (in Anlehnung an wikipedia.de). Auf beiden Feldern muss die Pädagogik in der Postmoderne in dem Sinne zunehmend zu einer „reflexiven Pädagogik“ werden, als sie sich ihrer Kontexte, Nebenwirkungen und Mythen bewusst sein muss (Siebert 2005b, 41).

In der Unübersichtlichkeit und offenen Optionenvielfalt der Postmoderne wird Pädagogik auch zunehmend eine Beratungswissenschaft. Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen wächst der (potenzielle) Beratungsbedarf von Schülern und Eltern - und Lehrern. Dies gilt auch - rein modelltheoretisch im systemischen Konstruktivismus bereits - aufgrund autopoietischer Grundsätze, die zur Nicht-Steuerbarkeit von pädagogischen Entwicklungsprozessen führen: Pädagogik ist insofern notwendig beratend, konsultativ, da sie allenfalls Impulse zur Selbststeuerung geben kann (Huschke-Rhein 1998b, 10).

7.1.2 Erziehung

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Erziehung kann allgemein verstanden werden als Entwicklungsförderung von jungen Menschen hin zu höheren, d.h. komplexeren Stufen von Individuation bzw. Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlicher Selbstständigkeit. In einer postmodernen Gesellschaft mit ihren lebenslangen Lernanforderungen verliert der Erziehungsbegriff seine strikte Limitierung auf eher frühe bzw. junge Entwicklungsphasen (Huschke-Rhein 1998b, 23) oder auf ein bestimmtes Modell von Erziehung (Tsirigotis et al. 2006, 8). Fragen der Erziehung gehören in den ethischen Bereich der Frage nach dem ‚richtigen’ oder ‚guten Leben’, die letztlich nur individuell zu beantworten ist (Omer/Schlippe 2002, 23).

Da junge Menschen systemisch-konstruktivistisch als autonome, autopoietische Lebewesen bzw. Systeme betrachtet werden, lässt sich Erziehung auch definieren als Anregung oder Förderung der Selbstorganisation (Rotthaus 2006, 39; Huschke-Rhein 1998b, 8) und als „Weise, in der [der Schüler] mit sich selbst bekannt wird“ (Luhmann/ Schorr 1988, 91). Erziehung bleibt dann im Wesentlichen Eigenleistung des Kindes, die aber ohne Aktivitäten von Erwachsenen, insb. ohne die Gestaltung von Kontexten, nicht möglich wäre. Erziehung ist also ein interaktiver, ko-evolutionärer Prozess (Rotthaus 1998, 37).175 Erziehungsfolgen lassen sich nicht gezielt herstellen und, ob gewollt oder nicht, auch nicht verhindern, da Beziehungsgestaltung und Kommunikation in der pädagogischen Kopplung zweier Systeme unvermeidbar erzieherische Konsequenzen haben, da der Pädagoge (oder auch Eltern, sogar der Staat) nicht nicht handeln können. Die elementare Aufgabe von Erziehung als kontextbewusste ‚Bei-Steuerung’ zu einem ko-evolutiven Prozess ist die „Organisation der Förderung von Selbstorganisation“ (Huschke-Rhein 1998b, 15).176

Der Begriff der ‚Erziehung’ wird hier so verstanden, dass er tendenziell eher aus einer Außenperspektive auf das sich entwickelnde, zu erziehende Subjekt blickt, an das Pädagogen sich ankoppeln müssen. Das hängt damit zusammen, dass Erziehung verstanden werden kann als „zeitweise notwendiger Prozeß der ‚Fremdsteuerung’ durch andere [... mit dem Ziel,] diese Fremdsteuerung allmählich durch Selbststeuerung zu ersetzen“ (Huschke-Rhein 1992, 201).

7.1.3 Bildung

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Bildung wird häufig in großer Nähe zum Erziehungsbegriff definiert als die Entfaltung oder Entwicklung der Fähigkeiten eines Menschen aus seinen Anlagen, angeregt durch erzieherische und pädagogische Maßnahmen bzw. Handeln (in Anlehnung an wikipedia.de). Luhmann bezeichnet Bildung unter systemisch-konstruktivistischem Blickwinkel als „innere Form“ des Individuums (Lenzen/Luhmann 1997, 16). Mit Kegan könnte Bildung beschrieben werden als (je individueller) Ausdruck einer inneren Entwicklungs(Stufe) der Organisation von Selbst und Welt (Kegan 1992). Insofern es bei postmoderner Bildung letztlich v.a. um akkomodatives Lernen geht, geht es um ‚transformative Bildung’177, um begleitete Persönlichkeitserweiterung, die zugleich reflexiv ist: „Zur Bildung gehört die Reflexion der eigenen Wirklichkeitskonstruktion, das Bewusstsein der Relativität der eigenen Weltbilder, die Aufgeschlossenheit für fremde und neue Perspektiven, die Verantwortung für das eigene Denken“ (Siebert 2005b, 41). Ziel von Bildungsprozessen ist – über das Stellen legitimer Fragen (v.Foerster 1999) - die Verbesserung bzw. Ausdifferenzierung der Fähigkeit eines Menschen zur Selbstorganisation (Renoldner et al 2007, 52). In postmodernen Zeiten bzw. unter konstruktivistischem Blickwinkel ist Bildung ein „nicht-linearer, lebenslanger Prozeß über Phasen der Abbrüche, der Turbulenzen und der Neukonstruktion“ (Huschke-Rhein 1998b, 23).

Der Bildungsbegriff wird hier so verstanden, dass er tendenziell eher aus einer Innenperspektive auf das sich entwickelnde Subjekt blickt, das in zirkulären Austauschprozessen mit seiner pädagogischen Umwelt steht und diese mitbeeinflusst. Insofern kann Bildung verstanden werden als „’Selbststeuerung’ bzw. die Fähigkeit dazu“ (Huschke-Rhein 1992, 202).

7.1.4 Unterricht

Unterricht kann verstanden werden als „ein Interaktionssystem, das sich mit Kommunikationen reproduziert, welche auf das Hervorbringen von Lehr-Lern-Verhältnissen spezialisiert sind“ (Fried 2005, 196 in Anlehnung an Luhmann 2002). Unterrichten kann auch, unter stärker personalem Blickwinkel, als ein Prozess zirkulärer, rekursiver Interaktion zwischen Lehrern und Schülern (bzw. ihrer Kommunikation) gesehen werden, in dem sie sich wechselseitig aus spezifischen Beobachterperspektiven mit komplexitätsreduzierenden Unterscheidungen und Erwartungserwartungen sowie mehr oder weniger begründeten Vermutungen selektiv wahrnehmen (Siebert 2005b, 10). Unter konstruktivistisch-postmodernen Aspekten hat Unterricht mit dem Umgang mit Unterschiedsbildungen und Ambivalenzen zu tun: „Unterrichten heißt, Inkohärenzen, Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden. [...] Weil: Menschen [...] kommunizieren nur dann zusammen, wenn etwas nicht klar ist“ (Jean-Pol Martin, zit.n. Kahl 2004, dvd1, 0:40 Min).178 Damit hat unterrichtliche Fragengestaltung auch wichtige beziehungsgestalterische Wirkung.

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Angesichts seiner Komplexität kann Unterricht unter konstruktivistischem Blickwinkel auch, wenngleich eher metaphorisch als streng wissenschaftlich, als „ein mindestens so komplexes Unterfangen wie das Navigieren eines Schiffes im Schneesturm“ (Oser/ Spychiger 2005, 17) bezeichnet werden. Der Unterrichtsbegriff wird hier so verstanden, dass er tendenziell eher auf das Interaktionsgeschehen von Schülern und Lehrern schaut.

Pädagogisch Handeln, Erziehen und Unterrichten müssen aus systemisch-konstruktivistischer Sicht anhand von theorieimmanenten Haltungen und Sichtweisen erfolgen, um Ausdruck systemisch-konstruktivistischer Pädagogik sein zu können.

7.2 systemische Grundhaltungen und Ansichten

Erzieherisches Handeln ist als Professions-Handeln spontan. Um sinnvoll spontan handeln zu können, sind angemessene und klare erzieherische Haltungen und Positionen vonnöten (Schlippe 2006, 40). Auch die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und Beratung sind geprägt durch Grundhaltungen179, mit denen ein Pädagoge andere Menschen begleitet, mittels derer er Beziehung gestaltet, anhand derer er interveniert, verstört und anregt (Hubrig/ Herrmann 2005,34; Hubrig/ Herrmann 2000,143f; Voß 2005b,14). Jegliche Form methodischer, didaktischer, beraterischer, kurz: technischer Hilfsmittel sind „nur im Zusammenhang mit einer Haltung zieldienlich [...], die die Bereitschaft beinhaltet, sich glaubwürdig, zuverlässig und ehrlich zu verhalten“ (Loth 2006, 32f).

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Einige psychologisch-pädagogische Richtungen können dies für sich beanspruchen (insb. auch die humanistische). Das Konglomerat an Haltungen und Sichtweisen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes zeichnet sich jedoch durch eigene, spezifische Charakteristika aus. Seine zentralen Größen sind v.a. persönlicher Kontakt und ggf. emotionale Wärme, Respekt und Wertschätzung gegenüber Person, ihrer Autonomie und Selbstverantwortung bei Anteilnahme, Kontextberücksichtigung, Ressourcen- und Lösungsorientierung, Neugierde und Respektlosigkeit gegenüber Ideen, Urteilsvorsicht und Suche nach Metapositionen und Musterbeschreibungen, Anerkennung der Koevolution durch Betonung der Partizipation und Eigenverantwortung des Gegenübers, Alltagsrelevanz, Umgang mit ‘Widerstand’ als Information über das Gegenüber.180

In Ergänzung zum Schaubild Abb. 4-7 auf S.63> lassen sich auf dem Hintergrund dieser Haltungen - im Vergleich mit anderen, traditionelleren pädagogischen Ansätzen - nun bereits erste Unterschiede in pädagogischen Funktionen (‚Rollen’), Beziehungen und Methoden erkennen:

Abb. 7-1: mechanistisches vs. systemisches Weltbild (Königswieser/Hillebrand 2004, 28; gekürzt)

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Diese Aspekte werden in den kommenden Kapiteln deutlicher werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst der Aspekt der Konstruiertheit von Wirklichkeit in seinen Konsequenzen für schulische Pädagogik untersucht.

7.3 Implikationen des Radikalen Konstruktivismus

Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnislehre, keine Lehre über die Beschaffenheit der Welt (z.B. v.Glasersfeld 1994). Er geht davon aus, dass ‚Wirk-lichkeit’ kognitiv konstruiert wird, Realitäten stets nur momentane kontextbezogene Weltmodelle sind und dass diese konstruierte ‚Wirk-lichkeit’ ‚wirk-sames’ Erleben hervorruft (G.Schmidt 2004a, 22,118). Der Konstruktivismus beruht im Wesentlichen auf zwei zentralen Grundannahmen: Der menschliche Organismus zeichnet sich aus durch 1. kognitiv-neuronale Autonomie und 2. notwendige soziale Ausrichtung. Je nachdem, auf welche Prämisse stärkerer Akzent gelegt wird, können zwei wesentliche Spielarten des Konstruktivismus unterschieden werden. Im ersten Fall handelt es sich um den ‚radikalen Konstruktivismus’, im zweiten um den ‚sozialen Konstruktionismus’ (Kap.4.5.3). Beide Aspekte werden hier nicht als sich ausschließend sondern vielmehr als sich wechselseitig bedingend betrachtet (Glasersfeld 2003, 30). Beide Seiten besitzen allerdings unterschiedliche Schwerpunkte der Betrachtung, wie das nachfolgende Schaubild aufzeigt.

Abb. 7-2: Schwerpunktsetzungen von radikalem Konstruktivismus und sozialem Konstruktionismus (Siebert 2005b, 25)

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Zugespitzt würde der radikale Konstruktivismus formulieren: „Wenn du wissen willst, wer du bist, frag dich selbst.“ – während der soziale Konstruktionist eher sagen würde: „Wenn du wissen willst, wer du bist, frag die anderen.“ Letztlich ergänzen sich beide Ansätze. Der Erwerb der Vorstellung vom Selbst als einmaligem Individuum ist nur in und mit sozialer Interaktion möglich. An dieser Stelle sollen zunächst wichtige Implikationen des radikalen Konstruktivismus beleuchtet werden. Aspekte des sozialen Konstruktionismus werden in Kap.7.4 behandelt.

Die zentrale Prämisse des radikalen Konstruktivismus ist die operative Geschlossenheit und Rekursivität des Gehirns und seiner Informationsverarbeitung. Ziel der hier vorgenommenen Darstellung ist es, die Implikationen dieser radikalkonstruktivistischen These bzw. Setzung für schulische Pädagogik aufzuzeigen. Die Ideen und Folgerungen des radikalen Konstruktivismus können als eine neuere Erzählung gelten, die sich von älteren und häufig etablierteren Erzählungen durch Unterschiedsbildung absetzt, wenngleich einige der Aspekte des Konstruktivismus sich auch in anderen Ansätzen (zumindest in deren neueren Versionen) finden lassen.

Aus konstruktivistischer Sicht konstruieren Menschen Welt und Selbst, ohne erkennen zu können, wie diese „echt-echt wirklich“ (G.Schmidt 2004b), d.h. unabhängig vom Beobachter, sind, da der Beobachter immer Teil seiner Beobachtung ist. ‚Wahr-genommenem’ Verhalten wird Bedeutung unterlegt, wobei Beschreibungen und Einschätzungen immer relativ zu den inneren Verarbeitungsstrukturen des Beobachtenden sind. Das gilt für Notengebung genauso wie für die Einschätzung des Lehrerverhaltens durch die Schüler. Konstruktivistisch betrachtet, können Pädagogen daher im Umgang mit Kindern nicht nicht erziehen, weil sie sich auch nicht nicht verhalten können (Rotthaus 1999a, 24). Ihrem Verhalten wird von außen Bedeutung unterlegt. Außerdem unterliegt es auch innerer (eigener) Bedeutungsgebung; das Verhalten von Eltern und Pädagogen ist durch Ideen darüber, wie ein Kind sich (günstig) entwickelt, geprägt, wobei sich das elterliche oder pädagogische Verhalten in Interaktionsprozessen auf die Kinder (und von dort aus zirkulär zurück auf sich selber) auswirkt (Rotthaus 1999a, 24). Erwachsene sollten sich daher über ihre Konstrukte im Klaren sein und Verantwortung für sie und das aus ihnen entstehende Handeln übernehmen.

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Wird ein lebender Organismus als eine selbständige, autonome, organisatorisch geschlossene Einheit gesehen, können Menschen nicht (mehr) als verlässlich steuerbar betrachtet werden. Kinder sind „ein Ausgriff in die Zukunft des Lebens – und als solcher eben nicht planbar“ (Bastian 2001, 128). „Erzieher haben keine Kontrolle über die zu erziehenden Kinder“ (Retzer/Simon 1998, 3). „Leben ist ein Eigenprozeß“ (v.Foerster 1992, 82), Schüler sind unvermeidbar „Selbststeuerungsfachleute“ (Palmowski 1998a, 39). In diesem Sinne sind Pädagogen und Schützlinge gleichwertig. Das Kind ist immer wieder „ein Spielverderber, der die Spielregeln der Zivilisation nicht anerkennen will und auch in unserem Herzen leise Zweifel am Sinn und Zweck so mancher dieser Regelungen keimen lässt“ (Bastian 2001, 108). So wie Schüler ihre Pädagogen (bzw. deren Konstrukte) perturbieren, können auch Schüler nur i.S. von Musterunterbrechungen „verstört“ und zur Selbstorganisation bzw. ‚Selbstsozialisation’ (Luhmann) lediglich angeregt werden.

Einem traditionellen Verständnis der Pädagogik als Prozess der Pädagogisierung durch Experten, dem gemäß die Adressaten von Bildungsbemühungen durch wissensorientierte Fremdsteuerung zu vorgegebenen Zielen und zu einem normativ erwünschten Verhalten geführt werden (Huschke-Rhein 1998b, 69), setzt die systemisch-konstruktivistische Pädagogik ihr Konzept der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion entgegen. Eine gezielte ‚Übertragung’ von Wissen ist ebenso wenig möglich wie eine gezielte Herstellung von Schülerverhalten. Mit der sich auf diesem theoretischen Hintergrund ergebenden Betonung der Stärkung der Selbststeuerung von Schülern als ko-evolutionäre Subjekte wird eine defizitorientierte Sichtweise des Lehrer-Schüler-Verhältnisses181 zumindest relativiert. Die Wichtigkeit der Stärkung von Selbststeuerungsprozessen ergibt sich auch durch die Pluralisierung und wachsenden Geschwindigkeit der Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft, die es von ihren Bürgern verlangen, sich immer wieder neu zu orientieren.

Ist instruktive Interaktion nicht sondern allenfalls orientierende Intervention möglich, dann entscheiden Schüler aufgrund der operationellen Geschlossenheit ihrer internen Verarbeitungsstrukturen letztlich selbst, ob, was, wie und wie viel sie lernen und auch ob (und wenn ja, auf welchen Feldern) sie einem Pädagogen Kompetenz und Autorität zuerkennen. Was die zurzeit viel diskutierte Wertevermittlung angeht, bedeutet dies, dass auch eine gezielte ‚Übertragung’ von Werten nicht möglich ist; wohl aber pädagogische Vorbildfunktion oder Lernen in gemeinsamer Reflexion (Kohlberg 1986). (Angemessen ungewöhnliche) Fragen stellen zu können, wird dann für den postmodernen Pädagogen wichtiger, als Antworten parat zu haben.

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Um die Wahrscheinlichkeit der eigenen pädagogischen Einflussnahme auf Schüler zu erhöhen, ist „Ankopplung“ an den Schüler - Kommunikation mit ihm in seiner ‚Sprache’ und aus vollzogenem Perspektivenwechsel182 - nötig, und zwar sowohl durch den Pädagogen als auch durch das gestaltete schulische Umfeld (Hargens 2004a, 107). Veränderungen (genauer: Verstörungen und Anregungen) des Schülers können v.a. durch eine Veränderung des Kontextes des Kindes (z.B. Verhalten des Lehrers) angestoßen, allerdings nie gezielt hergestellt werden. Verstehensprozesse in schulischer Kommunikation (welche übrigens i.d.R. stark auf den Lehrer ausgerichtet ist) bedeuten in dieser Sichtweise letztlich lediglich die Produktion von Vorstellungen, die sich mit denen des Sprechers als kompatibel erweisen (Glasersfeld 2003, 28).

Erziehen bleibt auch deshalb stets Handeln unter Unsicherheit, weil es aus konstruktivistischer Sicht keine per se ‚richtigen’ Erziehungsmaßnahmen gibt bzw. geben kann. Erziehung ist nicht planbar. Pädagogisches Handeln und Entscheiden sind in und als Einzelfallbetrachtung notwendig und unterliegen einem nicht eliminierbarem Risiko. Die Organisation autopoietischen Lernens ist - angesichts der operationellen Geschlossenheit der beteiligten Menschen bzw. Gehirne - unvermeidbar auf deren Mit-Tun angewiesen, hebt auf eigenes Handeln und eigene Erfahrungen ab und muss letztlich die Verantwortung für die Entwicklung (nicht aber für die Kontextgestaltung und das eigene pädagogische Handeln) beim Betroffenen lassen (Doppler/Lautenburg 2000, 116).

Erziehen und Lehren sind also keine ‚Einbahnstraße’ sondern vielmehr interaktive, ko-evolutive Prozesse, in denen die Handlungen der Beteiligten gleich wichtig sind – allerdings, das sei deutlich betont, bei unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben (Rotthaus 1999a, 10,45). Pädagogische Prozessziele sind nicht einseitig erreich– oder auch nur planbar, sie sind aber (indirekt) beeinflussbar. Als konstruktivistisch autonome Lebewesen sind Schüler zu respektieren, als Person zu würdigen, ohne dass deshalb all ihr Handeln akzeptiert werden muss (Hargens 2006, 75). Sie sind „eigenständige, eigenwillige, aktive Partner“ im Erziehungsprozess (Rotthaus 1999a, 71). Schüler sind Subjekte von Bildungsbemühungen.

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Eine mögliche, heute durchaus gängige Überschätzung erzieherischer Einflussmöglichkeiten kann zu einer Vergiftung des Erziehungsklimas führen.183 Sensible Beobachtung eines Kindes erlaubt es durchaus, seine je momentane Einzigartigkeit zum Ausgangspunkt für pädagogisches Vorgehen zu nehmen. Steuerbarkeit bzw. monokausale Beeinflussung von Schülern wird damit aber nicht erreicht. Manipulation ist, konstruktivistisch betrachtet, nicht möglich und zugleich nicht zu verhindern. Und fraglich bleibt, ob es überhaupt möglich ist, die Individualität der Kinder zum Ausgangspunkt zu nehmen, wenn man mit 30 Schülern gleichzeitig bei einem Wechsel im 45-Minuten-Takt unterrichten muss: „Wieviel Seelenlandschaften von dreißig Kindern kann eine Lehrerin erkunden?“ (Piechota 2000, 98).

Schüler verhalten sich in dem, was Pädagogen als Erziehungsprozess bezeichnen, gemäß Maximen, die für sie bisher in ihren Kontexten (insb. dem familiären) sich als viabel herausgestellt haben. Auf diesem Hintergrund machen ‚abweichendes Verhalten’ und Nicht-Lernen für den Schüler ggf. biographisch viel Sinn (z.B. aus Protest oder um die Eltern zusammen zu halten) und sind in diesem Sinne als eine Fähigkeit für außerschulische Kontexte wertzuschätzen (Hennig/ Knödler 2000). Besondere Begleitung für Kinder und Jugendliche kann in solchen Krisenphasen angebracht sein, da Lernen, insb. akkomodatives (strukturumbauendes) Lernen in solchen Situationen als schmerzhaft empfunden werden kann (Oser/ Spychiger 2005).

Ebenso wie Nicht-Lernen ist auch Lernen ein Konstrukt (Kap.7.9). Kognitive Strukturen sind unsichtbar, über sie können nur Vermutungen angestellt werden. Leistungspotenziale sind daher nie genau und definitiv feststellbar. Messbar sind Performanzen (gezeigtes Verhalten). Lehrer wählen aus, können aber kein definitives Urteil über die Potenziale eines Menschen treffen. Sie sind Teil der Beobachtung und beeinflussen Interpretation und Bewertung (Kap.4.4.3). Dabei gilt, dass, wie schon Epiktet sagte, es nicht die Dinge sind, die beunruhigen, sondern die Meinungen und Bewertungen des Betrachters (Watzlawick 1995, 52f). Die These, dass unterschiedliche Bewertungen linear aus unterschiedlichen Leistungen bzw. Leistungspotenzialen von Schülern hervorgehen, ist konstruktivistisch nicht haltbar.

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Lernen geschieht durch Handlung und mit Alltagsrelevanz - jedenfalls nicht durch Zuhören allein. Schule muss relevantes Probehandeln ermöglichen. Allerdings können auch angemessen sich ankoppelnde und anregende Erzählungen als hilf- und lehrreich empfunden werden. Eine Gleichsetzung von Lehren und Lernen, der gemäß Inhalte als deklaratives Wissen durch rein informierende Methodik gelehrt und gelernt werden, ist ebenfalls konstruktivistisch nicht haltbar.

Schüler haben sehr vielfältige Strukturen und Lerntypen, kommen aus unterschiedlichen Milieus und kulturellen Hintergründen, die sich in der Postmoderne zunehmend vervielfältigen. Lehrer und Unterricht können, da sie sich je individuell ankoppeln, verstören und anregen müss(t)en, nie alle Schüler gleichzeitig individuell fördern (vgl. Punkt 3 auf S.234). Die Menge an vom Lehrer zu gebender Aufmerksamkeit ist beschränkt, Aufmerksamkeitsverteilung ist ein Nullsummenspiel. Die spezielle Förderung von z.B. besonders un/begabten Kindern oder bestimmten Lerntypen stellt andere Kinder notwendig hinten an. Weder können alle Kinder undifferenziert gemeinsam unterrichtet werden noch können alle Kinder gleichzeitig gezielt gefördert werden. Auch hier gilt: andere Thesen sind aus konstruktivistischer Betrachtung Mythos.

Der Konstruktivismus bringt - zusammen mit zunehmend postmodernen Lebensbedingungen in den westlichen Gesellschaften – also Veränderungen in grundlegenden Sichtweisen mit sich, wie bereits im Kapitel 5.2.3 über die idealtypische postmoderne Gesellschaft aufgezeigt. Siebert (2005, 20) stellt für pädagogische und Lernprozesse184 folgende Unterscheidung zwischen einem schwächer werdenden ‚normativen Paradigma’ und einem wichtiger werdenden systemisch-konstruktivistischen ‚interpretativen Paradigma’ auf:

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Abb. 7-3: Paradigmenwechsel: normatives vs. interpretatives Paradigma (Siebert 2005b, 20).

Neben den genannten, radikalkonstruktivistischen Annahmen spielen im konstruktivistischen Ansatz auch sozialkonstruktionistische eine wichtige Rolle.

7.4 Implikationen des sozialen Konstruktionismus

Die kognitive Abschließung des Nervensystems führt modelltheoretisch zu Selbstreferenzialität in Bezug auf die Zustände des kognitiven Systems. Damit lässt sich das Hervorbringen von Bedeutungen aber nur zum Teil erklären. Diese entsehen nämlich auch im sozialen Interaktionsprozess. Insofern ist „individuell konstruierte Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit“ (Maturana/Varela 1987. 107), ist Realität immer auch „interaktives Phänomen“ (Berger 1993, 202). Der Begriff der ‚Selbstreferenzialität’ kann dementsprechend durch den Begriff der ‚Synreferenzialität’, bezogen auf im Sozialsystem ausgebildete und für es konstitutive Zustände, ergänzt werden (Siebert 2005b, 16).

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Biologisch lässt sich die Sinnhaftigkeit, sozial-kommunikative Aspekte in das konstruktivistische Modell aufzunehmen, durch die energetische, thermodynamische Offenheit des menschlichen Organismus begründen. Unter sozialkonstruktionistischem Aspekt kann v.Foersters (1992, 82) Satz, dass Leben ein Eigenprozess sei, mithin wie folgt ausdifferenziert werden: „Ich existiere durch den anderen und er durch mich: wir sind unser gegenseitiges Eigenverhalten“ (1992, 85).185 Menschen konstruieren Welt und Selbst also in wechselseitigen sozialen Beziehungen, das soziale Umfeld beeinflusst sie und ihre Konstrukte. Handlungen und Sprache verbinden sie untereinander in Kommunikation, wobei man nicht nicht kommunizieren bzw. handeln kann. Man kann auch als Pädagoge nicht nicht auf Kinder und Jugendliche reagieren, denn diese suchen „nach dem Spiegelbild, das sie in [den Erziehenden] hervorrufen, [...] Sie wollen spüren, dass sie wahrgenommen werden, [...] wie sie eingeschätzt werden“ (Bauer 2007c, 132).

So entsteht ein Kreislauf: Handeln und Sprache anderer beeinflusst, wie ich Welt und Selbst sehe. Und umgekehrt: Meine Handlungen und Sprache beeinflussen das soziale Geschehen. Aber aufgrund der operationellen Geschlossenheit des Gehirns gilt: Es ist nicht die Umwelt, die bestimmt, ob/ wie etwas wahrgenommen und interpretiert wird, sondern der jeweilige Organismus. Wirklichkeit wird auch sozial konstruiert. Verhalten wird in Umfeldern erlernt. Interventionen in Unterricht und Beratung müssen diese Umfelder und Kreisläufe daher mitberücksichtigen.

Der Lehrer hat wesentlich zu beachten, dass er es im Umgang mit Klassen gerade auch mit Gruppenprozessen und nicht nur Individuen zu tun hat. Sprache und Regeln in Gruppen sind Konstrukte, die der individuellen und der sozialen Interpretation unterliegen. Die gebrauchte Sprache und angewandte Regeln in sozialen Kollektiven ergeben sich aus der faktischen Interaktion und können vom Lehrer nur bedingt vorgegeben bzw. beeinflusst werden. Schulklassen und andere Gruppen (auch Kollegien) haben ein Eigenleben und sind nicht verlässlich steuerbar (Kap.7.5). Autorität und Vorbildfunktion besitzt ein Lehrer nicht qua Amt, sie werden vielmehr sozial zugeschrieben (Sennett 1990). Hierfür muss Autorität in aller Regel kongruent vorgebracht werden, auf innerer Klarheit im Handeln beruhen und mit einem Mindestmaß an Gelassenheit und Großmut verbunden sein (Bergmann 2001, 212f). „Autorität hat in der Erziehung nur dann ihren Platz, wenn sie [...] Ausdruck einer subjektiven, freiwilligen Anerkennung einer partiellen Überlegenheit des Autoritätsträgers in Bezug auf Erfahrung, ein bestimmtes Wissen, Können, auf bestimmte Wertungen oder Sinnorientierungen in Verbindung mit Vertrauen und Menschlichkeit ist“ (Zangerle 1998, 46). Auch Abweichung und Normalität sowie von Klassenkonferenzen festgelegte Bewertungen sind interaktionell und kommunikativ verhandelte soziale Konstrukte (Rosenhan 1994).186

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Da zwischenmenschliche Kontakte bedeutungsgebend sind, finden gerade im sozialen Miteinander ganz entscheidende Lernprozesse statt. Soziale Lernprozesse betreffen die Persönlichkeit und sind dauerhafter als der Erwerb von sich schnell wandelndem eher kognitivem Fachwissen. Sozialem Lernen und Erlernen von Kooperation muss dann in Schule hohe Priorität eingeräumt werden, da Menschsein sich im konstruktiven Dialog mit anderen entwickelt und erfüllt (Rotthaus 1999a. 137).

Die dritte wesentliche Komponente in der Prämissenvielfalt des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes stellt die Systemtheorie dar.

7.5 Implikationen des Denkens in Systemen

Das Postulat, dass Denken und Wahrnehmen in Systemen und Umwelten mit Wechselwirkungen erfolgt, führt dazu, dass die Auswirkungen von Denken und Verhalten der Beteiligten aufeinander ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten (Hubrig/ Herrmann 2005, 60). Was dabei als System gesehen wird, bestimmt der Beobachter: die Individuen, personale oder organisationale Zusammenschlüsse, deren Kommunikation usw.. Eine solche Sichtweise hat Auswirkungen auf pädagogische Konstruktionen; diese Implikationen sollen im Folgenden dargestellt werden.

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Systemisch gesehen, können z.B. Individuen, Familien, Klassen, Kollegien, Schul(häuser) und Gesellschaft als autonome Systeme verstanden werden, zwischen denen es zu strukturellen Kopplungen kommen kann. Hennig verdeutlicht dies in folgendem Schaubild:

Abb. 7-4: Der Mensch und seine sozialen Beziehungen (Hennig/ Knödler 2000, 29)

Schüler und Lehrer sind in unterschiedliche Systeme eingebunden, sie stehen in einer Vielzahl von Interdependenzen, die jeweils eigene Muster herausbilden. Abhängigkeit wird hier verstanden als „Einbindung, und die Kunst der Abhängigkeit ist das Vermögen, die [...Muster, R.M.] und die Notwendigkeit dieser Bindungen zu durchschauen – diese Kunst eröffnet nicht bloß die Möglichkeit, Bindung zu genießen, sondern sie auch zu gestalten, was wiederum eine wirkliche Chance zu wenigstens partieller Autonomie bietet“ (Bastian 2001, 197f).

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In pluralistischen Gesellschaften sind die Bürger, auch als junge Menschen, meist Mitglieder in verschiedenen Gruppierungen bzw. Systemen mit je anderen Verhaltensanforderungen und –spielräumen. Die Klasse187, die Klasse mit dem jeweils wechselnden Lehrer, der schulische Freundeskreis auf dem Pausenhof, das ‚Schulhaus’, die Schulfahrt im Bus, aber gerade auch außerschulische Systeme wie Familie und Freundeskreis bzw. Peergroup sind Beispiele für solche Systeme. D.h. neben dem Lehrer sind vielfältige weitere Umwelten zu berücksichtigen, mit denen das System ‚Kind’ gekoppelt ist, im Zusammenhang mit dem Schulbesuch selbst begegnet der Schüler diversen Systemen. Diese Heterogenität – gerade auch von komplexen Klassensystemen (Kahl 2004, dvd1, 0:57 Min) - kann als Reichtum angesehen werden: „Jede Klasse ist ein Kosmos, jeder Schüler eine Ressource“ (ebenda, 1:07 Min). Verhaltensweisen eines Individuums oder einer Gruppe müssen, systemisch gesehen, als Bestandteil eines umfassenden Netzwerkes betrachtet werden (Käser 1998, 45).

Zugleich muss Schule mithelfen, es dem Schüler zu ermöglichen, sich in einer solchen pluralen Welt zurechtzufinden. Erziehung entsteht als interaktiver Prozess über wechselseitig interpretierendes Handeln unterschiedlicher Systeme (z.B. Pädagoge und Kind), wobei Bedeutungen im Interaktionsprozess zugeschrieben werden, also kontextabhängig sind. Dabei gehören Menschen einer Vielzahl von Systemen an, werden also von unterschiedlichen Kontexten beeinflusst. Da „Phänomene sich aus der Beziehung heraus ergeben“ (Watzlawick 1995, 27f), gemeinsam in Kontexten konstruiert werden, gilt, systemisch-konstruktivistisch gesehen, ein Primat von Beziehung vor Inhalt. Damit ist Erziehung ein ko-evolutionärer Prozess. Über den Versuch, Systemkopplungen zu ermöglichen, erleichtert der Pädagoge Lernprozesse. Er „wirkt Kraft der eigenen Persönlichkeit und absichtsvoller Handlungen als Katalysator für selbstverantwortete Lernprozesse des Kindes“ (Rotthaus 1999a, 107). Er ist Helfer, der in einer organisierten Art und Weise etwas für die Selbstorganisation des anderen zu tun beabsichtigt (Huschke-Rhein 1998b, 35).

In diesem ko-evolutiven Prozess entstehen und verändern sich Regeln und Regelhaftigkeiten, indem Systeme Strukturen ausbilden, die sich immer wieder transformieren. So gesehen, sind an Schule beteiligte Menschen füreinander Umwelten, bestimmen in Wechselwirkung Handlungsmöglichkeiten aber nicht das konkrete Handeln des anderen. Bei der Beobachtung von Regelhaftigkeiten und Musterbildungen von Individuen oder Gruppen und ihrer Kommunikation sind die Ebene des Verhaltens und die Ebene der verbalen Kommunikation zu unterscheiden. Zentrales Medium der Interaktion und Beziehungsgestaltung in der Schule ist letztlich – anders als Erwachsene oftmals meinen – die Ebene des faktischen Verhaltens. Konsequenzen und Angebote sollten sich daher eher auf sichtbares Verhalten beziehen als auf ein dahinter vermutetes letztlich unsichtbares Bewusstsein. Verhalten kann beschrieben werden. Von Beschreibungen sind Erklärungen und Bewertungen zu unterscheiden, die sich auf Unsichtbares beziehen und i.d.R. kommunikativ stärker expliziert und verhandelt werden (müssen) als Beobachtungen.

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Erwartet man Verhaltensänderungen vom Schüler, so ist es sinnvoll, zunächst sein eigenes Interpretieren und Handeln zu verändern, da über Rückkopplungen zwischen Systemen im Interaktionskreislauf sich das Verhalten des anderen verändern kann (Molnar/Lindquist 2002,28ff, Schlippe 2006,39f). Erziehungsprozesse bieten aufgrund ihres zirkulären Charakters allen beteiligten Systemen, z.B. Kindern wie Erwachsenen, die Möglichkeit, für ihr (persönliches) Wachstum zu profitieren. Der Spruch, dass Kinder eine gute Erziehung seien188, beleuchtet diese Beidseitigkeit.

Menschliches Handeln ist ohne Kenntnis der Kontextbedingungen nicht zu verstehen. Auch die Bearbeitung von Schulproblemen sollte sich daher nicht auf den Blick ins ‚Innere’ eines Symptomträgers beschränken. Aus systemisch-familientherapeutischer Sicht ‚stammen’ viele Schulprobleme ‚aus’ der Familie, in der Wahrnehmungs-, Interpretations- und Interaktionsmuster erlernt werden, die dann Kompetenzen darstellen, die in die neuen sozialen Beziehungen (in der Schule) mitgenommen werden. Aus allgemeiner systemischer Sicht kann eher allgemeiner formuliert werden, dass Schulprobleme häufig mit der Familiensituation ‚zu tun haben’ (Hubrig/ Herrmann 2005, 39f), - diese Formulierung zeigt stärker Wechselwirkungen und die Gleichrangigkeit möglicher Kooperation zwischen Schule und Elternhaus auf. Auch Klasse und Lehrer spielen eine Rolle, die aber als „nicht so elementar wie die der Familie“ gesehen wird (Hubrig/ Herrmann 2005, 39).

In einem zirkulären Prozess wirken Systemregeln auf den einzelnen, zugleich können Veränderungen in Konstrukten oder Handeln einzelner Interaktionspartner zu einer Veränderung von Regeln und Handeln im System führen (Kap.8.1). Dies gilt besonders für Krisenzeiten (Käser 1998, 50). Allen an einem System Beteiligten (Klasse, Beratungssystem, Schule usw.) bleiben in Kulturen (d.h. in handlungsleitenden Bedeutungsstiftungen in einem System) Möglichkeitsräume für eigenes Handeln. Und insofern müssen Schüler und Eltern bei aktuellen oder lebensgeschichtlich schwierigen Situationen Verantwortung übernehmen. Ebenso können auch Schule und Lehrer sich nicht von Verantwortung frei sprechen, da Schülerverhalten zwar zunächst zuhause gelernt aber durchaus weiter beeinflusst wird von Schule und Lehrern, deren Handlungen sowohl eskalierend als auch deeskalierend sich auswirken können (Kreter 2005, 71).

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Das Schulhaus selber kann als System mit Subsystemen, als „Einzelschule als Gemeinschaft von Teilkulturen“ (Göhlich, 1998, 137) gesehen und analysiert werden. Mehr dazu in Kap.11). Manche systemische Autoren betonen bestimmte Aspekte, die sie als zur Analyse von und Entwicklungsarbeit mit Systemen wie z.B. Klassen, Kollegien und Familien hilfreich beschreiben (bspw. Kibéd/Sparrer 2000). Mehr dazu auf S.457.

In den Kapiteln 7.3 bis 7.5 wurden die zentralen Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes ausgeführt und erste Konsequenzen für systemisch-konstruktivistische schulpädagogische Sichtweisen gezogen. In den folgenden Kapiteln werden – jeweils unter spezifischen Begrifflichkeiten – weitere Implikationen aus den aufgeführten Denkvoraussetzungen des Ansatzes dargestellt. Zunächst wird – unter Rückgriff auf Kap.4.4.2 – der systemisch-konstruktivistische ‚Wissens-‚ und ‚Wahrheits’-Begriff ausgeführt und auf seine pädagogischen Konsequenzen hin befragt.

7.6 Implikationen des Wissens- und Wahrheitsbegriffs

Konstruktivistisch betrachtet, muss Wissen von jedem Lernenden selbst aufgebaut werden (Kap. 4.4.2), es ist Ergebnis von Konstruktions- und (An-)Passungsleistungen. Der Erwerb von Wissen geschieht in einem aktiven, selbstgesteuerten, konstruktiven, situativen und sozialern Prozess (Kösel/ Scherer 1997, 106-110). Diese aktive Orientierung des systemisch-konstruktivistischen Lernbegriffs beinhaltet eine instrumentalistische Dimension, nach der ‚Wissen’ nicht ein Selbstzweck ist sondern stets ein Mittel, um zu Zielen zu gelangen, die der einzelne jeweils selber wählt (Glasersfeld 1992, 15). Wissen kann damit gemessen werden an seiner Tauglichkeit, um Ziele zu erreichen. Bei diesen Zielen kann es sich um Erklärungen, Vorhersagen, Kontrolle oder Steuerung bestimmter Erlebnisse handeln (Glasersfeld 1994, 30,21). Wissen zeichnet sich mithin durch Relevanz (Bedeutsamkeit für das Subjekt) und Viabilität (vorläufige Nützlichkeit) aus, wie schon bei den Forschungskriterien gesehen (Kap.4.8.2).

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Wissenskonstruktion geschieht in Form von Beobachtung und ausdifferenzierender Begriffsbildung in kommunikativen Umfeldern. Wissen und Wahrheiten sind also individuell beobachterabhängig und sozial kommunikations- bzw. verhandlungsabhängig. Damit sind sie relativ, bleiben immer vorläufig und hinterfragbar. Außerdem geraten auch Sprache (Kap.7.7) und Kommunikation (Kap.7.8) in den Blickpunkt, denen eigene Kapitel gewidmet sind. Hier sei nur noch einmal angemerkt, dass – gemäß dem sozialen Konstruktionismus - der fortgesetzte soziale Austausch intersubjektive Anpassung mit sich bringt, sobald der Sprecher bemerkt, dass das, was er sagt, seine beabsichtigte Wirkung nicht erzielt. Verstehen bedeutet nur die „vermeintliche Kompatibilität von Begriffen und Vorstellungen“ (v.Glasersfeld 2003, 33).

Dieser systemisch-konstruktivistische Wissens-, Verstehens- und Wahrheitsbegriff enthält wesentliche Hinweise an eine postmoderne Pädagogik. Wahrheit und Wissen sind abhängig von individuellen Konstruktionsleistungen und von sozialen Kontexten ihrer Benutzung. Außerdem hat sich die Geschwindigkeit, in der soziales Wissen sich in (zunehmend postmodernen) Gesellschaften wandelt und überlebt, extrem beschleunigt. Die postmoderne Unmöglichkeit, Wissen zu ritualisieren bzw. es sich verselbstständigen zu lassen (Landwehr 1994), führt zu einer Verwendung von Wissen (als maximal vorläufiger ‚Wahrheit’), die stets Kontexte der Entstehung und Anwendung von Wissen mitbedenken und ggf. (gerade in Schule) entmystifizierend mitbenennen muss. Soziokulturelle Muster sind (gerade in gesellschaftswissenschaftlichen und philosophisch-religiösen Fächern) explizit zu machen, auf ihre Ursprünge und Konsequenzen hin zu befragen und auf dem Hintergrund bestimmter Moralvorstellungen bei Bewusstheit für die eigenen Denkvoraussetzungen zu bewerten.

Wahrheit und Wissen sind abhängig von Beobachtung. Zwischen dem Vollzug von Wissen und seiner Beobachtung und Beschreibung ist zu differenzieren (S.J.Schmidt 2005a, 108). Das impliziert für den Lehrer, dass er nicht mit Wahrheitsanspruch auftreten kann. Dies betrifft auch den Bereich der Beziehungsgestaltung: Lehrer können ihre Schüler und Beratungsklienten nicht wirklich kennen. Daraus folgert sich die systemische Haltung der Neugier, will man den anderen überhaupt, ggf. neu und vielfältiger kennen lernen. Insofern als Wissen über den Wissensstand von Schülern ebenfalls nicht absolut wahr sein kann, können Noten auch niemals absolut gerecht sein, vielmehr sind sie um so stichhaltiger zu begründen. Solche Begründungen müssen an beobachtbarem Verhalten und konkreten Beispielen festmachen (bzw. festgemacht werden können). Die Sichtweisen von Lehrer und Schüler zum Leistungsstand des letzteren sind dann in kommunikativen Prozessen frühzeitig und immer wieder abzuklären, Kriterien und Modi von Beobachtung und Rückkopplung zu explizieren und in Teilen verhandelbar (Heuwinkel 2002, Honisch 2004). Lehrer treffen Auswahlentscheidungen im besten Fall also mittels begründeter Vermutungen, die rechtlich haltbar sein müssen.

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Unter Aspekten von Postmoderne ist in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft v.a. strukturverändernde, kreative Wissens(an)passung von großer und wachsender Bedeutung. Damit wird der Erwerb ausgefeilter Fertigkeiten des Umgangs mit Wissensbeständen – Erwerb, ‚Verwaltung’, Überprüfung, Erweiterung von heuristischen Konstrukten - für Pädagogik zentral. Dies ist ein „Wissen über Wissen“ (Martin/ Schuster 2005, 37). Zum Bewusstsein der Konstruktivität menschlichen Wissens gehören als Konsequenz auch reflexive Urteilsfähigkeit sowie Urteilsvorsicht, also die ständige Bereitschaft zur Überprüfung kognitiver Konzepte. Ebenfalls sollte das Meta-Wissen bewusst gemacht bzw. gehalten werden, wie eine solche Überprüfung und Wirklichkeitsherstellung stattfindet, nämlich mittels Wiederholung und mittels Abgleich mit anderen (Glasersfeld 1992, 32f, 37). So gesehen ist Wissen auch „eine Kompetenz, die zum verantwortlichen Umgang mit Nicht-Wissen und mit Ungewissheit befähigt“ (Siebert 2005b, 82).

Vom Nicht-Wissen lässt sich das Konzept des ‚negativen Wissen’ (Oser/ Spychiger 2005) unterscheiden. Unter Rückgriff auf die Idee von Beobachtung als Unterscheidung und Bezeichnung (Abb. 4-3, S.51) geht Oser davon aus, dass im Bezeichneten das Gegenstück immer –

zumindest unbewusst – mitgedacht werden muss und daher zumindest unbewusst präsent ist.189 Dass Menschen letztlich nur lernen, was etwas ist, indem sie ausschließen, was es nicht ist, wurde schon in Kap.4.4.2 an der Metapher des blinden Wanderers im Wald (Glasersfeld 1992, 21) ausgeführt: Menschen finden ihren Weg durch den Wald, indem sie ausschließen, wo Hindernisse (‚Bäume’) sich ihnen im Weg befinden.

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Das unbewusst Mitgedachte – der zweite Teil des Gegensatzpaares, der mitassoziierte ‚Nebentreffer’, die falsifizierte (durchaus auch moralische) Hypothese - bezeichnet Oser als ‚negatives Wissen’: „Menschen haben Sicherheit in ihrem Wissen, weil sie erfahren, erdacht oder rezipiert haben, wo dieses nicht zutrifft“ (Oser/ Spychiger 2005, 12). Ohne negatives Wissen ist Orientierung – so eine grundlegende konstruktivistische Idee190 - nicht nur nicht möglich, sondern negatives Wissen kann sogar explizit als vorhandenes, gebrauchsrelevantes, subjektiv bedeutungsvolles, lebendiges „Schutzwissen als Resultat negativer Fehlererfahrungen“ (Oser/ Spychiger 2005, 42) gesehen werden. Falsches nimmt hierbei eine handwerkliche Funktion ein, indem es die - dem Erkenntnisprozess des nunmehr Richtige(re)n - vorausgehende Einsicht bereitstellt.

Fehler machen zu können, ist also nicht nur unvermeidlich, sondern in Schule in einem schützenden und lernförderlichen Rahmen, insb. in einem „Vertrauensverhältnis, also ohne zu beschämen“ zu ermöglichen (Oser/ Spychiger 2005, 13). Dabei sind Fehler in entscheidbaren Fragen (Foerster 1998, 159f) als Fehler durch den Lehrer zu benennen, dann aber unbedingt für den weiteren Prozess nutzbar zu machen: Die Bekämpfung von Fehlern „gelingt eben dann besonders wirkungsvoll, wenn sie in der Schule vorübergehend akzeptiert und anschließend bewusst verbessert werden“ (Ehlers 2007, 31). Es geht in Schule dann um ein Denken, dass weniger das Richtige betont als vielmehr Spannungsverhältnisse: „die Spannung zwischen dem Richtigen und dem Falschen, [...] zwischen dem Guten und dem Schlechten“ (Oser/ Spychiger 2005, 16). Allerdings muss in der Postmoderne, worauf Oser kaum eingeht, deutlich zwischen ‚entscheidbaren’ (und damit vom Lehrer eindeutig korrigierbaren) Fragen und ‚nicht-entscheidbaren Fragen’191 unterschieden werden. Antworten auf letztere sind in der Pluralität der Postmoderne nicht eindeutig vorgegeben. Hier kann und muss Schule das eben angesprochene Spannungsverhältnis besonders thematisieren, das allerdings – insb. in moralischen Fragen, um die es hier v.a. geht – je individuell zu beantworten ist. Das jeweilige Schulhaus bzw. der jeweilige Lehrer kann und muss für sich zwar nach Regeln und Regelhaftigkeiten im Zusammenleben suchen und diese öffentlich machen, er kann sie auch einfordern, aber nicht als das absolut und per se Richtige.

Insofern ließe sich sagen, dass gegenüber früher der bewusste Umgang mit einem Konzept negativen Wissens nicht nur notwendiger sondern auch schwieriger geworden ist, weil die Grenzen zwischen Richtig und Falsch unklarer geworden sind (Ehlers 2007, 33). Das verändert nichts am Spannungsverhältnis von Lernen als letztlich individueller Konstruktion des Richtigen gegenüber dem Falschen, wohl aber am Umgang mit diesem Spannungsverhältnis, der vom Lehrer (und Schüler) Klarheit in der Ambivalenz und Metaebenendiskussionen abverlangt.

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Die Relativität von Wissen und Wahrheit muss sich auch auf sprachlicher Ebene niederschlagen.

7.7 Implikationen für die pädagogische Verwendung von Sprache

Kognitive Prozesse sind zirkulär über Sprache bzw. sprachliche Konstrukte organisiert. Kenntnis, Wissen, Verstehen sind Aktivitäten, die v.a. vermittels Sprache strukturiert werden und Sprache zum zentralen Medium der Wirklichkeitserzeugung machen. Wahrnehmung, ‚Informations’-Verarbeitung und Handeln sind also von den – letztlich v.a. sprachlichen - Konstrukte im Gehirn des Menschen abhängig. Sprache ist quasi Speicher von (Sprach-)Differenzierungen und Weltbild, und als solcher kommt ihr aus systemisch-konstruktivistischer Sicht zentrale Bedeutung für Pädagogik und Lernen zu. Die Konstruktionen von Welt und Selbst sind auch linguistischer Art und nicht nur psychologischer, biologischer oder kognitiver. Konstruktionen erlangen ihre (auch soziale) Bedeutsamkeit nicht nur dadurch, dass sie unsere Handlungen vom Kopf her dirigieren, sondern indem wir sie in unseren Beziehungen mit anderen benutzen und sie sich dort viabel zeigen. Schon Piaget hatte „die Notwendigkeit der Aktion als eine Voraussetzung für Perzeption, die wiederum die Voraussetzung für neue Aktion ist“ (Foerster 1992, 70), betont.

Sprache ist damit immer auch Interpretationsrahmen bzw. Weltbild im Wittgenstein’schen Sinne. Sie ist individuelles Konstrukt, das in Abgleich mit anderen entsteht. Sprache konstruiert Wirklichkeit und trägt Vorannahmen. Hier kommen wieder die Schwerpunktsetzungen v.a. des sozialen Konstruktionismus aber auch des radikalen Konstruktivismus zum Tragen: Die Macht, die eingebürgerte Begriffe über unser Denken haben, lasse sich kaum überschätzen, so von Glasersfeld (1992, 14). Und Wissen wird nicht durch Wörter transferiert, sondern muss ihm „Kopf des Empfängers“ zu Bedeutung verarbeitet werden (v.Glasersfeld 1998, 36), wobei für die Konstruktion von Bedeutung die bisherigen (sprachlichen) Konstruktionen die Grundlage bilden.

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Sprache kann aufgrund der operationellen Geschlossenheit des Gehirns kein Transportmittel von Informationen sein. Auch wenn der Konstruktivismus diese Möglichkeit der Sprache in Abrede stellt, betont er doch Sprache als das „Hauptwerkzeug des Schullehrers“ (v.Glasersfeld 1998,36; Meyer 2006). Was Sprache nämlich auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund durchaus vermag, ist, Lernende beim Aufbau von Begrifflichkeiten und ihren assoziativen Netzwerken zu ‚orientieren’, indem die potentiell unzähligen Möglichkeiten von Sprach- und Wirklichkeitskonstruktionen eingeschränkt werden.192 „Sprache also ist in der Schule ein unersetzliches Instrument. Sie erlaubt es, den Schülern Denkwege und Begriffsbildungen zu verbauen, die vom Gesichtspunkt der Lehrer unfruchtbar sind, und sie andererseits in die gewünschte Richtung zu lotsen“ (v.Glasersfeld 1998, 39). Außerdem verlangt Sprachverwendung im Unterricht bei der Beschreibung eines Gegenstands oder Tuns auch eine Reflexion und Rechenschaftslegung, was und wie man wahrnimmt, erklärt und bewertet. Dieses Vorgehen – insb. in Gruppenprozessen - steigert die Wahrscheinlichkeit für Verstehen als Transformation kognitiver und Sprach-Strukturen und verringert die Möglichkeit bloßer Verhaltensveränderung (Glasersfeld 2003, 32).

Aufgrund ihrer zirkulären Struktur tendiert Sprache dazu, sich in einem System (sei es ein Individuum oder eine Sprachgemeinschaft) selbst zu bestätigen.193 Pädagogen müssen sich über die Reflexivität und wirklichkeitsbegrenzende Funktion von Sprache im Klaren sein und dies auch lehren, d.h. versuchen, die Konstruiertheit von Begrifflichkeit ihren Schülern zu vermitteln. Allerdings müssen die Schüler selber überprüfen, ob die so in ihnen konstruierten Landkarten und Bilder mit ihren Lebenssituationen vereinbar sind. Verstörungen an dieser Stelle können den zirkulär selbstbestätigenden Kreislauf von Sprache unterbrechen.

Da Kommunikation und Sprache Denken und Handeln mit beinhalten und da Sprache das Medium gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion ist, ist systemisch-konstruktivistische Erziehung immer auch reflexive Denk- und Spracherziehung (Wyrwa 1996). In ihr geht es darum, über SPrachverwendungBegriffe und Konstruktionen in Frage zu stellen, Konzepte auf ihre Viabilität zu prüfen, Pluralität anzuerkennen und Argumente vorbringen zu können, durch nicht-triviale Fragen gemeinsame Suchprozesse (auch in sozialen Beziehungen) auszulösen. Eine postmodern-konstruktivistische Sprachkultur übt also eine „Sprache, die auf endgültige, dogmatische Behauptungen verzichtet, die Mehrdeutigkeiten akzeptiert, die andere Sichtweisen zulässt und [...] verständigungsorientiert“ ist (Siebert 2005b, 119). In dieser Sichtweise kann der Uneindeutigkeit von Sprache die Funktion zuerkannt werden, die Autonomie des einzelnen zu sichern (Palmowski 2000b, 52).194

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Die bisherige Schilderung von systemisch-konstruktivistischen Prämissen und pädagogischen Folgerungen führt auch zu wichtigen Konklusionen für schulische Pädagogik im Bereich der Kommunikation als nicht zuletzt sprachlicher Ausdruck von Konstrukt(mitteilung)en und System(kopplung)en.

7.8 Implikationen für pädagogische Kommunikation

Kommunikation und insb. Gesprächsführungskompetenzen (Voß 2000b, 29) stehen im Mittelpunkt von Erziehung als Prozess (Büeler 1998, 46). Sie ermöglichen die Koordination zwischenmenschlicher Handlungen auf der Grundlage kognitiver Selbststeuerung. Da Kommunikation auf Sprache basiert, stellt sie immer auch einen schon kulturell vorgegebenen Rahmen dar (Siebert 2005b, 24). Schulische Kommunikation hantiert mit pädagogischen Wirklichkeitskonstruktionen als einem verständigungsorientierten, interaktionistischen und (aus der Außenperspektive betrachtet:) niemals herrschaftsfreien Raum von Beobachtungen (Reich 1999, 79).

Vielleicht der grundlegendste Unterschied, den der systemisch-konstruktivistische Ansatz im Bereich der Kommunikation einführt, ist die deutliche Trennung von Beziehungs- und Objektebene. Dabei besitzt der Beziehungsaspekt Vorrang vor dem Inhaltsaspekt, da Bedeutung letztlich im Kontext von Beziehungen entsteht (Watzlawick 1983, 75ff).Luhmann setzt Beziehung letztlich mit Kommunikation (und umgekehrt) gleich, womit Beziehung und Kommunikation im Mittelpunkt systemisch-konstruktivistischer Überlegungen zu Erziehung und Pädagogik stehen. Selbst dann, wenn man der Luhmann’schen Position nicht folgen mag, wird in den kommenden Kapiteln deutlich werden, dass Kommunikations- und Beziehungsgestaltung im Erziehungs- und pädagogischen Prozess von zentraler Bedeutung ist. Viele Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern drehen sich um Sinn, Berechtigung und Kontexte erzieherischen Handelns. Erziehung findet, so gesehen, ganz wesentlich im Gespräch statt, und Pädagogen müssen dann in erster Linie Kommunikationsspezialisten sein (Rotthaus 1999a, 108,116), die sich darüber im Klaren sind, dass Kommunikation immer nur „Orientierungshandeln“ sein kann (Krüssel 1997, 95).

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Teil dieser kommunikativen pädagogischen Professionalität ist also ein hohes Bewusstsein für kommunikative Prozesse. Für Schule lassen sich ausdrücklich die folgenden Aspekte benennen. Die asymmetrische politische Machtverteilung in der Schule mit ihrer Ausrichtung an Leistungsergebnissen begünstigt eine asymmetrische Kommunikation im Klassensaal. Über die Zensuren, teilweise auch über die konkreten Bewertungskriterien und Inhalte, bestimmt (und hat zu bestimmen) der Lehrer, der selber unter dem staatlichen Druck steht, für möglichst viele seiner Schützlinge für möglichst gute Abschlüsse zu sorgen, während er gleichzeitig das Notenspektrum ausschöpfen und so nachweisen muss, dass er gerecht bewertet. Zum Ausdruck kommt diese Macht insbesondere in der Art des Fragens: Der Lehrer kann durch die Rahmenbedingungen dazu verführt werden, triviale Fragen zu stellen, auf die er bereits die Antwort kennt, statt nicht-triviale, die zu einem gemeinsamen Sprachspiel von Such- und Reflexionsprozessen einladen können (Foerster 1997, 20ff).

Foerster (1997, 29) unterscheidet in diesem Zusammenhang entscheidbare von unentscheidbaren Fragen. Entscheidbare Fragen sind kontextbestimmt und verlangen standardisierte Antworten. Sie können für die heutige Schule noch immer als Regelfall angesehen werden. Die schulische Kontextdeterminierung geschieht bspw. durch curriculare Vorgaben, ein noch meist lediglich modernes, nicht-reflexives Forschungsverständnis und ein vorgegebenes Bewertungs- und Auswahlsystem. Diesen Kontext müssen Schüler berücksichtigen, um zu ihren Abschlüssen zu kommen. Entscheidungskriterien im schulischen Beurteilungs- und Auswahlkontext sind noch wesentlich auf der inhaltlichen Eben angesiedelt, statt auf der der formalen Operationen, wie für eine pluralistische Postmoderne eigentlich zu erwarten (Piaget 1991, Kegan 1991). In der von Ambivalenz gekennzeichneten, hochtechnisierten Postmoderne nehmen „prinzipiell unentscheidbare“ Fragen zu, deren Beantwortung nicht eindeutig vom Kontext (oder den Kontexten) vorgegeben ist und daher jeweils in Freiheit und Selbstverantwortung zu geschehen hat (Foerster 1997, 29). Der Lehrer kann hier keine eindeutigen Antworten lehren bzw. erwarten, sondern er muss helfen und begleiten, dass Schüler in die Lage versetzt werden, in einer komplexen Gesellschaft zunehmend selbstständig und kontextangemessen195 mit entscheidbaren Fragen umgehen zu können.

Die derzeitige Praxis in Schule hingegen sichert dem Pädagogen über die Art der Organisiertheit des Kontextes eine Machtposition zu, die u.a. über die Trivialisierung von (postmodernen) Fragen geschieht: „Fragen zu stellen, wenn sie nicht dazu dienen, ein Gespräch wirklich in Fluss zu halten und nicht wirkliches Interesse an der anderen Person dahinter steht, kann ein Versuch sein, die befragte Person zu dominieren. [...] Dies gilt insbesondere dann, wenn der eine konstant der Fragende, die andere durchgängig die Befragte bleibt, ein Gespräch also nicht symmetrisch ist. Wir werden ärgerlich, wenn wir durch Fragen in eine Ecke gedrängt werden“ (Kast 2002, 177). Auch196 deshalb können Schulen als „Trivialisierungsanstalten“ bezeichnet werden (G.Schmidt 2004b, Sem.2, cd1, 1:30). Huschke-Rhein stellt in Frage, inwieweit bzw. ob überhaupt noch das System Schule als anschlussfähig an die Lebenswelt der Schüler einzuschätzen ist (Huschke-Rhein 1997, 33).

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Der Sozialkonstruktionismus sieht Kommunikation nicht als Informationsaustausch sondern als parallele bzw. gemeinsame Informationskonstruktion. Die Gemeinsamkeit von Sprache kann dennoch die Illusion erzeugen, dass der Kommunikationspartner die Wirklichkeit so sähe wie man selbst (Watzlawick 1991, 86). Das kann dazu führen, dass Pädagogen übersehen, dass entwicklungsfördernde ‚Informationen’ sowohl sich ankoppeln und insofern Altes enthalten müssen, als zugleich auch ‚akkomodierbares’ Neues enthalten sollten. Soll Kommunikation explizit Suchprozesse auslösen, wie das nicht nur für Beratung sondern auch für pädagogische Situationen gilt, sollte „angemessen ‚ungewöhnlich’ “ gefragt werden (Hennig/ Knödler 2000, 154), sollte neben einem Drittel Altem und einem Drittel Neuem auch ein Drittel Unverständliches bzw. Verwirrendes mitgeteilt werden (Schumacher 2002), so dass es zu „Momenten der dosierten Instabilität“ kommen kann (Huschke-Rhein 1998b, 105). Nicht-triviale Fragen erhalten ihre Relevanz vor diesem Hintergrund.

In solchen instabilen Momenten gilt vermehrt, was ohnehin für Kommunikation gilt, dass es nämlich im pädagogischen Kommunikations- und Lernprozess an einer Vielzahl von Stellen zu „Störungen“ kommen kann. Missverstehen ist „das Normale, Verstehen die Ausnahme“ (Roth 2001, 367.). Watzlawick bezeichnet „Konfusion als das Spiegelbild der Kommunikation“ (Watzlawick 1993a,13.; vgl.a. 1983,36). Das soll an zwei Schaubildern kurz erläutert werden.

Zum einen laufen wesentliche sprachliche Prozesse - nicht direkt beobachtbar - im Inneren der Individuen ab. Dabei entstehen interaktionelle Kreislaufprozesse, von denen im Regelfall wesentliche Teile (= graue Kästchen) verborgen bleiben und zu Missverständnisse führen können:

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Abb. 7-5: Kommunikation als teilverdeckter interaktioneller Kreislaufprozess (nach: Hennig/ Knödler 2000. S:155.)

Eine andere aufschlussreiche Art der Darstellung von möglichen „Störungsstellen“ in pädagogischen Kommunikations- und Lernprozessen betont ebenfalls die Schwierigkeit gelingender Kommunikation angesichts der Notwendigkeit und Komplexität konstruktiver Leistungen .

Abb. 7-6: Störungsmöglichkeiten pädagogischer Kommunikation (Rademacher/Philipp 2002, 72)

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Diese Störungspotenziale und das Primat von Beziehung (gegenüber der Sachebene) verlangen vom Pädagogen, immer wieder auf der Meta-Ebene abzuklären, wer was wann wie meinte und wie gerade kommuniziert wird. Unbehagen über kommunikative Ungewissheit kann solche Abklärungsprozesse verstärken (Watzlawick 1993a, 39).

Gegenüber der humanistischen Psychologie gewinnt die appellierende Qualität von Kommunikation erhöhte Bedeutung. Die systemisch-konstruktivistische Betrachtung geht wie andere Annsätze ebenfalls davon aus, dass Menschen (z.T. auch unbewusst) zielgerichtet und zweckdienlich kommunizieren und sich verhalten (Schlippe/ Molter/ Böhmer 1995, 23-25), jedoch werden hier aufgrund der erhöhten Kontextrelevanz interaktionelle Auswirkungen vergleichsweise stärker betont. Der Aspekt von über eigenes Verhalten bei anderen hervorgerufenen Reaktionen, also der kommunikativen Wirkung auf Umwelt, könnte als ‚Appell-Kommunikation’ oder ‚strategische Kommunikation’ bezeichnet werden. Damit ist nicht gemeint, dass unbedingt bewusst manipuliert werden soll, sondern dass (zum Teil eher unbewusst) Kommunikation sozial-interaktive Ziele verfolgt. Die Auswirkungen z.B. von Weinen auf die Umwelt verdeutlicht folgende Zeichnung:

Abb. 7-7: appellierende Kommunikation (nach Schlippe u.a. 1995, 25.)

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Unterricht kann dementsprechend als Inszenierung verstanden werden, bei der Lehrer und Schüler aufeinander einwirken, ohne dass jemand genau wissen kann, was die anderen wirklich denken und fühlen. Zwar sind in einem solchen Theater mit seinen täglichen Proben die Rollen meist vertraut (Palmowski 1997a, 46), aber umgegangen wird hierbei letztlich nur mit konstruierten Selbst- und Fremdbildern (Siebert 2006, 163). Kommunikative Äußerungen und Rolleninszenierungen verfolgen z.B. häufig Ziele, die nicht der offiziellen Version entsprechen, aber so verpackt werden müssen, dass die dem situativen Kontext Schule entsprechen. Schüler (Eltern, Kollegen, Schulleitung) bleiben also „für einen Lehrer ein Geheimnis“, was durchaus die Neugierde des Lehrenden hervorrufen kann. Verständigung in Unterricht und, genereller, in Schule können insofern „als Orientierungshandeln interagierender Kommunikationspartner“, die Bedeutungen aushandeln, angesehen werden (Krüssel 1997, 96,vgl.101).

Zugleich vermag der Lehrer aufgrund seiner Außenperspektive Beobachtungen zu machen, die ein Schüler aus seiner Innenperspektive nicht sieht, so dass ein anregendes Feedback möglich werden kann (Siebert 2005b, 74). Das gesagte gilt auch umgekehrt (Außenperspektive des Schülers auf den Lehrer), wobei hier Feedbackschleifen institutionell noch weniger vorgesehen sind.

Da Sprache Weltbilder entwirft und ausdifferenziert, kann Sprache genutzt werden für die Konstruktion vielfältiger Wirklichkeiten und die Erhöhung von Handlungsmöglichkeiten. Sprachbildung, Sprachsensibilisierung und Diskursfähigkeit sind dann auch Selbstbildung, Identitätsentwicklung und politische Bildung (Siebert 2005b, 57ff). Dies hat Folgerungen für die Dialogfähigkeit im Unterricht. Es geht eher weniger um Dialoge im Sinne der Gegenüberstellung zweier Monologe mit dem Ziel der Positionierung auf einer (der ‚richtigen’) Seite der Unterscheidung und eher mehr um einen bereichernden, Wirklichkeit differenzierenden Austausch von Argumenten, die neue Einsichten ermöglichen (Gergen 2006, 40). Gefragt sind Mittel dialogischen Handelns, die zur Wertschätzung und Erweiterung von Ideen, zu Neugier, zu Zweifel an den eigenen Prämissen und Argumenten, zum Fragen nach den Meinungen der anderen und zu humorvollen, freundlich ironisch-selbstdistanzierten Umgangsweisen miteinander einladen. Die Wertschätzung der Ambiguität einer Vielzahl von Ideen steht in der Postmoderne über der (Selbst)Verteidigung eindeutiger Ergebnisse (Gergen 2006, 40). Auch hier gilt: Nicht-triviale Fragen erhalten ihre Relevanz vor diesem Hintergrund.

7.9 Implikationen für den Lernbegriff

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Die zentralen schulpädagogischen Prozesse von Lehren und Lernen müssen in der Postmoderne einen relativierten und stets sprachlich vermittelten Begriff von konstruiertem Wissen berücksichtigen. Sie sind, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, schon allein aufgrund ihrer Angewiesenheit auf Sprache rekursive wirklichkeitskonstruierende Prozesse, in denen Lehrer und Schüler einen gemeinsamen und individuellen Wissensproduktionsprozess gestalten, in dem und indem „sie als Co-Produzenten ihre jeweiligen Lebens- und Lerngeschichten erfinden“ (Voß 2000b, 33). Lernen wird in einer solchen Beschreibung weit gefasst, was zu den in der Postmoderne ausgeweiteten Lernanforderungen passt. Da Lernen in Schule ohnehin einen zentralen Stellenwert einnimmt, sollen hier verschiedene Aspekte des schulischen Lernens aus systemisch-konstruktivistischer Sicht eingehend betrachtet werden.

Zunächst wird der systemisch-konstruktivistische Lernbegriff genauer gefasst (Kap.7.9.1) und ebenso wie postmoderne Anforderungen an lebenslanges Lernen (Kap.7.9.2) auf pädagogische Konsequenzen untersucht. Aus diesen Ausführungen ergibt sich die Forderung nach einer anderen (schul)pädagogischen Kultur des Umgangs mit Fehlern (Kap.7.9.3). Angesichts der Bewertungs-, Auswahl- und Kontrollfunktionen von Schule werden Implikationen von Konstrukten ungenügenden Lernens in einem eigenen Kapitel behandelt (Kap.7.9.4). Abschließend werden Konsequenzen für eine systemisch-konstruktivistische Didaktik kurz dargestellt (Kap.7.9.5).

7.9.1 Lernen zwischen operationaler Geschlossenheit und Verstörung

Lernen197 ist auf der einen Seite „stets ein aktiver, innengesteuerter Selektionsprozeß“ (Simon 2002, 152), also abhängig von den vorhandenen kognitiven Strukturen, die sich über relevante Unterschiedsbildungen ausdifferenzieren (Simon 199b). Lernen ist, so gesehen, immer Entscheidung für bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen und für Menschen immer auch „der Preis für Handlungsfreiheit und Flexibilität“ (Renoldner et al 2007, 60). Welche Anregungen überhaupt wahrgenommen werden, und ob sie als Verstörungen verarbeitet werden oder problemlos innerhalb der vorhandenen Gehirnstrukturen ‚abgelegt’ werden, darüber entscheidet der jeweilige Organismus selbst (und nicht eine Lehrerin oder Beraterin). Diese Emergenz von Kognition und Konstruktion198 stellt „eine Kränkung traditioneller [...] Pädagogik“ und ihrer Machbarkeitsfantasien dar (Siebert 2005b, 61). Der systemisch-pädagogische Konstruktivismus betont, passend zur Postmoderne, die Individualisierung des Lernens: Schüler „sind lernfähig, aber nicht belehrbar“ (Siebert 2005b,63). Lehren ist dann nicht mit Lernen gleichzusetzen, sondern beschränkt sich auf angemessene Verstörung und u.U. Vorschläge und gemeinsame Reflexion über neue, möglicherweise ebenso viable sogar viablere Konstrukte.199

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Auf der anderen Seite wird Lernen aber von aus der Umwelt stammenden Perturbationen angeregt und ist mithin abhängig von Kontexten. Insofern als in der Postmoderne Kontexte zunehmend komplex werden, werden auch Modelle von Denken und Lernprozessen ausdifferenzierter. Zu den Kontexten gehören u.a. die Bedingungen der Institution Schule, die teilweise wenig Relevanz für die Schüler besitzen. Gerade in pluralen Gesellschaften ist ein schulisches Lernen anhand der jeweiligen Lebenswirklichkeit der jungen Menschen oft nur schwer zu leisten. Für den Pädagogen am ehesten zu beeinflussender Kontext ist das kommunikative Beziehungsgeschehen mit und zwischen den Schülern. Lernen gedeiht tendenziell umso erfolgreicher, desto anregender und entspannter der gemeinsame Bedeutungsraum sich entwickelt (Renoldner et al 2007, 59). Denn Lernen wird systemisch-konstruktivistisch als ein zirkulärer, ko-evolutiver Prozess von Individuum und seiner Umwelt verstanden (Siebert 2005b, 51). „Ob, wie und was gelernt wird, wird zwar nicht von der Umwelt determiniert, aber doch von den Kontexten ‚ermöglicht’“ (Siebert 2005b, 39). Der Lehrer muss dann „Experte sein für die Organisation der Selbstorganisation der Schüler“ (Palmowski 2004a, 53). Das bedeutet auch eine Pluralität der Wege, wobei Lernprozesse „nur als Vollzug von Selbstlernen, also von Selbstorganisation konzipiert“ (S.J.Schmidt 2005a, 105) werden können und sich als nützlich für das (Über)Leben des Individuums erweisen müssen.200

Auch schulisches Lernen geschieht nicht über einen direkten Transfer von Information und Daten201, sondern ist eigenständige Tätigkeit des Schülers. Konstruktivistisch gesehen, lässt es sich nicht vermeiden, dass Lernprozesse angesichts der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion mitunter ‚ungeplant’ und unbewusst, entgegen den Absichten von Lehrenden verlaufen. Verstehen und Handeln sind dabei eins, da Handeln aus den kognitiven Strukturen entspringt und diese rekursiv wiederum formt.202 Lernen als selbstständige Konstruktionsleistung findet letzten Endes v.a. als experimentelles, teilweise unbewusstes, sich selbst befragendes Erfahrungslernen statt. Das führt dazu, „dass wir weit mehr lernen, als wir wissen, dass wir jedoch weit weniger verstehen, als wir gelernt haben, dass aber das, was wir verstehen, stets mehr umfasst, als gelehrt wurde“ (Völkel/ Völkel 2005, 238 in Anlehnung an Polanyi 1985). Wichtig dabei sind die Relevanz des Lerngegenstands, ob er also für das Selbstkonzept als Bereicherung empfunden wird, und die Authentizität der selbstgemachten Erfahrung und Entdeckung. „Relevante Lernziele müssen selber entdeckt werden“ (Siebert 2005b, 37), denn Schule und Lernen müssen unter autopoietischen Aspekten dem eigenen Leben dienen (Huschke-Rhein 1997, 34f).

Ob ein Kind lernt, entscheidet es gemäß der hier vorgestellten Sichtweise selber: „Deutet es die Außenreize als erzieherisch intendiert, wird es sich ‚entscheiden’ (im Sinne eines oft nicht bewussten affektiv-kognitiven Prozesses), ob es sich erziehen lassen will oder nicht. Das Kind wird also darüber bestimmen, ob es der ‚Autorin’ (Willke 1994) der erzieherischen Intervention die Rolle einer Erzieherin zubilligt, beispielsweise ob es sie als reifer, erfahrener und wissender akzeptiert und ob es für sich selbst die Rolle des Zu-Erziehenden annehmen mag“ (Rotthaus 1998, 36). Die subjektive Akzeptanz einer asymmetrischen Erzieher-Zögling-Beziehung ist eine Entscheidung des Schülers.

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Systemisch-konstruktivistisch gesehen, ist von außen (z.B. vom Schüler in der Schule) gefordertes Lernen nicht per se gut, sondern stets ambivalent zu beurteilen: ‚Nicht-Lernen’ (bei aus individueller Sicht Unnützem) und ‚Ver-Lernen’ (z.B. bei Symptomen) können unter praktischen Gesichtspunkten weitaus lohnender erscheinen als Lernen.203 Beide können Ausdruck der berechtigten (und vielleicht eher unbewussten) Forderung sein, die Umwelt (z.B. ein symptomgenerierendes familiäres oder schulisches Kommunikationssystem) solle sich anpassen (Simon 2002, 146,155). Lehre muss daher einen individuell zu verantwortenden Umgang mit Wissensbeständen anbieten bzw. anstreben. Lernen als aktiver (An-)Passungs- und Differenzierungsprozesse muss aus Sicht des Lernenden zum gegebenen Zeitpunkt sich als den eigenen Zielen dienend, lohnend darstellen. Eine Zeigefingerpädagogik kann autonome Individuen eher in eine Verweigerungshaltung bringen (Siebert 2005b, 95).

Wenn außerdem gilt, dass das Gehirn nicht nicht lernen kann, da es ständig Impulse verarbeitet, ergibt sich die Frage, wann es was wie lernt. Auf dem Hintergrund eines solchen aktiven Lernkonzeptes204 unterscheidet von Glasersfeld (1998, 35) konsequenterweise ‚Lernen’ gegenüber ‚Abrichten’ dadurch, dass erstes mit Verstehen, zweites nur mit strategischem Verhalten zu tun habe. S.J.Schmidt (2005a, 102) trifft eine ähnliche Unterscheidung: ‚Elementares Lernen’ stellt durch Synthetisierung von Erfahrungen neue Ordnungen her, Lernprozesse sind dann „Ordnung der Selbstveränderung im Zuge der Herstellung von Systemidentität“. ‚Funktionales Lernen’ hingegen ist lediglich „auf die soziokulturelle Organisation von Lernbestätigung ausgerichtet“.205 Auf eine dritte Art der Unterscheidung von Lernprozessen, Piagets Akkomodation und Assimilation, wurde bereits auf S.57 hingewiesen. Verstehen, also Veränderungen auf Bewusstseinsebene, kann aber muss nicht notwendig sich im Verhalten zeigen und ist von außen nicht unmittelbar und verlässlich festzustellen oder zu messen. Positive wie negative Sanktionen, Belohnungen und Bestrafungen, zielen aus dieser Perspektive primär auf bloße Verhaltensänderung (was nicht generell illegitim sein muss) und nicht primär auf Einsicht. In der Postmoderne löst „Transformationslernen“ „Behaltenslernen“ ab (Arnold 2006, 184). Akkomodation wird stärker betont als Assimilation.

Reich (1997,83ff,89; 2002,118ff) unterscheidet drei Arten nicht nur aktiven sondern speziell postmodern-aktiven Lernens, die sich im Spannungsfeld zwischen symbolischer Sicherheit (das vorläufig Gewusste) und Unsicherheit (das immer auch Mögliche) abspielen: Konstruktion (selbst erfahren/ ausprobieren), Rekonstruktion (sich die Konstruktionen anderer überprüfend aneignen) und Dekonstruktion (skeptischer Zweifel). Das Verhältnis dieser drei Größen zueinander erläutert Gergen so, dass jeder Konstruktion mögliche Dekonstruktionen gegenüber stehen, die eine erneute Konstruktion bzw. eine Rekonstruktion erforderlich machen können. Er folgert, „dass die Weise, auf die alles konstruiert wird, aus Rekombinationen, Verschmelzungen und Imitationen besteht. Dies führt uns zu Vielfalt, Widersprüchen, Unterschieden und Ironie“ (Gergen 2006, 33). Wenn man Clement (2007, 129ff) folgt und Ironie und Rhetorik als zwei grundlegende Modi für pädagogische und beraterische Kommunikation setzt und unterscheidet, dann kann das Sprachspiel der Ironie als insofern postmoderner angesehen werden, als es sich im Gegensatz zur Rhetorik durch Mehrdeutigkeit auszeichnet. Gerade Kinder treten aufgrund ihres hohen Lernbedarfs bzw. vergleichsweise geringen Vorwissen-Bestandes nicht nur konstruktivistisch sonder auch dekonstruktivstisch auf. Reich (1997, 86) definiert den Dekonstruktivist als „jenen respektlosen Chaot, der das System verstört, weil er bei den selbstverständlichsten Funktionsweisen innehält und dumme Fragen stellt.“

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Über De/Re/Konstruktionen entscheidet das autonome Individuum, also auch jeder Schüler, letztlich für sich; der Schüler/ Beratungsklient entscheidet, ob/ was/ wie/ wie viel er (sich verstören lässt und) lernt. Das hat Konsequenzen für die Funktionen des Lehrers. Um die Motivation bzw. Intentionalität der Schüler für nachhaltige Lernleistungen gegenüber dem potenziellen Lerngegenstand zu erhöhen, ist es hilfreich, so Siebert (2005, 91f), wenn das Wissen anschlussfähig, viabel, kontextsituiert, relevant, neugierig machend und eher lustbetont ist. Perturbationen sollten daher am besten als „dosierte Diskrepanzen“ (Siebert 2006, 162) wirken. Lernumwelten wiederum sollten weitgehend selbsterklärend sein, den Erwerb von Fachkompetenzen gestatten, unterschiedliche methodische Herangehensweisen ermöglichen, problemlösende Ansätze kreativer Gestaltung fördern, fachübergreifende Kontexte berücksichtigen, zu Kooperation und Kommunikation anregen und motivierend wirken (Schläbitz 2005, 129). Angesichts der Unterschiedlichkeit von teilweise über 30 Schülern pro Klasse in einer individualisierten Multioptionsgesellschaft muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass diese Hinweise von Schläbitz zwar hilfreiche Anhaltspunkte darstellen, aber die Umsetzung realistischerweise nicht gleichzeitig für alle Schüler ‚gleich-gültig’ gelingen und geleistet werden kann.

Entscheiden die unterschiedlichen Schüler selber, ob sie sich motivieren lassen/ motiviert sind / ob sie den Lehrer motivieren, so ist - unter dem Aspekt der Zielerreichung des Kerngeschäfts von Schule: dem Erreichen von Lernleistungen der Schüler - die Variable der Höhe des Engagements des Pädagogen hier deutlich nachgeordnet gegenüber dem Faktor ‚Eigenmotivation der Schüler’. Lehrer, die glauben, in einer Zwangsveranstaltung ihre Schüler motivieren zu müssen, laufen Gefahr auszubrennen (Schumacher 2002). Sinnvoller kann es dann sein, auf die eigene Motivation zu achten, die Freude im Beruf bringen kann und über die strukturelle Kopplung auch die Schüler beeinflussen kann.

Lernen beinhaltet auch soziale, moralische, emotionale und kreative Komponenten. Soziales und moralisches Lernen finden statt, indem individuell relevante Erfahrungen mit früheren eigenen Erfahrungen und mit dem Verhalten anderer Menschen (Mitschüler, Lehrer usw.) abgeglichen werden. Mit der Vermittlung sozialen Lernens und in der Mediierung von Konflikten vermögen Pädagogen diesen Umständen Rechnung zu tragen. Da schulisches Lernen grundsätzlich in sozialen Kontexten stattfindet, lernen junge Menschen in der Schule unausweichlich anhand der praktizierten Umgangsformen etwas über Beziehungsgestaltung. Erleichternd für Lernprozesse ist ein emotionaler Wohlfühlfaktor bei Ort und Zeitpunkt des Lernens, da Quellen-, Orts- und Zeitgedächtnis bei jedem Inhalt mitgelernt werden (Roth 2003, 27, zitiert nach Siebert 2006, 162), sowie Vertrauen gegenüber dem Lehrer und dem Lerngegenstand, den er anbietet (Boszormenyi-Nagy/ Spark 1993, 75ff).

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Hier wird bereits deutlich, dass zum autopoietischen Aspekt von Lernen die Sichtweise gehört, dass Lernen immer auch in einem emotionalen Kontext geschieht.206 Dass Kognition bzw. Lernen und Emotion eng verknüpft sind, wird in den letzten Jahren von etlichen konstruktivistischen Autoren zunehmend betont (z.B. Roth 2001, Spitzer 2000, Damasio 1997, Ciompi 1997). So zeigen, nach Hennig/ Knödler (2000, 35), 80% sog. ‚Problemschüler’ Verhaltensauffälligkeiten aufgrund emotionaler Faktoren. Außerdem müssen Lerninhalte nicht nur Lebensbedeutsamkeit sondern auch emotionale Bedeutsamkeit aufweisen (Huschke-Rhein 1997, 53). Die fördernde und fordernde Ankopplung des Lehrers an seine Schüler und das ‚Bei-Steuern’ der Lehrkraft für das Schaffen einer angenehmen Atmosphäre in der Klasse und im Schulhaus sind hier also wesentliche indirekte Einflussfaktoren des Pädagogen.

Der kreative Aspekt von Lernen wird in der Literatur mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen behandelt. Gerade der Prozess der Akkomodation ist zutiefst kreativ, weil er Strukturen neu schafft bzw. (re)konstruiert (Piaget 1991): „Konstruktivistisch betrachtet[,] ist Kreativität ein flexibler und reflexiver Umgang mit der eigenen Konstruktivität. [...] Kreativität resultiert aus der Autopoiese und Selbstorganisation psychischer Systeme“ (Siebert 2005, 85). Andere Autoren weisen auf die Notwendigkeit hin, die in Schule meist stark dominante Ebene der Rationalität zu verlassen, da diese mit Logik operiert und Logik als deduktives Vorgehen aus Prämissen (Stegmüller 1969ff) nie ‚wahrheitserweiternd’ sein kann. Bereits erwähntes emotionales, aber auch metaphorisches, bildhaftes, intuitives Vorgehen kann in ganz anderer Weise Fantasien, Einbildungskraft und sogar Visionen hervorbringen. Letztlich geht es dann um ein ausbalanciertes Verhältnis von logischer Rationalität und Einbildungskraft (Fischer 2005, 144,154).

7.9.2 lebenslanges Lernen

Aus konstruktivistischer Sicht ist Verstehen immer nur provisorisch, Lernen ein lebenslanger Prozess des Entwerfens von ‚Selbst’ und ‚Welt’ (Kegan 1991), d.h. die konkreten Gehirnleistungen konstruieren ‚Identität’ stets von neuem. Auch in der Postmoderne mit ihrem unsicheren Wissen und ihrem schnellen Wandel ist Lernen grundsätzlich und unvermeidbar ein lebenslanges Muss geworden. Die unterschiedlichen Begründungen von Konstruktivismus und Postmodernedieser gleichen Forderung liegen aber auf unterschiedlichen Ebenen, haben unterschiedliche Hintergründe. Während die konstruktivistische Sicht Prämissen einer Theorie auf Lernen anwendet, beschreibt die Postmoderne-Diskussion veränderte gesellschaftlich-wirtschaftlichen Kontextes der Lebens’wirklichkeit’ der Schüler. Beide Ansätze ergänzen sich. Eine grundlegende Annahme dieser Dissertation ist, dass die systemisch-konstruktivistische Theorie für postmoderne Zeiten für viele Lebensbereiche angemessener ‚passt’ als andere, bisher noch etabliertere Erzählungen. Im Vergleich zum letzten Unterkapitel geht es in diesem nun um die Folgerungen für Lernen, wie sie sich aus veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen (als posttraditionale Kontexte für das Schulsystem) ergeben.

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Wissen veraltet in der sich mit zunehmender Geschwindigkeit wandelnden Gesellschaft schneller als früher. Gegenüber modernen Gesellschaften dauern Lernprozesse, biographisch gesehen, länger. Die (angehende) Postmoderne erfordert angesichts von von außen an das Individuum herangetragener permanenter Umstellungsbedarfe reflexives Lernen, sie führt vom „Qualifikations- zum Identitätslernen“ (Arnold 2006, 185). So gesehen kann Lernen als intrinsisches Bildungsinteresse „ein Lebensstil“ sein - ein „Bewusstsein der Vorläufigkeit und Unvollkommenheit“, das in sozialen Umfeldern wie Schule besonders begleitet werden kann bzw. muss (Siebert 2005b, 38). Von dieser Art eher sozial geförderten lebenslangen Lernens lässt sich modellhaft ein ökonomisch gefordertes lebenslanges Lernen unterscheiden

Postmoderne Lernfähigkeit bedeutet, sich eine angemessene Verstörungs- bzw. Veränderungsbereitschaft, eine für die autopoietische Selbsterhaltung stimmige Offenheit für Neues zu bewahren.207 Damit ist nicht bloßer (assimilierender) Wissenszuwachs gemeint, sondern eine „Erweiterung der Beobachterperspektiven“. Grundlage einer solchen Lernfähigkeit ist es, im Kontakt mit wichtigen Anderen Wissenslücken und Kompetenzmängel wahrzunehmen und diese ‚neugierig’ als Herausforderung zu interpretieren (Siebert 2005b, 38, Zitat S.76). Dies gilt für individuelle und gesellschaftliche Umbruchphasen, wie die derzeitige in Richtung Postmoderne, erst recht. Lehrer, insofern sie sich als psychosoziale Fachleute verstehen, müssten dann, so Keupp (1996, 6) im Blick haben, „wie Subjekte [hier: die Schüler, R.M.] diese Umbrüche […] erleben und verarbeiten, welche neuen Lebenskompetenzen von ihnen gefordert sind und wie unsere Handlungskonzepte weiterentwickelt werden müssen, damit wir Menschen bei einer produktiven Lebensbewältigung unterstützen können.“ Auf der gemeinsamen Suche sind in der postmodernen Schule nicht-triviale, Suchprozesse auslösende Fragen wichtiger als eindeutige Antworten abfragbaren Wissens. Auch Prüfungen müssen dann so gestaltet werden, dass formale gegenüber inhaltlichen Aspekte an Bedeutung gewinnen: bspw. können Lösungswege und die Auswahl und Umsetzung von Beurteilungskriterien eigener Meinung unter formalen Kriterien durchaus vergleichbar und inhaltlich neutral bewertet werden.

Der Erwerb von Lernfähigkeiten und -methoden wirkt dauerhafter als der Erwerb von sich schnell wandelndem Fachwissen. Sie ermöglichen in einer Informationsgesellschaft nachhaltiger das Hineinwachsen in eine sich stark wandelnde Gesellschaft als reines Fachwissen. Lernmethoden zu erwerben zielt auf Selbstständigkeit in Aneignung und Umgang mit Informationen in ihrer Vielfältigkeit. Es geht darum, „wie man Wissen bei all seiner Subjektivität auf seinen Wert einschätzt und im sprachbewussten Diskurs mit anderen beurteilt“(Rotthaus 1999a, 63, vgl.164) unter Berücksichtigung der eigenen Stärken, Vorlieben und Vorannahmen sowie des jeweiligen äußeren Kontextes. Um zu lernen, wie man lernt, müssen Schüler „in die Kunst der Beobachtung zweiter Ordnung eingeführt werden“ (S.J.Schmidt 2005a, 107).

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Das gegenwärtige Schülerverhalten hat sich gegenüber den letzten Jahr(zehnt)en stark verändert; es lässt pädagogische Begleitung i.S. bewussten schulischen sozialen Lernens als angemessener erscheinen als früher (Kap.6.1.4). Für die bewusste gemeinsame Reflexion sozialen Lernens in und mit der Klasse (in der gegenwärtigen Übergangsphase zur Postmoderne) gibt es vielfältige Gründe wie veränderte Familienstrukturen mit weniger Zeit für Kinder; veränderte Werte; allgemeine Orientierungsprobleme (Vielzahl der Angebote); die Notwendigkeit der Kinder und Jugendlichen, Grenzen und Sinnangebote verstärkt in Schule auszuprobieren; postmoderne Anforderungen an soziale Schlüsselqualifikationen u.ä.m.. Soziales Lernen wird zunehmend zu einer Notwendigkeit, um die Heranwachsenden auf die Gesellschaft vorzubereiten, und zu einer Voraussetzung, um überhaupt angemessen Unterricht gestalten zu können.

Angesichts des schneller gewordenen lebensweltlichen Wandels und der Verkürzung der ‚Halbwertszeit’ von Wissen tritt die Frage stärker als früher ins Bewusstsein der Schüler, ob das gelernte Wissen auch lebensnützlich ist. Lernen kann nur dann ‚nachhaltig’ sein, wenn es vom Lernenden als sinnvoll angesehen wird - in Abgrenzung zu ‚trägem’ Wissen, das als funktionslos erlebt wird. Die Nachhaltigkeit von Lernprozessen eines Individuums lässt sich nicht pädagogisch gezielt herstellen, da hierüber jeder einzelne Schüler für sich selbst entscheiden muss, was auch Lehrer entlasten kann. Neben der individuellen Bedeutsamkeit und Motivation spielen für die Nachhaltigkeit von Lernprozessen auch kognitive und soziale Kompetenzen eine Rolle, die im Unterricht eingeübt werden können (Siebert 2005b, insb. S.37; Tschira 2005) - was Lehrer in die Verantwortung bringt.

Auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund wird deutlich, dass ständige Selbstreflexion in der postmodernen Bildung unabdingbar wird, dass die Notwendigkeit und Fähigkeit, immer wieder ‚meta zu gehen’, vermittelt werden sollte. Nur so kann ein Bewusstsein von der Konstruktivität und Reflexivität von Wissen gewonnen werden, wobei ‚Reflexivität’ sowohl die tendenzielle rekursive Selbstbestätigung von Wissen in mentalen Prozessen meint als auch ein frühzeitiges Nachdenken über die Folgen von (individuell oder sozial konstruierter) Erkenntnis und Handeln. Es geht um die gemeinsame Reflexion und „Selbstbeobachtung, wie wir wissen, was wir wissen“ (Siebert 2005b, 85), wie wir kommunizieren, was wir ‚wirk-lich’ erreichen, was vielleicht zu entmystifizieren ist, was neu zu konstruieren sein mag, welche Haltung hinter alle dem steckt, was das für uns und unser Leben bedeutet.

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Ein solcher Lernbegriff erfordert einen anderen Umgang mit Fehlern, als in der derzeitigen Schule üblich.

7.9.3 Lernen und Fehlerkultur

Nach Piaget (1991) lassen sich zwei Lernarten unterscheiden, ‚Assimilation’, die Integration eines Gegenstandes in ein kognitives Schema, und ‚Akkomodation’, die Anpassung eines kognitiven Schemas an einen Gegenstand (Clement 2007). Assimilation erfordert unter didaktisch-methodischen Aspekten Rekonstruktionsmethoden (i.S. Reichs, vgl.S.174) zur Aneignung von fachlichem Wissen. Akkomodationsprozesse verlangen Dekonstruktions- und Konstruktionsmethoden für Reflexion und Umbau interner Wirklichkeitsmodelle (Reich 1997,84f). In Akkomodationsprozessen verändert sich die Verarbeitungsstruktur des Gehirns. Sie sind Meta-Lernprozesse (Lernprozesse zweiter Ordnung), die nicht immer einfach sind. Oser gibt zu bedenken, „dass wirkliches Lernen im Prozess selber noch nicht ‚Spaß’ macht, weil es uns zur Veränderung zwingt“ und einem „Suchen in Einsamkeit“ entsprechen kann, erreichte Veränderung aber Quelle von Stolz, Zuversicht und Selbstvertrauen ist (Oser/ Spychiger 2005, 18).

Lernen kann als anstrengend und schmerzhaft erlebt werden und teilweise mit psychologisch sehr beunruhigenden Situationen verknüpft werden. Zum einen sind Fleiß (und eher assimilatives Lernen) häufig „kein Vergnügen, sondern in zahlreichen Momenten mit erheblicher Unlust verbunden“ (Bauer 2007c, 38), in denen Unterstützung von Erziehenden im Sinne einer Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei dieser Anstrengung gefragt ist. Zum anderen hat (eher akkomodatives) Lernen immer wieder damit zu tun, dass man an seine Verstehens- und Handlungsgrenzen kommt, dass ein Handlungsablauf so gestört wird, dass aufgrund dieser Komplikation ein Umdenken stattfinden muss. Das Gefühl zu haben, umdenken zu müssen, kann mitunter als Identitätskrise erfahren werden (Siebert 2006, 161). Lernen hat also – gerade in der Postmoderne - immer wieder mit Situationen zu tun, die als unangenehm empfunden werden (können), weil der Lernende ‚mit seinem Latein am Ende ist’, mit seinen bisherigen kognitiven Strukturen nicht weiter weiß.

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Lernen macht dann nicht immer nur Spaß (wie vielfältig in und für Schule gefordert, vgl. z.B. G.Schmidt 2004b) – es kann schmerzhaft sein (Oser/Spychiger 2005). „Wer lehrt, beglückt nicht nur, er bedroht auch“ (Ziehe/ Stubenrauch 1982, 175). Oser weist des Weiteren darauf hin, dass zu Lernprozessen mitunter unangenehme Erfahrungen wie Ärger über sich selbst gehören müssen, weil nur durch die emotionale Verankerung ‚Schutzwissen’ entstehen könne (Ehlers 2007, 32).

Seine eigenen Denkfehler208 zu entdecken und zu korrigieren, schafft lebendiges ‚negatives Wissen’ und bedeutet einen autonomen und brauchbaren Umgang mit der eigenen Begriffsbasis (Glasersfeld 2003, 32). Deutlich wird, dass Lernen ‚not-wendig’ für das Überleben sein kann209, dass konstruktivistische Pädagogik anspruchsvoller ist als einfache Wissensvermittlungspädagogik.210 Erkennbar wird aber auch bereits, dass ‚Lernwiderstände’, gezeigtes Desinteresse und ggf. auch wahrgenommene Lernbehinderung Schutzmechanismen sein können (Siebert 2006, 161).

Die Behauptung, dass Lernprozesse mitunter anstrengend sein können, widerspricht nicht der Feststellung der Neurowissenschaften, dass das Gehirn unter Freude und Anerkennung Informationen anders aufnehmen kann als unter Vorzeichen von Angst und Misstrauen (Spitzer 2002). Und natürlich kann und sollte Lernen, insb. akkomodatives, in Schule unter Kontextbedingungen ermöglicht und eingebettet werden, die zu einem Lernen und Sich-Erfahren mit spielerischer Freude einladen. Der schulische Zensurzwang lädt hier jedoch - in für freudiges, selbstgesuchtes Lernen kontraproduktiver Form - ein, Anerkennung über Leistung zu koppeln oder sogar die Aufmerksamkeit vom Leistungsaspekt auf Honorierung zu verschieben (Findeisen 2006, Palmowski 2000a)

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Der noch „typische Problem- und Fehlerfocus im Schulbereich“ (Hubrig/ Herrmann 2000, 131) ist durch die Kontextbedingungen von schulischer Arbeit vorgegeben. Schule hat die Aufgabe, auszuwählen, und in diesem Kontext ist der Lehrer aufgerufen, auf Fehler sehr genau zu achten und ggf. die Fehlerart festzustellen und zu gewichten. In einem solchen Auswahlkontext (Kap 0) bringen Fehler Schülern Nachteile in der Bewertung. In Schule herrscht insofern häufig fälschlicherweise die Idee vor, Fehler seien grundsätzlich schlecht. Da für die - der Schule unter Machtaspekten vorgelagerte – Schulaufsicht der Auswahl- und Kontrollkontext wichtiger ist als der Unterstützungskontext211, stehen Schule und Unterrichten unter dem Druck eines auf diese Art zunächst vorgegebenen Aufmerksamkeitsfocus’, da Lehrer sich ja auch rechtlich absichern müssen. Dieser Aufmerksamkeitsfocus – er kann als ‚Prolemtrance’ (G.Schmidt 2004a) bezeichne werden – kommt aus dem Kontext der Organisation (nicht der Profession, vgl. Kap.8.3) und kann für Stress und Belastung von Lehrern, Schülern und Eltern sorgen, u.a. weil ein ressourcenorientierter Blick schnell verloren geht (Hubrig/ Herrmann 2000, 131).

Der ‚Rotstiftblick’ auf die „Schwächekultur“ (Martin/ Schuster 2005, 112) ist also durch den Arbeitskontext vorgegeben – was freilich nicht heißt, dass er der einzige Blick auf Fehler in Schule sein muss. Auch hier gilt, dass gerade die Bewusstheit für Spielregeln des Kontextes weitere Verhaltensoptionen eröffnen kann. Ein ressourcenorientierter Blick des Lehrers kann z.B. bei der Suche nach Wegen für Lösungen bei problematischem Schülerverhalten oder heiklen Zensuren die Aufmerksamkeit in den Bereich der individuellen Förderung und damit in den Unterstützungskontext (Kap 0) überführen. Hier ist dann das Machen von Fehlern hilfreich, um Neues ausprobieren und überhaupt lernen zu können: „Ohne Fehler keine Entwicklung. Ohne Probleme keine Lösung. Entwicklung ist ja nur in Kontrasten möglich und schließt den Fehler mit ein“ (Prekop/ C.Schweizer 2001, 11). Intelligente Fehler zu machen - Fehler, die angemessen neue Erfahrungen und ‚Informationen’ bringen212 -, ist im Bereich der Lern- und Unterstützungsangebote eine Fähigkeit. Hier sind Fehler eine „’Einladung’, sich für einen neuen Lernprozess zu öffnen“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 19), Schule und Pädagogen müssen hier - im Professionsbereich pädagogischer Einzelfallbetrachtung - ein geschütztes Explorieren von Möglichkeitsräumen gestatten und fördern. Dafür kann ein ressourcenorientierter Blick grundsätzlich - auch im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung – als sinnvoll gelten.

Fehler auf im v.Foerster’schen Sinne ‚triviale, nicht-entscheidbare Fragen’ (bei denen Antworten vorher feststehen, weil sie sozialkonstruktionistisch entschieden sind), bedürfen der Korrektur, weil sie schnell hilfreiches ‚negatives (Schutz)Wissen’ (Oser/ Spychiger 2005) generieren können. Das Machen von Fehlern stellt - auch in diesem Kontext - eine unvermeidbare Notwendigkeit dar, um neue Erfahrungen sammeln und ‚im Fluss’ bleiben zu können. „Scheitern, verstanden als ‚Ent-Täuschung’, kann heilsame […] konstruktive Maßnahmen zur Bewältigung“ von Realitäten hervorrufen (Beetz/ Cramer 1999, 120). Fehler zu machen, sichert Überleben, wenn bzw. indem deren Verarbeitung zu angemessen(er)en Handlungsweisen führen, die systemisch-konstruktivistisch als ‚adäquate Anpassung’ bezeichnet werden und eine kreative Lernleistung darstellen (Glasersfeld 1992, 27). Die Fähigkeit, Fehler zu machen, sich Fehler zuzugestehen und zu erlauben, stellt also eine Fähigkeit als Ausdruck von Lösungspotenzial und –handeln dar. Fehler sind notwendige Um- und Irrwege (Struck 2004, 138). Sie sollten wahrgenommen werden als wertvolle Informationen über Korrekturbedarf (G.Schmidt 2004a, 412) und als wichtige Hinweise, „die in gesunder Weise dafür genutzt werden können, noch achtungsvoller mit den Rückmeldungen aus dem eigenen, organismischen Wissen umzugehen“ (G.Schmidt 2004a, 73). Dann lassen sich Fehler als Zukunftschancen utilisieren (G.Schmidt 2004a, 421), so dass sie in hilfreicher Form Lernprozesse unterstützen.

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„Der Fehler gilt nicht mehr als Abweichung, die geahndet wird, sondern als Eintragung im Pass für Grenzgänger. Wer sich ins Unbekannte gewagt hat, macht Fehler. Umgekehrt gilt: Wer keinen Fehler gemacht hat, hat noch nichts gewagt. Natürlich geht es darum, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen, sondern neue intelligente Fehler zu wagen“ (Kahl 2005, 19). Rotthaus appelliert in diesem Zusammenhang für eine Focusverschiebung pädagogischer Aufmerksamkeit. Nicht das Begehen von Fehlern sei problematisch, sondern vielmehr die Weigerung, eigene Annahmen zu überprüfen, und der naive Glaube an unerschütterliche Autoritäten (Rotthaus 1999a, 134). Ein ‚guter’ Schüler/Lehrer zeichnet sich in dieser Sicht dadurch aus, das er sich traut, in angemessener Weise neue, unterschiedsbildende Fehler zu machen und über sie zu reflektieren. Eine „Kultur der Fehlertoleranz“ meint keineswegs, eindeutige Fehler in trivialen Fragen nicht zu verbessern, sondern freundlich mit sich selbst und anderen beim Machen und Begehen von intelligenten Fehlern umzugehen (Martin/ Schuster 2005, 38). Diese Sichtweise widerspricht einem Schulsystem, in dem zeitlich durchgängig alle Unterrichtshandlungen – zumindest potenziell – der Bewertung durch den Lehrer unterliegen. Dennoch besitzt der Pädagoge Möglichkeiten, diesen Rahmen zu relativieren, wie noch aufzuzeigen ist.

Im Zusammenhang mit dem derzeit (noch) gängigen schulischen Umgang mit Fehlern und festgestellten Unzulänglichkeiten von Schülern steht die schulische (Art der) Diagnose mangelnder Lernleistungen.

7.9.4 Die Konstrukte ‚Nicht-Lernen’ und ‚Lernbehinderung’

Konstruktivistisch gesehen, sind ‚Lernen’, ‚Nicht-Lernen’ und ‚Lernbehinderung’ zentrale schulische unterschiedsbildende Erklärungsprinzipien (Balgo 1998) und können als Konstrukte „immer nur sinnvoll werden in Relation zu ihren Ergebnissen [...] und zu den Beobachtern“ (G.Schmidt 2004a, 411). Lernen muss sich - wenn es feststellbar sein soll, wie in Schule gefordert - im Verhalten widerspiegeln, um von außen erkenn- und feststellbar zu sein.213 Wichtig ist es an dieser Stelle für den Pädagogen, sich bewusst zu halten, dass Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen zwar nur unsichere Konstrukte sind, sich aus ihnen aber Folgerungen darüber ergeben, wie Phänomene zu beeinflussen (Simon 2002, 149) und bspw. Schüler zu begleiten sind. Vorschnelle Festlegungen sind zu vermeiden, Hypothesen kritisch zu überprüfen. Die beiden folgenden Unterkapitel bieten solche kritische Reflexionsmöglichkeiten bezogen auf die - für schulische Kontexte besonders einscheidenden - Konstrukte ‚Nicht-Lernen’ und ‚Lernbehinderung’

7.9.4.1 Nicht-Lernen

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Nicht-Lernen wird diagnostiziert, wenn ein Beobachter das Ausbleiben erwarteter Verhaltensänderungen festzustellen glaubt. Einen besonderen Stellenwert hierbei besitzen in der Schule Leistungstests. Diese sagen aber nur bedingt etwas über den Nicht/Erfolg von Lernprozessen aus. Das heißt nicht, dass Tests nicht einsetzbar wären - Lernfortschritte (und ‚Lernnachhumpeln’) können an ihnen aber nicht sicher abgelesen werden. Konstruktivistisch gesehen, erfassen Lerntests „vor allem das, was der Konstrukteur für wichtig hält“ (Siebert 2005b, 134)214, sie messen nicht Wissen sondern Wirklichkeitskonstrukte, wie sie von anderen als vermutlich existent vorausgesetzt bzw. konstruiert werden (Balgo/Voß 1997, 66).

Des Weiteren weist Simon (2002) darauf hin, dass Nicht-Lernen – anders als dies von der Art der Organisiertheit von Schule unterstellt wird (Kap.6.2) – durchaus sinnvolles Verhalten sein kann. Nicht-Lernen kann bspw. bei aus individueller Sicht unnützem Lernstoff unter praktischen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten weitaus lohnender erscheinen als Lernen (S.173). Lernverweigerung kann aber auch bei schwierigen Heimatsystemen der Schüler z.B. versuchen, Familien zusammen zu halten oder außerfamiliäre Öffentlichkeit zu schaffen und Unterstützungssysteme zu aktivieren (Hennig/Knödler 2000). Das gilt auch für Jugendliche, die „mittels Erpressung durch Symptome oder gar durch Gewalt eine ungute Form von Herrschaft über die Familie“ erringen (Omer/Schlippe 2002, 20).

Nicht-Lernen kann also Ausdruck der berechtigten und häufig wahrscheinlich eher unbewussten Forderung sein, die Umwelt (z.B. ein symptomgenerierendes familiäres Kommunikationssystem, langweiliger Unterricht, lebensweltferne Lehrplanthemen) solle sich anpassen (Simon 2002, 146,155). Insofern kann Nicht-Lernen besondere Fähigkeiten widerspiegeln und einen (hoch)kompetenten Umgang mit Umwelt unter individuell relevanten Kosten-Nutzen-Verhältnissen darstellen.

7.9.4.2 Lernbehinderung

▼ 198 

Auch die sozialen Konstruktionen ‚Lernbehinderung’ oder ‚Verhaltensstörung’ können systemisch-konstruktivistisch nicht so einfach im Sinne eines Etiketts verwendet werden wie in einer individuumszentrierten Sichtweise. Erstens sind sie sozial konstruiert. Zweitens ergeben als auffällig diagnostizierte Verhaltensweisen eines Individuums (wenn nicht im Kontext, in dem sie geäußert werden, so doch wenigstens in dem Kontext, in dem sie erlernt wurden) oftmals einen Sinn unter Aspekten der biographischen Viabilität (Hennig/ Knödler 2000, 35): Schüler reinszenieren häufig in Schule, was in ihrer Familie sinnvoll ist, und bieten sich für bestimmte Rollen in den Klassen an (Hubrig/ Herrmann 2000, 144). Grundsätzlich – und auf dem geschilderten Hintergrund erst recht - kann aus ressourcenorientierter Sicht eine Teilleistungsstörung auch als Teilleistungsfähigkeit gesehen werden (Reinhard 2003, 278).

Das Konstrukt der Lernbehinderung gehört in den Bereich des kommunikativen Umgangs mit Verschiedenheit, es ist ein „Konstrukt in Sprache“ (Palmowski 1999b). „Schülerverhalten erscheint Lehrern dann als gestört und unverständlich, wenn sie es pädagogisch nicht beeinflussen können. [...] Im systemischen Modell geht es [...daher] nicht um Krankheiten und Störungen, sondern um Kommunikationsmuster“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 60). ‚Lernbehinderung’ entsteht, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, wie andere schulische Probleme auch dadurch, dass ein Beobachter etwas als ein Problem bewertet und diese Bewertung durch Kommunikation soziale Relevanz und Bestätigung erlangt.215

Balgo (2005, 66-69,74) beschreibt sechs Schritte eines solchen Prozesses:

▼ 199 

  1. Ein Beobachter trifft Unterscheidungen auf dem Hintergrund einer individuumszentrierten Sicht eines Schülers
  2. Mit einem defizitorientierten Blick wird eine ausbleibende Verhaltensänderung des Schülers als schulisches Nicht-Lernen interpretiert
  3. All dies in einem Schulsystem (Umwelt), dass darauf angelegt ist, über Zensuren immer eine gewissen Anzahl von als Nichtlernern definierte Schüler zu produzieren.
  4. Es müssen für alle Beteiligten Unterscheidungsgrenzen zwischen Nicht-Lernen und ‚Lernbehinderung’ nachvollziehbar gemacht werden. Hierfür bieten sich z.B. Erklärungskonzepte an wie ‚schwerwiegendes’, ‚langandauerndes’ Nichtlernen.
  5. Der Beobachter stellt mit anderen im System Mächtigen einen Konsens über die Etikettierung ‚Lernbehinderung’ oder ‚Verhaltensstörung’ her, was durch die Annahme, man ginge von der gleichen Bedeutung der Begriffe aus, vereinfacht wird.
  6. Folgen die mächtigen Beteiligten diesem Erklärungskonzept in ihrer Kommunikation und ihren Handlungen, so verleihen sie ihm im schulischen System Wirklichkeitscharakter.

Die Diagnose von Verhaltensstörungen auf Schülerseite setzt eine vorherige Erwartungsverstörung auf Lehrerseite voraus, wobei die Lösungsversuche des einen das zentrale Problem des anderen darstellen (Palmowski 1998a, 34). Pathologie entsteht als Konstrukt in einem kommunikativen Kreislaufprozess, und zwar „größtenteils in Beziehung zu dem [...], was in Mythen, Vorurteilen und Überzeugungen der größeren Gesellschaft für gesund oder nicht gesund, [...] moralisch oder unmoralisch gehalten wird; und im Bemühen des Einzelnen, innerhalb dieser oft widersprüchlichen Gebote zu überleben und sie zu verstehen“ (Cecchin et al. 2005, 99). „Ob etwas als Kompetenz oder Inkompetenz angesehen und genutzt wird, hängt also entscheidend davon ab, wie es beschrieben und bewertet wird und wie man sich dazu in Beziehung setzt“ (G.Schmidt 2004a, 60). Probleme sind also mit Dynamiken der Systeme verbunden, in denen sie auftreten (Schlippe et al. 2004, 126).216 ‚Lernstörungen’ können nicht nur als Beobachterphänomene gelten sondern auch als interaktionelle Beziehungsphänomene und komplexe Lösungsversuche (Reinhard 2003, 291). Als Ausdruck der letzteren können bspw. (unbewusste) internale Entscheidungsprozesse von Kindern und Jugendlichen gesehen werden, hartnäckig von ‚außen’ kommenden Anpassungsdruck zu widerstehen. Symptome können Ausdruck eines „genialen ‚Sowohl-als-auch-Lösungssystems’ von Individuationsversuchen ‚gegen’ die und ‚mit’ der Umwelt zugleich“ sein (Reinhardt 2003, 295).

Die oben angeführten sechs Punkte erläutern die interpersonellen Kommunikationsprozesse, durch welche individuelle Lernbehinderung in den Machtverhältnissen von Schule zugeschrieben wird. Letztlich sind Pädagogen immer ein Teil der Geschichte, die sie über schwierige Kinder erzählen (Voß 2000b, 5). Pädagogen wie Therapeuten sollten sich mithin bewusst sein, dass sie besondere Mit-Verantwortung für die Konstruktion und Dekonstruktion von Nicht-Lernen und Lernbehinderung besitzen. Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, schließt das nicht aus, dass im konkreten Fall dem Individuum innewohnende, z.B. biologische oder genetische, massive Lernerschwernisse vorliegen können. Balgo weist nur darauf hin, dass dies in der Regel nicht eindeutig feststellbar ist. Diagnosen sind vielmehr kontextabhängige (Rosenhan 1994) „Konstrukte aus zwei scheinbar gegensätzlichen Größen: der Selbstorganisationsfähigkeit und den Systemkontexten“ (Huschke-Rhein 1998b, 29).

▼ 200 

Dass es in der Schulpraxis häufig schnell geschieht, dass pathologisierende Zuschreibungen vorgenommen werden, wird durch die Art der Organisiertheit der Institution Schule gefördert und erklärbar (Kap. 6.2 und 8.4.1). Insofern, so Balgo (2005, 75) eher pessimistisch, lasse auch der erweiterte Focus auf sozialkommunikative Kontexte angesichts des Ausbleibens durchgreifender struktureller Veränderungen des Schulsystems nur wenige umsetzbare, deutlich veränderte Handlungsoptionen zu. Zumal Schule im Durchsetzungskontext (Kap.9.1.3) häufig dazu tendiert, Erklärungen weniger für Veränderungsmöglichkeiten heranzuziehen, als dazu, chronisch problematische Lagen zu rechtfertigen (Molnar/Lindquist 2002, 37). Dennoch können Pädagogen stets versuchen zu eruieren, unter welchen kommunikativen Rahmenbedingungen jemand eingeladen werden kann, sich anders zu verhalten (Hubrig/ Herrmann 2000, 135).

Die Konzepte des Lernens, Nichtlernens und der Lernbehinderung können dann folgendermaßen als Zuschreibungen bzw. Erklärungsprinzipien, die Wahrnehmung und damit Wirklichkeiten regulieren (Hubrig/ Herrmann 2005, 102), tabellarisch beschrieben werden:

Abb. 7-8: Die Erklärungsprinzipien Lernen, Nicht-Lernen und Lernbehinderung217

▼ 201 

Konstruktivistisch betrachtet, wird deutlich, dass dauerhaftes Nicht-Lernen von Schülern für den beobachtenden Lehrer als Verstörung wirkt, die über das Erklärungsprinzip ‚Lernbehinderung’ insofern abgearbeitet bzw. kompensiert werden kann, als es dem Lehrer erlaubt, „sein Nicht-Verstehen ohne Anzweiflung seiner eigenen Wirklichkeitskonstruktionen so zu begründen, dass es außerhalb von ihm liegt“ (Balgo 2003, 108). Hier wird auch das entpathologisierende Potenzial der lösungsorientierten Sicht für pädagogische und beraterische Situationen deutlich: Der Pädagoge muss sein Gegenüber nicht ‚durch und durch’ verstehen, um mit ihm nach Lösungen suchen zu können. Das Konstrukt ‚Lernbehinderung’ ist wie andere schultypische Konstrukte zum Thema ‚Lernen’ massiv beziehungsgestaltend, da Lernen von Schülern das Hauptziel des Kerngeschäfts von Schule, Unterrichten, ist. „Die Experten bringen dem Subjekt den Segen der fachlichen Kompetenz, aber auch den Nachteil der Inkompetenz des Kranken“ (Huschke-Rhein 1998b, 70). Andererseits können dadurch, dass ein diagnostiziertes (Lern-)Problem ein Problemsystem schafft, das sich kommunikativ um das durch Beobachter als problematisch definierte Verhalten rankt (Balgo/Voß 1997, 56f), auch neue Chancen entstehen, indem mehr Variablen in die Überlegungen eingeführt werden und sich zusätzliche Hanldungsoptionen ergeben. Z.B. dann, wenn die sozialen Kontexte berücksichtigt werden, die als förderlich für die Problemerhaltung vermutet werden: „Das Problem lässt sich eher verstehen, wenn das Problemsystem, das heißt, wenn Handlungen, Regeln, Werte und Normen der relevanten Bezugsgruppen [...] berücksichtigt werden“ (Willenbring 2003, 169).218

Nimmt man die dargestellte tabellarische Differenzierung zwischen Verhalten und Psyche sowie zwischen Beobachtung und Erklärung219 und die sich hieraus ergebende Meta-Sicht ernst, so entscheiden (auch in Schule) die Konzepte eines Beobachters (des bewertenden Lehrers), ob jemand (z.B. ein Schüler) lernt oder nicht und warum dies so ist (Balgo 2003, 102). Aus einer solchen Meta-Sichtweise muss dann Behinderung nicht mehr „als Klärung einer Schuldfrage“ (Lindemann 2003, 131) betrachtet werden. Mögliche alternative, ressourcenorientierte (diagnostische) Sichtweisen benennt Reinhard (2003, 305f). Sie sieht...

Legasthenie

als Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen hinzuweisen auf Fragen von

Metakommunikation und des Ambivalenzmanagements.

Dyskalkulie

Konstruktion oder bloßer Reproduktion von Welt und Lösungswegen.

AD(H)S

Aufmerksamkeitsfokussierung und Lebenssinn.

▼ 202 

Zugespitzt weitergedacht, bietet das pathologisierende Erklärungskonzept ‚Lernbehinderung’ oder auch ‚Krankheit’ dem System Schule – ebenso übrigens den Eltern - eine gute Möglichkeit, durch das System selber (mit)hergestellte Störfaktoren (‚schlechte Leistung’, ‚auffälliges Verhalten’), die auf das System zurückfallen könnten, in die Person des Schülers zu externalisieren und damit auf ihn zu beschränken. Die konsequente, wenngleich vermutlich meist unbewusste Vermischung von

erleichtert dieses Vorgehen (Balgo 2005, 69).220 Diagnosen sind „verschleiernde Erklärungen“ (Omer/Schlippe 2004, 50). Zwar Kann die Verwendung von Diagnosen und Etiketten in einem gewissen Rahmen in Schule für Komplexitätsreduktion und Erleichterung führen, schnell aber kann dies gerade in Schule in den (unbewussten) Versuch einer Externalisierung von Problemen kippen (Kap.10.6.4). Daher müssen Lehrer, wenn sie Veränderungen anregen wollen, Eigenschaftszuschreibungen immer wieder auch als unterschiedliche Verhaltensweise wahrnehmen und übersetzen (Hubrig/ Herrmann 2005, 103). Und sie müssen als Beobachter in ihren Beobachtungen klar angeben, auf welches System sie sich beziehen, wenn sie Wahrnehmungen und Aussagen treffen (Reich 2002, 32).

▼ 203 

Was den Lernbegriff betrifft, werden abschließend noch einige kurze Bemerkungen zu systemisch-konstruktivistischer Didaktik angeschlossen.

7.9.5 systemisch-konstruktivistische Didaktik

Implikationen des konstruktivistischen Wissens- und Lernbegriffs betreffen auch die systemisch-konstruktivistische Didaktik221, die allerdings weder in dieser Arbeit noch in der Fortbildungsreihe222 einen zentralen Stellenwert einnimmt bzw. einnahm. Dies liegt unter theoretischem Gesichtspunkt am systemischen Primat der Beziehungsgestaltung. Unter Aspekten der schulischen Praxis mag es auch daran liegen, dass viele der in der Lehrerausbildung in den letzten Jahre geforderten oder anderweitig im Umlauf befindlichen Methoden und Materialien durchaus - zumindest als Erzählungen - zentralen Forderungen des Konstruktivismus entsprechen. Auch die neueren Erkenntnisse der Neurobiologie bestätigen eher die Unterrichtsforschung der letzten Jahrzehnte, als dass sie sie erneuern (Hubrig/ Herrmann 2005, 89). Es hapert eher an der Umsetzung überwiegend bekannter didaktischer Forderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte aufgrund von institutionellen Vorgaben und Fragen der materiellen Ausstattung der Schulhäuser sowie der Klassengrößen.223 Sieht man diese als momentan gegeben an, so kann dennoch aus systemisch-konstruktivistischer Sicht betont werden, dass entscheidender als bestimmte Methoden ohnehin eine spezifische pädagogische Haltung ist (Voß 2005b, 14; Siebert 2005b, 103), wie sie in Kap.7.2 beschrieben wurde. Wie andere Didaktiken auch sollte eine systemisch-konstruktivistische Didaktik wichtige Rahmenbedingungen menschlichen Lernens, soweit das in Schule möglich ist, berücksichtigen. Grewe (nach Hubrig/ Herrmann 2005, 92) benennt hier z.B.: Selbstwirksamkeit, Lustgewinn, Selbstwerterhöhung, Bindung/Zugehörigkeit.

Das Eigenständige systemisch-konstruktivistischer Didaktiktheorie ist ihre der Individualisierung der Postmoderne entsprechende und der Autopoiese-Prämisse entspringende ‚Versubjektivierung’ (Kösel / Feller 1998). Konstruktivistisch gesehen, sind Lernende dabei dreifach selektiv: Lernanlass, -prozess und –ergebnis müssen als kognitiv oder interaktiv relevant, affektiv befriedigend und moralisch vertretbar eingeschätzt werden (S.J.Schmidt 2005a, 105). So unterscheidet Siebert ‚Lern-Gegenstände’ (als Stoff, der dem Lernenden entgegensteht224) von ‚Lerninhalten’ (als Themen, mit denen Lernende sich identifizieren können). Verbunden mit dieser Subjektivierung ist, v.a. unter sozialkonstruktionistischer Perspektive, die subjektiv erlebte Einbettung des Schülers in die schulische Umwelt inkl. der gemeinsamen kommunikativen Kopplung. Werden Themen zu Lerninhalten, dann immer aus einer Innenperspektive heraus, die eine eigenwillige und individuelle „Mixtur aus Psychologik, Sachlogik, Soziologik (d.h. Gruppendynamik) und Verwendungslogik“ darstellt (Siebert 2006, 157). Aus der Autopoiese-Idee folgt auch, dass Didaktik „ihrer Planbarkeit beraubt“ wird und als „Kommunikationsangebot für selbst organisierte Lernprozesse“ konzipiert werden muss (Jäpelt 2004a, 141,147). Schüler müssen im Unterricht selbstreguliert Erkenntnisse gewinnen können (Hubrig/ Herrmann 2005, 93). Leistung müsste dann konsequenterweise „als Bewältigung [...] eines selbst gesetzten Ziels nach eigenem Zeitraster“ gemessen werden (Voß 2005b, 19). Didaktisches Handeln zeichnet sich also durch stetige Kontextgebundenheit und Flexibilität aus.

▼ 204 

Gleichzeitig trägt die postmoderne Gesellschaft und Wirtschaft den Anspruch an die (nachwachsenden) Bürger heran, Informationen, Wissen und Lernen für sich selbst und auch andere aufzubereiten und zu didaktisieren. „Vor allem in den beruflichen Rollen müssen wir uns zunehmend mehr in didaktischer Aufbereitung den Stand bestimmter Diskussionen und Entwicklungen selbst erst einmal plausibel machen und dann auch noch anderen kommunizieren. Didaktik als eine Lernerqualifikation wird immer wichtiger“ (Reich 2005, 187).

Es gibt weitere ganz zentrale Aspekte einer solchen epistemologisch ‚versubjektivierenden’ Didaktik: Das notwendige Eröffnen einer Vielzahl von Beobachterperspektiven (Krüssel 1998, Reich 1998a,189) führt zur Forderung nach einer „Ermöglichungsdidaktik“ (Arnold / Schüßler 2003). Bildung kann hier dann auch „intervenierend“ wirken, wenn kognitive Landkarten (also ‚mitgebrachte’ Konstrukte) durch die Konfrontation mit neuen oder abweichenden Perspektiven umstrukturiert werden (Sander 2005, 219). Es geht also auch um eine „Didaktik der Metakognition“ (Siebert 2006, 169), die auf reflexive Selbstbeobachtung abzielt. Und insofern, als in der Postmoderne kreative Lernleistungen wichtiger werden, geht es immer auch um eine Didaktik der Kreativität. Balgo unterscheidet dementsprechend zusammenfassend und kontrastierend eine normativ-traditionelle Erziehungsdidaktik von einer refelxiv-systemisch-konstruktivistischen:

Abb. 7-10: systemisch-konstruktivistische vs. traditionelle Didaktik (Balgo 1997b, 118)

▼ 205 

Unter systemisch-konstruktivistischen Aspekten geraten Pädagogen in eine nicht einfache Position. Zum einen müssen sie Lernumwelten bereit stellen, da instruktive Interaktion unmöglich ist. Aufgrund der operationalen Geschlossenheit psychischer Systeme kommt es aber auch zu einer Subjektivierung von Didaktik, da die Schüler(gehirne) darüber entscheiden, wo(von) sie sich ansprechen lassen. Dann aber müssen, streng genommen, Eltern, Pädagogen und Berater die Idee aufgeben, „(besser) [zu] wissen, was für die Kinder und Jugendlichen gute Lernbedingungen sind225, denn diese Rebellen beweisen uns ja eigentlich ständig unser diesbezügliches Unvermögen. Vielleicht stellen sie uns sogar zielgerichtet vor Rätsel, damit wir ‚entlernen’ “ (Reinhard 2003, 298).

Das Primat der interaktionistischen Beziehungs- gegenüber der Inhaltsebene sowie die Betonung des Dialogischen (Reich 1998d, 2006) erfordeen zunächst eine ‚Vertrauensdidaktik’, insofern als Lernprozesse der Schüler gerade auch mit der subjektiven Schülersicht der Vertrauenswürdigkeit der Lehrperson und der Beziehung zu ihr zusammenhängen (Hubrig/ Herrmann 2005, 93). Schüler lernen auch ‚für (den) Lehrer’: „Lernen und die Bereitschaft dazu werden entscheidend gefördert durch das Erleben von Beziehungssicherheit“ (G.Schmidt 2004a, 420). Zusätzlich erfordert das Beziehungsprimat auch eine „Verständigungsdidaktik“ (Siebert 2006, 165), in der Lehrer und Schüler Ziele und Wege aushandeln (Reich 2005, 188). Die Umsetzung beider hier genannter Forderungen - d.h. einer ‚diskursiven Beziehungsdidaktik’ - ermöglichen Situationen, in denen „das Lernen sogar wichtige Beziehungen noch bereichert“ (G.Schmidt 2004a, 420).

Renoldner et al (2007, 51) verdeutlichen bildhaft den Aspekt des postmodernen gemeinsamen Aushandelns subjektiver Konstrukte gegenüber einem modernen Wissenstransfermodell anhand folgender bildhafter Klassenraumarrangements.

▼ 206 

Abb. 7-11: moderne vs. postmoderne Raumgestaltung für Lerngruppen (Renoldner et al 2007, 51)226

Als mögliche weitere Aspekte können genannt werden: die möglichst umfassende Ermöglichung konstruktiver Didaktiken, die Betonung von Imagination gegenüber vorgegebenen Symbolisierungen, die Betonung von Praxis/ Erfahrungslernen, interdisziplinärer Vernetzung, Reflexion kultureller Konzepte und Skepsis gegenüber Rezepten (bzw. ‚Rezeptologie’). In den letzten Jahren wird auch der Emotionsaspekt von Lernen und damit von Didaktik betont, dass Affekte Aufmerksamkeit und Wahrnehmung lenken (z.B. Reich 1998a, 2000; Damasio 1997, 2002; Ciompi 1997, Fischer 2005; Arnold 2005b, G.Schmidt 2004a).

Engagierte konstruktivistische Didaktiker stehen allerdings in der Praxis vor dem Problem eines Mangels an Ressourcen in Deutschland bei gleichzeitig vorhandenem eigenen Anspruch, dem gemäß im konkreten Arbeitsfeld auch bei schlechter Versorgung mit Ressourcen staatlicherseits man selbst trotzdem nach eigenen und schülergerechten Lösungen strebt (Reich 2005, 184). Hier kann es entlastend, klärend und stärkend sein, auf eigene und fremde Ressourcen und Grenzen zu achten (Kap.9.6).

▼ 207 

Das systemisch-konstruktivistische Verständnis des Verhältnisses zwischen Lehren und Lernen wirkt sich auch auf die Sichtweise von Erziehungs- und Entwicklungsprozessen aus.

7.10 Implikationen für Erziehungs- und Individuationsprozesse

Schule soll Schüler nicht nur zu Abschlüssen führen, sondern über die erzieherische Anregung von Lern- und Bildungsprozessen auch die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen voranbringen. Sie spielt für die Individuation von jungen Menschen schon allein aufgrund der von ihnen dort verbrachten Zeit eine wichtige Rolle und kann als das wichtigste Bezugssystem nach der Familie angesehen werden (Huschke-Rhein 1998b, 146; Hennig/Knödler 2000, 14). Erziehung im Sinne der gezielten Beeinflussung eines anderen und als planbarer Prozess ist, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, nicht möglich. Der Erzieher nähme sich etwas Unmögliches vor, stellte einen nicht einlösbaren Anspruch an sich selbst (Luhmann 1987, 60f). Positiv gewendet heißt das, dass Pädagogik eine auf Intuition zurückgreifende ‚Kunst’ sein muss, da sie mit nicht-erwartbarem, nicht-berechenbarem Handeln von selbstorganisierenden Systemen und mit dem Risiko des (beidseitigen) Scheitern umgehen muss (Huschke-Rhein 1998b, 19,34). Arnold (1993, 53) plädiert daher für Gelassenheit, die sich aus der Konstruktivität von Lern- und Erkenntnisprozessen und aus dem Respekt gegenüber dem „Eigen-Sinn“ (Voß 2005a) des Lernenden ergibt..

Umgekehrt ist Einwirkung auf Schüler - und im Wechselprozess von Schülern auf Pädagogen – nicht zu verhindern (allerdings bewusst gestaltbar). Gezielte Verstörung und Versuche von Anregung sowie sogar Zielerreichung sind realisierbar, aber nie verlässlich erreichbar. Erziehung lässt sich definieren als „Förderung der Selbstorganisation“ (Huschke-Rhein 1998b, 8) und bleibt als BIldungsprozess im Wesentlichen Eigenleistung des Kindes, die aber ohne Aktivitäten von Erwachsenen, insb. die Gestaltung von Kontexten, nicht möglich wäre (Kap.7.1.2).227

▼ 208 

Pädagogen wie Eltern handeln in mehrfacher Hinsicht unter postmoderner und konstruktivistischer Unsicherheit:

Sich hingegen in Wahrheitsbesitz zu sehen, schränkt – konstruktivistisch betrachtet - nicht nur die Lernbereiten sondern auch den ‚Experten’ selbst ein (Cecchin et al. 2005, 17). Sinnvolle Reaktion des Erwachsenen auf die beschriebenen Unsicherheiten ist, dass er sich selbst gegenüber rückversichert, also reflektiert und sich möglichst bewusst ist über die eigenen Motive im pädagogischen Handeln sowie bei erzieherischen Maßnahmen als auch über ihre möglichen Interpretationen auf Seiten des Kindes. Da auch das nicht ausreicht, um eine sich rückversichernde Interaktion herzustellen, sollte eine nicht abbrechende, je altersangemessene Metakommunikation zwischen Erwachsenem und Kind/ Jugendlichen hinzutreten, die die Handlungen des Erwachsenen begleitet und ihnen sowie dem Verhalten der Kinder eine bestimmte, rückgekoppelte Bedeutung verleiht. Rotthaus benutzt für diesen die Persönlichkeitsentwicklung begleitenden Prozess den Begriff „Metalog“ (1999, 113, in Anlehnung an Bateson 1983).

▼ 209 

Von Persönlichkeitsentwicklung gibt es auch im systemisch-konstruktivistischen Ansatz kein einheitliches Bild. Stierlin wird viel zitiert mit seinem Individuationskonzept. ‚mit’ und ‚gegen’228, das verdeutlicht, dass Entwicklung Kindern und Jugendlichen die Chance bieten muss, sich an Erwachsenen zu ‚reiben’ und in Konflikten wichtige Erfahrungen auf dem Weg der wachsenden Selbstständigkeit zu machen. Konfliktfreie Erziehung gibt es nicht; wichtig ist hingegen die Erfahrung für Kinder, dass Konflikte ausgetragen werden können, ohne dass die Beziehung Schaden leidet. Bastian (2001, 157f) nennt drei Gesichtspunkte, die dem Kind helfen, sich „gut in der Welt orientieren und zurechtfinden zu können“, und die dazu beitragen, dass der Kontakt zwischen Erziehendem und Kind229 bestehen und lebendig bleibt:

Ein weiteres Konzept der Entwicklung von Persönlichkeit wurde weiter oben mit dem entwicklungspsychologischen Modell Kegans (Kap.5.1) vorgestellt, das den eben geschilderten Grundideen Stierlins nicht widerspricht, allerdings die große Bedeutung ‚einbettender Kulturen’ betont, die dem Individuum dabei helfen, nötige Entwicklungskrisen zu meistern und auf einem höheren Grad der Differenzierung neue Stabilität zu finden. Durch einbettende Kulturen Aufmerksamkeit, Zeit, Interesse und Wertschätzung zu bekommen, ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Es geht dabei nicht darum, diese Qualitäten permanent zu bekommen, aber ein inneres sicheres Gefühl zu haben, diese immer wieder, ggf. nach einer Zeitspanne, in der der Erwachsene seine eigenen Bedürfnisse oder die anderer beachtet, zu erfahren im Sinne einer ‚wirk-lichen’ und achtsamen Präsenz des erwachsenen begleitenden Gegenübers (Omer/Schlippe 2002). Bekommt ein Kind zu wenig Beachtung, kann es versucht sein, diese über ‚Fehlverhalten’ herzustellen (Kreter 2005, 106; Rotthaus 1999a, 50). Leistungsschwache und insbesondere störende Schüler zeigen ihr Verhalten, weil sie es für viabel halten und es in ihren Kontexten so gelernt haben. Sie sabotieren, systemisch-konstruktivistisch gesehen, Unterricht nicht böswillig. Eine angemessene, grenzsetzende und unterstützende Intervention ist dann aus konstruktivistischer Sicht nötig und wichtig. Allerdings stellt sie auch klar, dass schulisches Lernen „die Bereitschaft der Schüler zu sozialem Verhalten und Lernen“ voraussetzt, weshalb guter Unterricht, selbstreguliertes Lernen und in der Postmoderne zunehmend notwendige individualisierte Begleitung nicht erfolgreich sein können „in großen Klassen und mit vielen ‚schwierigen’ Schülern, deren Verhalten oft außerschulische Ursachen hat“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 98).

▼ 210 

Verlässliche Orientierung durch Regeln und Grenzsetzungen zu bekommen, kann über Regelverletzungen und/ oder grenzloses Verhalten der Kinder von diesen selber eingefordert werden (Kreter 2005, 107). Adäquate, klar geregelte Zeiten und Räume mit transparenten Anforderungen in einigen (wenigen, d.h. überschaubaren) Bereichen und präsenten Erziehern ermöglichen es Kindern, offensiv sich selbst zu erfahren und ihren Möglichkeitsraum aktiv zu entfalten, kurzum: sie fördern eigenverantwortliches Handeln (Rotthaus 1999a, 52). Mögliche Sanktionen sollten von Beratungs- und Unterstützungsangeboten begleitet sein. Erzieherisches Handeln beinhaltet eine für die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit wichtige angemessene Grenzziehung sowie die zeitversetzte, möglichst klare (Meta-)Kommunikation über diese Grenzziehung in Unterstützungskontexten bzw. Beratungsangeboten. Es geht dabei letztlich um die spürbare Präsenz von pädagogischen Begleitern (Kap.9.5).

Das Kind erhält über die Zeit gezielt wachsende Handlungsräume und –freiheit, innerhalb derer es ggf. gegen die Meinung des Erwachsenen handelt und die Konsequenzen tragen muss. Verstärkt gilt das für die Pubertät, in der die Peergroup wichtiger wird als die Erwachsenen (Kreter 2005, 106). Bereits mit zehn Jahren akzeptieren Kinder eine grundlegende Differenz zum Erwachsenen nicht mehr (Rotthaus 1999a, 38) und sollten gemäß Rotthaus es gelernt haben, „selbständig wahrzunehmen, welche Ziele über die Befriedigung der augenblicklichen Wünsche heraus anzustreben sind, welche Aktivitäten für seine eigene weitere Entwicklung wichtig sind (Rotthaus 1999a, 53). Der Kinderpsychiater sieht damit eine im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten frühere Verantwortungsübernahme für gesellschaftlich nötig an. Dies ist nach den Schilderungen Kegans und Kohlbergs durchaus möglich (Kegan/ Noam 1982, 430).

Erziehung ist ein interaktiver Prozess, in dem die Handlungen aller beteiligten Personen wichtig und prinzipiell gleichwertig und gleichwürdig sind, wenngleich Aufgaben und Rollen unterschiedlich verteilt sind. Der Erwachsene braucht Innen- und Außenperspektive zugleich, er ist sozusagen Spieler und Regisseur zugleich, er spielt und weiß zugleich, dass er spielt: „Die Verantwortung für das Spiel ist also [solange] ungleich verteilt“, bis das Kind selbst die Fähigkeit entwickelt, aus sich herauszutreten und Beobachter seiner selbst zu werden (Rotthaus 1999a, Zitat: S.45, vgl. auch S.81). Rotthaus führt diese Metapher weiter aus, um (nach dem Aspekt der Beobachtung zweiter Ordnung) das Interaktive und Reflexive dieses Prozesses zu verdeutlichen: Das Kind beeinflusst das Spiel durch seine Handlungen mit, während der Erwachsene „das Kind im Spiel über die inneren Strukturen des Spiels aufzuklären [hat]. Der Verlauf und der Ausgang des Spiels ist nicht planbar und nicht vorhersehbar“ (Rotthaus 1999a, 46).

▼ 211 

Ziel aller pädagogischer Bemühungen ist eine Selbstständigkeit, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion beinhaltet im Sinne der Fähigkeit, eigene Prämissen und Selbst-Andere-Strukturen in Frage stellen zu können. Dies setzt beim begleitenden Pädagogen nicht nur fachliches und methodisch-didaktisches Wissen voraus, sondern vor allem soziale und personale Kompetenz. Siebert (2005, 132) ergänzt eine ‚Konstruktivitäts-Kompetenz’, womit er einen bewussten Blick für die Konstruiertheit, Relativität und Perspektivität von Wirklichkeit meint. All dies hat Auswirkungen auf die pädagogische Beziehungsgestaltung, deren Verantwortlichkeiten und Aufgaben in den folgenden Kapiteln weiter ausdifferenziert werden.

7.11 Implikationen für pädagogische Ethik

Inwieweit der systemische Konstruktivismus, der auf Nützlichkeit von Funktionen abhebt, selbst eine brauchbare (z.B. utilitaristische) Ethik darstellt, ist in der Literatur umstritten.230 Allerdings lassen sich im Sinne einer analytischen Ethik aus den Prämissen des Modells ethische Folgerungen ableiten (Stegmüller 1969ff), die dann von Lehrenden bei der Gestaltung pädagogischer Prozesse231 zu berücksichtigen sind.

Bekannt ist insb. der ethische Imperativ von Foersters: „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ (v.Foerster 1993, 49), wobei dies unausgesprochen die Ergänzung impliziert, dass auch die Bewusstheit über die Implikationen dieser Optionen wachsen soll (G. Schmidt 2004b). Es geht um eine Erweiterung des Spektrums eigener Beobachtungen und (Leit-)Unterscheidungen. Pädagogische Konstruktionen sollten dann auch offen sein für kreative Ausdifferenzierungen, Veränderungen und Perspektivenwechsel (Derrida 2004), die perturbierend und anregend wirken können. Differenzierungen ermöglichen - auf dem Hintergrund des Bewusstseins um die Konstruiertheit von Welt und Selbst - dynamische Wirklichkeiten (Siebert 2005b, 69; Krishnamurti 1986, 1995). Hintergrund von v.Foersters Forderung ist die Autonomie von Menschen, verstanden als letztlich grundlegende ‚Selbst-Regelung’ eines lebenden Organismus: „Wenn ich als einziger über mein Tun entscheide, dann bin ich für meine Handlungen verantwortlich.“(Foerster 1994, 58).

▼ 212 

Clement (2004, 167) weist darauf hin, dass für beraterische Prozesse gilt, dass nach der Eruierung von Möglichkeitsräumen im Spielmodus das Fällen der Entscheidung im Ernstmodus gegen Ende des Beratungsprozesses die Reduktion der Möglichkeiten auf Verhaltensebene bedeutet. Das widerlegt v.Foerster dann nicht, wenn man die v.Foerster’sche Vermehrung potenzieller Handlungsmöglichkeiten auf Bewusstseinsebene sieht und die Einengung von Möglichkeiten durch das Treffen einer konkreten Entscheidung auf Verhaltensebene. In dieser Betrachtungsweise geht es dann beim ethischen Imperativ v.Foersters darum, die eigenen Konstruktionsmöglichkeiten - und damit die eigenen potenziellen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster – stets weiter auszudifferenzieren. Dies wäre dann soz. eine ethische Verpflichtung für Pädagogen zur eigenen Lernbereitschaft auch dann, wenn Lernen schmerzhaft erlebt wird.

Der Akt des Fällens einer Entscheidung im Sinne einer selbstverantwortlich zu treffenden Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten, das Finden einer persönlichen Antwort auf „unlösbare Fragen“ i. S. v.Foersters beinhaltet in jedem Fall ein hohes Maß an individueller Verantwortung. Das gilt für den Pädagogen in seinem Handeln und stellt zugleich, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, ein Ziel und „grundlegendes ethisches Prinzip“ (v.Glasersfeld 1998, 33) für schulische Erziehung dar.

Ergänzen ließe sich, dass ethisches Handeln reflexive Selbstbeobachtung beinhalten sollte, eine stete Achtsamkeit für eigene Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse im Bewusstsein um die grundsätzliche Limitiertheit menschlichen Wissens. Dieses Bewusstsein von Pädagogen sollte sich auf eigene Handlungen beziehen und zugleich auf Verhalten anderer. Vor allem im Umgang mit den anvertrauten Schützlingen stellt sich stets die Frage: ‚Wie weit darf Verstörung gehen, wie weit muss bzw. kann sie aufgefangen werden?’ Eine solche Fähigkeit kann als „Metakognition“ bezeichnet werden, als ein Denken über unser Denken, das dem eigenen Denksystem auf die Spur kommen kann und es ggf. auch verändern kann, indem neue Muster erarbeitet werden (Voß 2000b, 20). Es geht um Respektlosigkeit im Sinne Cecchins, der davor warnt, dass „eine übertriebene Loyalität gegenüber einer bestimmten Idee dazu führt, dass das Individuum, das sie sich zu eigen macht, unverantwortlich wird in bezug auf die ihr immanenten moralischen Konsequenzen“ (Cecchin et al. 2005, 23). Der Pädagoge oder Berater, der auf die Wirkungen seiner eigenen Haltungen und Hypothesen achtet und deren Verhältnis reflektiert, nimmt eine ethische Position ein (Cecchin et al. 2005, 25).

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Einen weiteren ethischen Aspekt systemischen Denkens fügt Krüssel an (1997, 101). Angesichts der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion, angesichts der Annahme, dass Veränderungen in Sozialverhalten und Wissensstruktur nicht gezielt herstellbar sind, schlägt er eine „Ethik der Bescheidenheit“ vor. Diese entspricht einem Respekt vor den Selbstorganisationskräften anderer Menschen. Siebert weist darauf hin, dass, miteinander zu leben, die konstruktivistische ethische Forderung bedeutet, Andersdenkenden zunächst genauso viel Vernunft und Verantwortungsbewusstsein wie einem selbst zu unterstellen und „die eigenen Perspektiven mit denen der anderen Betroffenen zu verschränken“ (Siebert 2005b, 26, vgl.a.S. 30,136). Angesichts der erziehenden Funktion von Pädagogik und ihrer Verantwortung im Auswahl- und Kontrollkontext muss diese ethische Forderung für schulische Durchsetzungskontexte (Kap.9.1) eingeschränkt werden.

Außerdem besitzt, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, jedes Mitglied in einem sozialen System Mitverantwortung für die Ziele und Werte des Systems und muss diese immer wieder kritisch prüfen (G.Schmidt 2004a, 417), da es als Teil des Systems zu dessen Aufrechterhaltung beiträgt (Kap.8.1).

Die genannten ethischen Implikationen sind formale, prozessuale Aspekte von Ethik. Aus ihnen lassen sich konkretere inhaltliche Verantwortlichkeiten und Anforderungen an Beziehungsgestaltung für Pädagogen ableiten, die in den beiden folgenden Unterkapiteln beschrieben werden.

7.12 Implikationen für pädagogische Verantwortung

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Der systemisch-konstruktivistische Ansatz bringt in verschiedenerlei Hinsicht veränderte Auffassungen professioneller erzieherischer Tätigkeit. Einen besonderen Schwerpunkt hierbei bildet das Thema der Verantwortungsverteilung und insb. der Verantwortungsbereiche des Pädagogen (Huschke-Rhein 1998b, 17). Die hier ausgeführten systemisch-konstruktivistischen Gedanken zur pädagogischen Verantwortung von erziehenden Begleitern stellen grundlegende Haltungen von Pädagogen im Umgang mit Verantwortung dar. Aus ihnen ergeben sich im Folgekapitel 7.13 konkrete pädagogische Aufgaben.

Erziehung ist angesichts der Autopoiesekonzeption ein „unmögliches Ziel“ (Luhmann) und ein „Experiment mit offenem Ausgang“ (Rotthaus 2006, 37). Wer wofür wann wie viel Verantwortung übernimmt bzw. zu übernehmen hat, ist nicht (mehr) gesellschaftlich exakt festgelegt und, konstruktivistisch-psychologisch betrachtet, wäre eine entsprechende Verantwortung auch nicht verlässlich ‚einklagbar’. Schule kann – angesichts heutiger Erziehungsunsicherheiten mehr denn je - als ein Spiel um Verantwortung, genauer: um Verantwortungsübernahme und nichtübernahme232, gesehen werden, mitunter auch in der Version des Schwarze-Peter-Spiels der gegenseitigen Schuldzuweisungen (Balgo/Voß 1997, 56). In diesem Zusammenhang unterstellen systemische Pädagogik wie systemische Beratung Schülern, Eltern, Lehrern, Schulleitern aufgrund ihrer autopietischen Selbststeuerung grundsätzlich (altersgemäße) Verantwortung. Das hängt damit zusammen, dass um so mehr Eigendynamik und Selbstverantwortung zugelassen werden muss, je komplexer selbstorganisierende Systeme sind.Dieser Gedanke fasst in der pädagogischen Praxis allerdings erst langsam Fuß: „Die Tatsache, dass wir der Welt in ihrer Gesamtheit gegenüber in viel höherem Maße verantwortlich sind, als unsere Schulweisheit es träumt, ist vorläufig fast undenkbar und wird uns erst langsam [...] bewusst“ (Watzlawick 1994b, 100).

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht macht es, obwohl Verantwortung unterstellt wird, keinen Sinn, die oben angesprochene Schuldfrage zu stellen, da soziale Situationen immer in Kreislauf- und nicht (mono)kausalen Prozessen entstehen. Hingegen sinnvoll und nützlich ist es für Lehrer, sich genauer anzuschauen, wofür man als Pädagoge überhaupt die Verantwortung übernehmen kann.233 Wie schon gesehen, ist der Lehrer, konstruktivistisch betrachtet, nicht der Macher, der Lernergebnisse oder Sozialverhalten verlässlich herstellen kann. Es gibt eine Vielzahl von Arbeitsbedingungen, denen ein Lehrer unterliegt, die er weder sich aussuchen noch wesentlich verändern kann. Und das Schulsystem muss am Scheitern zumindest einiger Schüler seine eigene Wirksamkeit (jene der Selektionsfunktion) beweisen.

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Ebenso wenig macht es Sinn, für den erfolgreichen Schulbesuch oder effektive Erziehungsprozesse von Schülern die (volle) Verantwortung zu übernehmen, da es unter Aspekten der Autopoiese unmöglich ist, gezielt zu erziehen. Die Schüler eines guten Lehrers können schlechte Ergebnisse oder unrühmliches Verhalten zeigen. Und Nicht-Lernen (der Schüler) ist nicht notwendig Zeichen von Unfähigkeit (weder des Schülers noch des Lehrers). Über das faktische Geschehen im Unterricht und in der Klasse als sozialem Gebilde entscheiden die Schüler wesentlich mit, häufig sicherlich stärker als der begleitende Lehrer. Außerdem besitzen Eltern erheblich größeren Einfluss auf Erziehungsprozesse als Pädagogen.

Das eigentliche Ziel von Schule - gute Schulabschlüsse, die angeblich Ausdruck davon sind, dass junge Menschen viel für ihre gegenwärtigen und zukünftigen Kontexte Sinnvolles gelernt haben – lässt sich aus Lehrersicht nur beeinflussen, aber nicht gezielt herstellen. Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, bleiben die Lernenden letztlich selbst für ihr Denken, Handeln, für ihr Lernen und Nicht-Lernen verantwortlich. Für Erziehungsergebnisse (Nicht/Lernen und Sozialverhalten) sind Erziehende immer nur teilverantwortlich. Professionelles Handeln in pädagogischen Situationen ist sich bewusst, dass es ein Handeln unter dieser Unsicherheit ist. Dies bedeutet „eine Einschränkung des traditionellen (Macht-)Anspruchs der Erziehung“ (Huschke-Rhein 1998,37) – eine Beschränkung, die vor einer seelisch belastenden pädagogischen Überverantwortung schützen kann. Eine solche konstruktivistische Sichtweise kann von Lehrern, die – im Sinne der Krüssel’schen ‚Ethik der Bescheidenheit’ - die Tendenz haben, zu viel Verantwortung zu übernehmen, als Entlastung erlebt werden. „Ein systemisches Berufsverständnis entspannt den Verantwortungsbegriff“ (ebenda).

Auf der anderen Seite entstehen durch diese Sichtweise auch neue Verantwortlichkeiten. Für den Erziehungsprozess, der stets als ‚Kunst der Balance’ zwischen Fremd- und Selbststeuerung stattfindet, bedeuten die obigen Ausführungen, dass sich mindestens zwei Menschen (mind. ein Erwachsener und ein Kind) mit je eigenem Verantwortungsbereich gegenüberstehen (Huschke-Rhein 1998b, 15,32ff). Die Einflussmöglichkeiten des Pädagogen sind – psychologisch gesehen - immer von den Schülern verliehene, jederzeit kündbare und insofern verletzbare Positionen (Clement 2004, 142). Obwohl Unterricht innerhalb der Zwangsveranstaltung Schule stattfindet, kann dieser Vorgang aus einer Außenperspektive so beschrieben werden, dass Lehrer und Schüler in einem gewissen Rahmen quasi (Unterrichts-)Angebote und Nachfrage(n) verhandeln müssen, da ohne Schülerbeteiligung kein Unterricht, jedenfalls keine schüleraktiven Unterrichtsmethoden durchführbar sind. Angebote eines Lehrers können also mehr oder weniger passen. Sie müssen dabei aber, was den Lehrer ggf. in eine Double-Bind-Situation bringt, auch die staatlichen Vorgaben beachten.

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Auf diesen Hintergründen erklärt sich auch die Vertragsart, der Pädagogen in den westlichen Schulsystemen seit gut 200 Jahren unterliegen: Lehrer besitzen prozessorientierte Dienstverträge und keine ergebnisorientierten Werkverträge. Werkverträge stellen es dem Beauftragten frei, mit welchen Mitteln er zu einem vorher vereinbarten Ergebnis kommt; er mus allerdings die Zielerreichung garantieren.234 Ein Dienstvertrag ist dahingegen prozess- und vorgehensorientiert. Der Beauftragte (hier also der vom Staat beauftragte Pädagoge) stellt vor allem seine Kompetenz zur Verfügung. „Der Vertrag ist erfüllt, wenn der beauftragte seine Kompetenz regelgerecht geliefert hat, unabhängig vom Ergebnis. Lehrer [...] haben üblicherweise Dienstverträge. Die Bezahlung ihrer Tätigkeit ist nicht ergebnisabhängig“ (Clement 2004, 143f). Günstigerweise bietet also der Lehrer den Schülern einen Dienstvertrag an und stellt damit den Schülern seine Prozesskompetenz zur Verfügung, während er die Schüler als selbstverantwortlich für deren Lernen und Handlungen oder Unterlassungen sieht – und zwar im Sinne der Verbindlichkeit eines ergebnisorientierten Werkvertrages auf Schülerseite (Clement 2004, 144).

Sich selbst gegenüber besitzen Pädagogen Verantwortung für die eigene Wirklichkeitskonstruktionen und damit für ihre ‚Lehre’, d.h. für die Gestaltung der Lernsettings, zu denen z.B. der äußere Rahmen, didaktische Reduktion, methodische und thematische Schwerpunktsetzung235 und vor allem die Beziehungsgestaltung gehören. Insofern sind Lehrer auch ihren Schützlingen gegenüber verantwortlich. Erziehenden kommt Verantwortung zu für die Anerkennung der Selbstorganisation der anderen in der pädagogischen Tätigkeit (Huschke-Rhein 1998b, 32), für die „Erfindung und Herstellung von Wirklichkeiten für andere“ (Watzlawick 1994b, 107) sowie für die Steigerung von Wahrscheinlichkeit für befriedigende Lernerfahrungen von anderen (Siebert 2005b, 44).

Dazu ist Anschlussfähigkeit (die Fähigkeit und Verantwortung, sich an die selbstreferenziellen und rekursiven, kognitiven Systeme der Schüler anzukoppeln) eine Voraussetzung. Eine solche „autopoietische Transferleistung“ kann aber nur bedingt und begrenzt organisiert werden, da - konstruktivistisch gesehen - „Anschlusslernen [...] individuell, auch intim, diskret“ erfolgt. Es ist deshalb oft schwierig für Lehrkräfte, den Schülern gemeinsame Verwendungssituationen zu finden (Siebert 2005b, 64f,73). In einer multikulturellen, pluralen Gesellschaft236 wird es obendrein noch schwieriger als in einer modernen, „didaktische Felder [zu finden], in denen sich [möglichst viele] Lernende kognitiv und emotional wohl fühlen“ (Siebert 2005b, 67).237 Andererseits bleibt ein Lernen ohne lebensweltliche Situierung unwirksam, ‚träge’, funktionslos. Konsequenterweise fordert Siebert (2005b, 69) als Ziel von postmoderner Bildungsarbeit die Erweiterung von ‚didaktischen Driftzonen’ der Beteiligten im Sinne der Erweiterung des Spektrums von Wirklichkeitskonstruktionen. Der Pädagoge besitzt die Verantwortung, Unterrichts-‚Stoff’ und sich selbst abwägend zu positionieren zwischen den Polen: Ankopplung, Horizonterweiterung und Konfrontation mit unbekannten Gefilden. Hierbei eine angemessene Balance zwischen Konstanz und Anregung sowie zwischen Fremd- und Selbststeuerung aufrecht zu erhalten (zu versuchen), ist Aufgabe des Lehrenden, der hierfür auf explizite Rückmeldungen seiner Schüler im ko-evolutiven Bildungsprozess angewiesen ist. Postmoderne Schüler beim „Wissen wie“ in gemeinschaftlichen Sozialformen zu begleiten, ist wichtiger, als sie zu einem „Wissen dass“ anzuleiten (Gergen 2006, 37).

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Hierfür muss die Bereitstellung von Lernkontexten durch den Lehrer den Schülern eigenständig erprobendes Handeln ermöglichen, da Erkennen, konstruktivistisch gesehen, im Handeln erfolgt. Von Foerster stellt in diesem Zusammenhang eine zweite Forderung auf, die für schulische Kontexte bedeutsam ist, den „ästhetischen Imperativ: Willst du erkennen, lerne zu handeln“ (v.Foerster 1994, 60). D.h., dass im Prozess zunehmender Autonomie Kinder und Jugendliche die Möglichkeit bekommen müssen, sich so auszuprobieren, dass ihr Erfahrungsschatz und Optionsreichtum wachsen können. Diese Verantwortung obliegt den begleitenden Erwachsenen.

Das gilt auch für die Bereitstellung (durch Erwachsene) von Möglichkeiten begleitender Reflexion für die Aneignung von Wissens und Werten durch die Kinder und Jugendlichen. Diese müssen die Möglichkeit haben, über eigene Prämissen und Konsequenzen im Wissens- und Werteerwerbsprozess gemeinschaftlich nachdenken zu können. Dazu gehören auch Fragen, welches Wissen (bzw. welcher Wert) woher kommt, wozu dient, für wen nützlich ist, welche versteckten Vorteile es (bzw. er) enthalten kann (Gergen 2006, 35). Deutlich sollte hier werden, „dass verschiedene Werte auf dem Spiel stehen und alle Entscheidungen vor dem Hintergrund von Mehrdeutigkeit getroffen werden“ (Gergen 2006, 37).

Sensibilität in Kombination mit Selbstvalidierung (Kap.9.5.4) bieten dem schulischen Pädagogen im Zusammenhang mit dieser Verantwortung der Lernkontextformung Möglichkeiten angemessener Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung. Siebert (2005, 104) stellt die Modelle von Wissenstransfer (technokratisches Modell) und Erkenntnisanregung (konstruktivistisches Modell) und ihre unterschiedlichen Verantwortlichkeiten aus Lehrersicht idealtypisch einander gegenüber:

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Abb. 7-12: Verantwortung im Wissenstransfer-Modell und im konstruktivistischen Erkenntnisanregungs-Modell (Siebert 2005b, 104, in Anlehnung an Weidenmann 1995, 18)

In einem gelingenden oder scheiternden Erziehungsprozess haben nie die Eltern oder Pädagogen allein die Verantwortung, sondern auch die Kinder und Jugendlichen selbst. Hierzu gehört, Schülern Verantwortung zu ‚übertragen’, insb. auch für ihr schulisches Weiterkommen (Scala 1998, 234) und für die Mit- Gestaltung von Unterricht. Die hier für Lernprozesse notwendigen strukturellen Kopplungen „verweisen auf die Interdependenzen, Zirkularitäten, Inszenierungen in sozialen Systemen“ (Siebert 2005b, 79). Erziehung und Bildung sind Prozesse der Ko-Konstruktion und Ko-Evolution (Huschke-Rhein 1998b, 34,13) von Lehrern, die Experten für pädagogische Begleitung per nicht-trivialer Fragen sind, und Schülern, die kundige Experten für ihr Leben sind (G.Schmidt 2004a,b; Hargens 2004b). Verantwortlichkeiten und Interpretationshoheit für das eigene Leben verbleiben– soweit möglich238 - bei den Schülern als selbstreferenziellen autonomen Lebewesen (Balgo 2006, 115).

Verantwortlich- und Zuständigkeiten zwischen Erwachsenen- und Kindes-Ebene müssen dementsprechend im gemeinsamen Dialog bzw. ‚Metalog’ (Bateson) immer wieder geklärt werden, während das Ausmaß an Verantwortungsübernahme durch das Kind über die Monate und Jahre weiter wächst. Pädagogen und Eltern müssen als Person für den von ihnen verantwortlich gestalteten (und verhandelten) Rahmen einstehen und sollten zugleich nachdrücklich vom Kind erwarten und einfordern, „dass es dazu beiträgt, diesen Rahmen mit-verantwortlich zu gestalten“ (Hargens 2006, 73). Über den ‚Job' von Eltern und/oder Pädagogen wird im kommenden Kapitel noch Einiges ausgesagt. Verantwortungsübernahme der Eltern und Pädagogen bezieht sich im zirkulären Erziehungsprozess insb. auf Bewusstheit für das eigene Denken, Fühlen, Handeln und Kommunizieren. Zentrales Ziel ist es dabei, die Selbstverantwortung des Kindes (in der Postmoderne möglichst schnell) zu stärken und ihm zu helfen, angemessen Verantwortung zu übernehmen (Rotthaus 1999a. S.115).

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Hierfür benötigt der Pädagoge auch Möglichkeiten begleitender Reflexion für sich selber, da seine Konstrukte und Beobachtungen in ihren Voraussetzungen, in ihrer Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit und in ihren Folgen immer wieder in Frage zu stellen, zu überprüfen und ggf. zu verändern sind (Siebert 2006, 175). Viele der hier beschriebenen Implikationen systemisch-konstruktivistischer Pädagogik können zwar Orientierungs- und Verständigungshilfe sein, sie sind aber für Pädagogen, die letztlich kaum bekannte 30 Kinder gleichzeitig im 45-Minuten-Takt bei wechselnden Gruppen begleiten sollen, nicht immer auf Verhaltensebene voll abrufbar und einfach umsetzbar. Deshalb ist es Teil der pädagogischen Professionalität und zugleich Burn-Out-Prophylaxe, auf Bewusstseinsebene die realen Kontextbedingungen und Arbeitssituationen - z.B. unter systemisch-konstruktivistischen Prämissen - immer wieder zu reflektieren. Die Chancen von Super- und Intervisionen für Pädagogen sind vielfältig, Klärungen der eigenen Verantwortung und Suche nach den eigenen Ressourcen und Freuden anzustoßen (Kap.10.9).

Nicht zuletzt bleibt der Pädagoge für seine eigene Gesundheit „selbst an erster Stelle verantwortlich. Diesen Satz formuliert das Autopiesiskonzept“ (Huschke-Rhein 1998b, 74). D.h. der Pädagoge – bei aller Fürsorgepflicht von Vorgesetzten - entscheidet selber darüber, welche professionellen Maßnahmen beruflicher Unterstützung er heranzieht. Er bestimmt für sich selbst, was er als eher gesund oder eher als ungesund erlebt und wie er damit im gegebenen oder teilweise veränderbaren Rahmen umgeht. Ein besonderer Aspekt liegt dabei im Energiehaushalt, für den die Nähe-Distanzregulierung der Beziehungsgestaltung im Job zentral ist (Huschke-Rhein 1998b, 75,144). Dabei kann der eigene Körper kooperativer „Vertrags- bzw. Rückmelde-Partner“ (Reinhard 2003, 303) sein. Die meisten Menschen in sozialen Berufen übersehen, dass es, stattständig zu motivieren, vielleicht auch reicht, auf dem in einer Gruppe vorhandenen Energieniveau mitzuschwimmen (Schumacher 2002). Daher der provokante Satz an Lehrer: „Wenn es jemand im Raum gibt, dem es besser geht als mir, dann habe ich etwas falsch gemacht“ (Mücke 2002, 75). Im Anschluss an Hubrig/ Herrmann (2000, 156f) kann als das oberste Ziel für Pädagogen, Berater und Eltern gelten, immer wieder selber in einen ressourcenvollen Zustand zu kommen (Kap.9.6.2), aus dem heraus Metapositionen und Außenperspektiven eingenommen werden können. Die Reflexion über die Bedingungen des eigenen Handelns und die eigene ‚Umwelt’ als Lehrer, über „die Qual der Wahl zwischen verschiedenen Sichtweisen und Handlungsoptionen sowie über die persönliche Verantwortung für das eigene Tun und seine Ergebnisse“ bleibt systemisch-konstruktivistisch sowohl ein Muss als auch unbequem (Balgo 2005, 76).

Es lassen sich allerdings aus systemisch-konstruktivistischer Sicht einige wichtige konkrete Hinweise zu den Jobs der Erziehenden im Zusammenhang mit der Begleitung und Beziehungsgestaltung mit jungen Menschen geben.

7.13 Implikationen für Aufgaben pädagogischer Beziehungsgestaltung

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Pädagogik als Handlungswissenschaft ist aus systemisch-konstruktivistischer Sicht zuallererst Beziehung bzw. bewusste, reflektierte Beziehungsgestaltung. Diese Sicht soll im Folgenden (Kap.7.13.1) erläuternd vertieft werden. Eine erste, grundlegende Differenzierung von Funktionen von Eltern einerseits und Pädagogen andererseits (Kap.7.13.2) ermöglicht es – auf dem Hintergrund der Aufgabenverteilung konkreter Beziehungsgestaltung – ‚Jobs’, die eher allgemeiner, erzieherischer Art sind und zu den Eltern bzw. zu Eltern und Pädagogen gehören (Kap.7.13.3), abzugrenzen von konkreten Aufgaben, die v.a. der Profession schulischer Pädagogen zufallen (Kap.7.13.4).

7.13.1 Lehr-Lern-Konstellationen als dialogische Beziehungsgestaltung

Beziehung als Gestaltung des interaktionellen Raumes zwischen Lehrern und Schülern stellt für systemisch-konstruktivistische, pädagogische Denk- und Handlungskonzepte einen wesentlichen Focus und Schwerpunkt dar (Reinhard 2003, 303). Wichtige bisherige Ausführungen finden hier ihren Widerhall. Gergen weist darauf hin, dass das Potenzial einer auf Beziehung gegründeten Pädagogik generell sehr hoch ist, wenngleich die Forschung hier erst am Anfang stünde (Gergen 2003, 85). Besonders ausdrücklich beschreibt und betont das Bauer: „Der Dreh- und Angelpunkt für Erziehung und Bildung sind die handfesten, realen Erfahrungen, die junge Leute mit handfesten, realen Personen machen. Ein lebendiges, fest gefügtes Miteinander und persönlich erlebte gute Vorbilder sind die Voraussetzung für Motivation und für die Fähigkeit, beziehungs- und gemeinschaftsfähig zu werden“ (Bauer 2007c, 140). „Alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen. [...] Lehrkräfte wenden den größten Teil ihrer Energie dafür auf, erst mal eine Situation herzustellen, in der Unterricht überhaupt möglich ist. Gelingende Beziehungsgestaltung ist die zwingende Voraussetzung für den schulischen Bildungsprozess“ (Bauer 2007c, 14f). Beziehungen sind dabei nach Bauer (2006, 23) gekennzeichnet durch: „1. Sehen und Gesehenwerden, 2. gemeinsame Aufmerksamkeit gegenüber etwas Drittem, 3. emotionale Resonanz, 4. gemeinsames Handeln und 5. das wechselseitige Verstehen von Motiven und Absichten.“ Soziale Kompetenz kann dann definiert werden als „die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, qualitätsvolle Beziehungen einzugehen und dauerhaft zu halten, in Konflikten gemeinsam nach Lösungen zu suchen und gut für sich selbst zu sorgen“ (Renoldner et al 2007, 64).

Dies kann auch für pädagogische Beziehungen gelten, die allerdings sich durch weitere Spezifika auszeichnen. Pädagogische Kompetenz beruht gemäß postmodernen systemisch-konstruktivistischen Ansätzen239 auf den besonderen Fähigkeiten einer entwicklungsfördernden Beziehungsgestaltung und Kommunikation (Bünder 2006, 213). Lehr-Lern-Konstellationen sind reflexive Prozesse, die ihre Prozesswirklichkeiten erst in ihren interaktiven Bezugsrahmen erzeugen (S.J.Schmidt 2005b, 82). Auch Lernen ist ein Beziehungsgeschehen, das umso erfolgreicher sich ereignet, desto anregender und entspannter der gemeinsame Bedeutungsraum sich entwickelt (Renoldner et al 2007, 59). Die Konzeption von Schule als Zwangsveranstaltung erschwert eine solche Beziehungsgestaltung, da nicht der Schüler selber ‚Auftraggeber’ für (sondern nur Objekt von) Unterricht ist (Palmowski 2004a, 51f). Eine Nichtbeachtung des anderen Menschen tötet allerdings Beziehungen und Motivation ab (Bauer 2006, 23).

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Neben dem – auch für die systemische Pädagogik gültigen (Palmowski 2002c) - Primat der Beziehungs- gegenüber der Inhaltsebene spielt eine weitere Prämisse eine wichtige Rolle für die Beziehungsgestaltung zwischen Erziehenden und Kindern bzw. Jugendlichen. Es ist aufgrund der unterschiedlichen Alterslagen und Funktionen damit zu rechnen, dass es i.d.R. einen Gegensatz zwischen kindlichen und elterlichen Interessen gibt: „Kinder und Eltern sind [...] nicht gleichberechtigt, sie sind es niemals [...]. Es funktioniert einfach nicht: Ein ganzes Menschenalter liegt zwischen Kind und Eltern“ (Bergmann 2001, 150).240 Gerade weil es zwischen Erwachsenen und Jüngeren nur eine allmählich wachsende Gleichberechtigung geben kann, weil also eine Asymmetrie in der erzieherischen Bezugnahme angelegt ist, beinhaltet Pädagogik ‚Bindung’ auch in dem Sinne, dass man (auch die Eltern) sich in der Anzahl seiner Möglichkeiten (z.B. im Verhalten anderen gegenüber) beschränkt (Ruf 2005, 24).

Kombiniert man diese beiden Prämissen - Primat der Beziehungsgestaltung und Interessengegensätze - mit dem Autopoiesegedanken, dann ergibt sich eine Betonung des Dialogischen: Dann geht es um „offene, enthierarchisierte und dialogische Beziehungen, in denen Selbstwert, Selbstverantwortung, Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit“ (Reich 1998c, 21) von zentraler Bedeutung sind. „Der Interessengegensatz zwischen Eltern und Kindern steht einer liebevollen und fairen Beziehung zueinander nicht im Wege - wenn er anerkannt wird, wenn die verschiedenen Positionen in ihrer Verschiedenartigkeit akzeptiert werden und wenn beide Seiten miteinander an geeigneten Verfahren arbeiten, für unumgängliche Konflikte nach Lösungen zu suchen. Das bedeutet auch, Grenzen zu setzen und auf der Einhaltung dieser Grenzen zu bestehen“ (Bastian 2001, 21f). Erziehende sind nicht (per se) Besserwisser sondern „Anders-Wissende“ (Wyrwa 1997, 22) oder ‚Mehrwisser’ (Jäpelt 2004a, 191). Erziehung wird als ko-evolutiver Prozess verstanden (G.Schmidt 2004a, 142). „Erst wenn ich [als Pädagoge, R.M.] vertrauensvoll danach suche, was auch ich zu lernen bzw. zu verlernen habe, erst wenn ich mich als lebendiges, situationsabhängiges, nicht-triviales Wesen zeige und das im offenen Dialog formuliere, gewinne ich [das...] Vertrauen [der Schüler]. Erst wenn ich transparent, gleich[wertig..., R.M.], vertrauensvoll, lebendig, tolerant, neugierig, selbstreflexiv-selbstverantwortlich mit ihnen in einen gemeinsamen Forschungsprozess eintrete, reagieren sie auf meine manchmal kunstvollen Angebote“ (Reinhard 2003, 304).

Dieser gemeinsame Forschungsprozess muss selber wieder erforscht werden, um bewusst gestaltet werden zu können. Reich (2002, IX f) sieht in der „Notwendigkeit, pädagogische Arbeit immer auch auf der Beziehungsebene zu reflektieren und sich damit dem Thema der menschlichen Kommunikation umfassend zu stellen“, das „Kernstück einer systemisch-konstruktivistischen Pädagogik“. Systemisch-konstruktivistische, pädagogische Beobachtung fokussiert auf Interaktionen und beziehungskommunikative Prozesse (Reich 2002, 24).

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Beziehung ist auch deshalb wichtig, weil sie einen notwendigen emotionalen Rahmen für Lernprozesse darstellt. Das liegt nicht nur in der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion sondern auch darin begründet, dass auch rationale Einsicht allein häufig noch nichts verändert - sondern nur „positive emotionale Erlebnisse“ – mithin vorwiegend Beziehungserfahrungen – zu dauerhaften Veränderungen führen (Hubrig/ Herrmann 2005, 83; vgl.a. Ciompi 1997, Damasio 1997,2002). Wenn z.B. v.Glasersfeld „die Hauptaufgabe des Lehrenden darin [sieht], dem Lernendem in annehmbarer Form zu zeigen, dass es Denkweisen gibt, die auch in weiteren Bereichen brauchbar sind“ (v.Glasersfeld 2003, 34), so bezieht sich dies in der Postmoderne nicht nur auf Fragen der Wissensentstehung und ‚Wissensvermittlung’ im fachlichen und epistemologischen Bereich, sondern insbesondere auf Fragen der Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung zwischen Pädagogen und Schüler: „Von Bildung zeugende [...] Aussagen sind [...] Beziehungserfolge. Was als Vernunft, Gedächtnis, Motivation, Absicht und ähnliches bezeichnet wird, ist das Ergebnis koordinierter Handlung und Verhandlung innerhalb einer Gemeinschaft“ (Gergen 2003, 82). Im Zentrum systemisch-konstruktivistischer Pädagogik steht ihre Annahme, wie oben bereits geschildert, dass der Beziehungsaspekt als Kontextbedingung kommunikativ wichtiger ist als der Inhaltsaspekt. Daraus ergibt sich, dass „die Form der Lehre“ – das alltägliche Miteinander, die sozialen Spielregeln, Menschenbilder, ethische Werte – wichtiger ist als „der zu lernende Inhalt. [...] Die Form der Lehre ist stets der eigentliche Lehrstoff. [...] Genauso ist die Form der Interaktion und Kommunikation wichtiger als ihr Inhalt“ (Simon 2002, 153f).

Angesichts der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion ist gelingende Erziehung immer auch gelingende Kooperation zwischen dem Pädagogen und dem Kind241, bzw. zwischen Pädagogen, Eltern und Kind. Hierfür ist die pädagogische Bereitschaft wichtig, den Blick auf vorhandene Ressourcen zu lenken und Schüler und Eltern in einem kooperativen Sinne gut aussehen zu lassen (Palmowski). Dies beinhaltet für Schüler eine frühzeitige aber altersangemessene Teilhabe an Mit- und Selbstbestimmung und zugestandene Freiräumen (Schlippe 2006, 42). Außerdem kann – auch störendes - Schülerverhalten als Kooperation, nämlich als „permanente indirekte Supervision“ angesehen werden (Schumacher 2002): „Sie wollen mich [als Pädagoge, R.M.] dazu verführen, dass ich es mich traue, mir selbst und den anderen zu begegnen, indem ich nicht-triviale Fragen zu stellen beginne. Dann sind sie bei der Sache. Sie locken meine äußere Dialogfähigkeit heraus, die sich nur als echt erweist, wenn ich meine innere Dialogbereitschaft kultiviere“ (Reinhard 2003, 305).

Solche eher kooperativen Sichtweisen stehen derzeitig noch einigen in Schule zu beobachtenden, faktischen, eher unkooperativen ‚Beziehungsregeln’ gegenüber, die Ebbecke-Nohlen etwas pointiert und damit deutlich beschreibt. Für Lehrer liege es nahe, Situationen in Kategorien von „entweder richtig – oder falsch“ (ohne Zwischentöne) und damit als – wie es ihrer fachlichen Funktion am ehesten noch entspricht – Wissende zu betrachten (Ebbecke-Nohlen 2006, 274). Unter solchen Voraussetzungen seien Pädagogen durchaus (hilfs)bereit, andere mit ihren Ratschlägen zu belehren, aber neugierig erkundende, weiterführende Fragen (v.a. von Schülerseite aus) wirkten für sie überflüssig. Fehler begingen nämlich – in dieser Logik aus Lehrersicht – immer die anderen. Eine weitere Beziehungsregel benennt Ebbecke-Nohlen als: ‚Wenn ein Pädagoge keine Lösung kennt oder sieht, ist es besser, erst gar nicht hinzuschauen.“ Entweder wird in Schule aufgrund einer solchen, übertriebenen Komplexitätsreduktion also über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden oder verdrängt (Ebbecke-Nohlen 2006, 275).242

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Damit steht die Person243 des Lehrenden (welcher ja Beziehungen mit den Schülern und teilweise auch zwischen ihnen als Basis für Lernprozesse gestaltet) im Mittelpunkt pädagogischen Wirkens und pädagogischer Weiterbildung. Die sozialen, personalen und kommunikativen Kompetenzen des Lehrers werden im systemisch-konstruktivistischen Modell (im Vergleich zu anderen Ansätzen) weiter aufgewertet: „Für den konstruktivistischen Pädagogen liegt die Hauptherausforderung darin, zu generativen Beziehungen beizutragen – Beziehungen, aus denen der Lernende mit gesteigerten Fähigkeiten hervorgeht, mit anderen Menschen Beziehungen eingehen zu können. Die Rolle des Lernenden ist [...] die eines Subjektes innerhalb von Beziehungen. [...] Am wichtigsten ist die Frage, wie die Konzentration auf die Beziehungsebene den pädagogischen Prozess bereichern kann“ (Gergen 2003, 82f). Die gestiegene Bedeutsamkeit von Beziehung im Pädagogischen liegt darüber hinaus auch daran, dass Lernbereitschaft gerade in einer postmodernen, unsicheren Welt auf Schülerseite Vertrauen gegenüber dem Lehrenden voraussetzt (Huschke-Rhein 1998a, 63).244 Siebert geht dementsprechend davon aus, dass Interesse an Themen häufig durch ‚vertrauenswürdige’ Lehrpersonen geweckt werden (Siebert 2006, 161). Als Teil des Unterrichtssystems kann der Lehrer seine ganze Person als ‚Interventionsinstrument’ nutzen (Hubrig/ Herrmann 2000, 156), um über die Gestaltung einer emotional ‚einbettenden Kultur’ (Kegan) Lernprozesse zu ermöglichen.

Mit dem Autopoiese-Gedanken sind die psychischen Prozesse der Lernenden Grundlage allen Lernens. Erwartungserwartungen, selektive Wahrnehmungsprozesse, Erinnerungen, Projektionen auf beiden Seiten lassen das Verhältnis zwischen Lehrendem und Schüler kontingent und ambivalent werden (Siebert 2006, 161). Ein Lernsystem wie Schule darf dann die psychischen Prozesse nicht außer acht lassen, will es Lernleistungen als ‚System-Output’ erreichen (Huschke-Rhein 1998a, 61). Fraglich bleibt, ob bzw. inwieweit das unter den heute gegebenen Bedingungen von Schule möglich ist (mehr dazu in Kap. 8.3). Jedenfalls sind aus konstruktivistischer bzw. autopoietischer Sicht Lehrer und Schüler in ihrer operationellen Geschlossenheit gleichwertig und müssen, so die bereits angesprochene Forderung Reichs, pädagogische Mittel (und ggf. Ziele) aushandeln und ausprobieren (Reich 2005, 188).

Solche Verhandlungen sind in den letzten Jahren nötiger und schwieriger geworden. Insb. mit Kindern und Jugendlichen aus Familien in prekärer Situation entsteht eine kooperative Beziehungsgestaltung in Schule sehr häufig nicht mehr (allein) über eine humanistisch-akzeptierende Herangehensweise (Hubrig/ Herrmann 2005, 56). Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass die Kinder diese Form der Kommunikation von zuhause in dem Sinn kennen, dass dort ihnen keine Grenzen gesetzt werden (Hubrig/ Herrmann 2005, 49) und freundlich-unverbindliche Unterstützungs- bzw. Beratungsangebote des Lehrers damit lediglich ein ‚Mehr-Desselben’ einer nicht–funktionierenden Lösung repräsentiert, die selber längst zum Erhalt des Problemmusters beiträgt. Hubrig/ Herrmann (2005, 56) schlagen in solchen Fällen vor, eher ein Pokerface aufzusetzen und weder zu belehren noch überhaupt viel auf den Schüler einzureden.245 Auf dem Hintergrund der von mir angedachten, erklärenden Vermutung wäre dies ein entscheidender angemessen ungewöhnlicher Unterschied im Verhalten des begleitenden schulischen Erziehers gegenüber den gewohnten Umfeldern der Schüler.

▼ 224 

Den Rahmen systemisch-konstruktivistischer Pädagogik246 und Erziehung bilden, so kann zusammengefasst werden, Beziehung und Interaktion zwischen Pädagogen und Schülern bzw. zwischen Eltern und ihren Kindern. Eine positive Interaktionsbeziehung stellt dabei lediglich eine notwendige Voraussetzung für das Ziel der Anregung und Förderung der Selbstorganisation der jungen Menschen dar, „aber der Erfolg ist nicht einfach das direkte Resultat der Beziehung“ (Huschke-Rhein 1998b, 54, vgl..a.S.51). Das gilt sowohl für Eltern als auch für Lehrer, wenngleich ihnen in Teilen ganz unterschiedliche Funktionen und Aufgaben zukommen.

7.13.2 Ähnlichkeiten und Unterschiede bei Eltern- und Lehrerfunktion

Elternhaus und Schule haben wichtige ähnliche Erziehungsfunktionen, es gibt aber auch erhebliche Unterschiede in den Anforderungen, denen sie sich gegenüber sehen. Während in späteren Kapiteln differenziertere Ausführungen über genauere erzieherische Aufgaben der beiden Gruppen (Kap.7.13.3 und 7.13.4) und über ihre mögliche Zusammenarbeit (Kap.9.3) folgen, soll an dieser Stelle zunächst nach grundlegenden Funktionsunterschieden geschaut werden.

Bastian (2001, 58,62) sieht für Eltern zwei wesentliche, letztlich zeitlich begrenzte Aufgabenbereiche: erstens, ‚Nährstoffbasis’ bzw. ‚Futterkrippe’ und, zweitens, ‚Trainingspartner’ und ‚Punchingball’ zu sein. Schule ist (fast) nur im zweiten Bereich unterwegs, der allerdings stärker als der erste mit Identitätsbildung zu tun hat. Der Trainingspartner besitzt die „Funktion eines Sparingspartners, [...] gegen den man im spielerischen Sinne kämpft – also zum Trainingszweck, nicht als Ernstfall“. Im Training sind Fehler erlaubt, die „man ‚draußen’, in der ‚freien Wildbahn’, besser vermeidet, weil sie schwerwiegende Folgen haben“ (Bastian 2001, 170). Schule kann aufgrund ihres Settings und mit wachsendem Alter der Schüler auch als ein langsam zunehmendes Bewährungsfeld in quasi ‚halbfreier Wildbahn’ gesehen werden. Umgekehrt sind Eltern auch Lehrer ihrer Kinder; in dieser Funktion allerdings stärker noch als Lehrer „Versuchsobjekte“ für ihre Kinder (Bastian 2001, 60).

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Wie die Bezeichnung „Erziehungsberechtigter“ schon zeigt, können Unterschiede zwischen Eltern und Lehrern des Weiteren darin gesehen werden, dass Eltern eher für den Aspekt der Erziehung im engeren Sinn und Lehrer eher für den Bereich Unterricht zuständig sind (Rotthaus 1999a, 122). Die Grenzen sind aber letztlich tendenziell fließend, da Lernen umfassend geschieht: Konstrukte wirken sich in allen Lebensfeldern auf Handlungen aus (und umgekehrt). Das bedeutet auch, dass Eltern und Pädagogen letztlich an einer zumindest ähnlichen Aufgabe arbeiten (wenngleich mitunter mit teildifferierenden Zielen und Absichten): Kinder auf dem Weg in ihre wachsende Selbstständigkeit angemessen zu begleiten. Beide Seiten (Schule wie Elternhaus) haben großen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, später dann auch die Peergroup. Die Auswirkungen von Schule wie Elternhaus sind im jeweils anderen System – häufig als ungewollte Nebenwirkung - zu spüren, bis dahin, dass „unerwünschte Nebenwirkungen von Erziehung [...] zu den wesentlichen Wirkungen erzieherischer Handlungen überhaupt werden“ können (Rotthaus 1999a, 125).247

Wenn man den Blick auf Schule (statt auf Eltern) in den Mittelpunkt stellt, lassen sich die wesentlichen Funktionsunterschiede zwischen Lehrern und Eltern so beschreiben, dass Lehrer - anders als Eltern - unterrichten, zukunftsrelevante Auswahlprozeduren vornehmen und ‚Klassenmanagement’ betreiben müssen. Einige der hier relevanten Fragen kennen auch Eltern gut, insb. jene, die letztlich den Erziehungsstil betreffen: das Verhältnis Fördern und Fordern, Momente von Er- und Entmutigung, Aspekte von Beziehungsgestaltung, Kommunikation, Haltungen. Es gibt aber auch Aspekte, die ausschließlich die Arbeit der Lehrenden betreffen: z.B. eigener Unterrichtsstil, Benotungskriterien, die Identifikation von Lernschwierigkeiten und von stützenden Maßnahmen, das Erstellen von Klassenregeln und Klassenführung (vgl.Kap.9.9), der Abgleich unter den Kollegen248 (Wellenreuther 2004)249. Außerdem sollte Pädagogik gerade bei auffälligen Schülern versuchen, beziehungsgestalterische Unterschiede im Vergleich zu deren Heimatsystem einzubringen (Hubrig/ Herrmann 2005, 80).

Umgekehrt bleiben die Eltern für ihr Kind in einer höheren (Erziehungs)Verantwortung als schulische Pädagogen sie je für dieses Kind übernehmen können.

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Im Folgenden soll untersucht werden, welche detaillierten erzieherischen Aufgaben schulische Pädagogen übernehmen können. Hierbei wird eine erzieherische Funktion, die für Eltern und Pädagogen gilt (Kap.7.13.3), unterschieden von rein pädagogischen Aufgaben (Kap.7.13.4). Eine solche Klarheit ist für Pädagogen angesichts ihrer Funktionsvielfalt wichtig. Die Bestimmung konkreter Aufgaben auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund erleichtert es aber auch einer Fortbildung für Lehrer, deren Beziehungsgestaltungskompetenzen gezielt weiter zu fördern.

7.13.3 Aufgaben der Beziehungsgestaltung für Erziehende

In pluralen Gesellschaften, in denen Werte kaum noch verlässlich oder aber so abstrakt auf Prinzipienebene (z.B. Verfassung, GG) formuliert sind, dass sie auf konkrete moralische Regeln erst heruntergebrochen werden müssen, kommt Eltern und Pädagogen eine besondere Rolle und Verantwortlichkeit im Umgang mit jungen Menschen zu. In einer konkreten Beziehung mit den jungen Menschen stehend, haben älteren Bezugspersonen zentrale Verantwortung für ihre eigenen Haltungen und Werte und für das, was sie Kindern und Jugendlichen zurückspiegeln (Bergmann 2001, 55): Kinder und Jugendliche suchen in dem Bild, das Erwachsene von sich geben, und v.a. in dem Bild, das sie sich von den Kindern und Jugendlichen machen, „nach einer Auskunft darüber, was sie werden (könnten), was sie sich zutrauen dürfen“ - damit haben Erziehende Mitverantwortung für einen zukunftsweisenden ‚Korridor’, in dem sich die Kraft einer selbsterfüllenden Prophezeiung entfalten kann (Bauer 2007c, 132). Gerade für schulische Pädagogen ist an dieser Stelle die Aufgabe von zentraler Bedeutung, Wertschätzung für das Kind bzw. den Jugendlichen von den Noten (d.h. der Einschätzung der schulischen, überwiegend kognitiven Leistung) zu entkoppeln.

Für eine angemessene erziehende Begleitung müssen noch eine Vielzahl anderer Aspekte hinzutreten, von denen etliche wichtige hier in Kurzform aufgelistet und ansatzweise erläutert werden. Diese Liste ist weder vollständig noch gänzlich umzusetzen, sie vermag vielmehr Ideen zu liefern und Implikationen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes zu verdeutlichen. Sie ist zu verstehen als Hinweise gebend, worauf man im Erziehungsprozess als begleitender Elternteil oder Pädagoge ggf. achten kann oder sollte. Insbesondere sind hier die dahinterstehenden Haltungen wichtig. Dabei wird eine – in Teilen tendenziell künstliche Trennung - zwischen erzieherischen Aufgaben gezogen, die eher generell erzieherischer Art sind (und Eltern und Pädagogen betreffen) und die eher in den Bereich der pädagogischen Professionalität gehören. Dies stellt einen vorläufigen Versuch dar, Erziehung als Elternteil und als (schulische) Profession modellhaft zu unterscheiden. Die meisten der genannten „Jobs“ der Eltern (Tsirigotis et al 2006) gelten auch für Pädagogen, allerdings i.d.R. in geringerer Intensität oder etwas andersartiger Qualität. Klar sollte dabei bleiben, dass die Eltern die Erziehungsberechtigten sind und insofern rechtlichen und faktischen Gestaltungsvorrang haben.

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Zwischen den Subsystemen (z.B. Eltern, Lehrer, Kinder) sollte Kontakt bzw. strukturelle Kopplung möglich sein, aber andererseits muss die Funktionsverteilung so eindeutig sein, dass es nicht ständiger Auseinandersetzung bedarf (Hennig/ Knödler 2000, 73 in Anlehnung an Minuchin 1977). Das gilt auch für Situationen und Strukturen innerhalb der Familie. Reinhard (2003) zeigt bspw. auf, das die Unklarheit von Funktionen (‚Rollen’), von Kommunikation und Beziehungsgestaltung häufig ein Kennzeichen familiärer Kommunikationskontexte bei Indexkindern mit AD(H)S-, Dyskalkulie- oder LRS-Symptomatik ist. Insbesondere für alle beraterischen Situationen zwischen Elternhaus und Schule (und schulhausexternen Institutionen) müssen Funktionen und Aufgaben klar verteilt sein und ggf. explizit ausgehandelt, abgesprochen undmitunter schriftlich fixiert werden (Kap.10 und 11.4). Beratung durch Systemexterne kann Aufgaben- und Funktionsklarheit für das beratene System (Familie, Klasse, Schule usw.) wieder herstellen. Bei den von Reinhard genannten Beispielen können gut angekoppelte und vom Heimatsystem legitimierte Interventionen in die Beziehungsgestaltung der Familie die genannten Symptome zum Nachlassen und sogar Verschwinden bringen - und zwar bei einigen Kindern, ohne dass Helfer symptombezogene Übungen250 mit den Kindern durchführen (Reinhard 2006). Voraussetzung ist aber u.a. eine klare Aufgabenverteilung.

Aufgabe der Erwachsenen ist es, so Rotthaus (1999a, 48), einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Kinder (‚Kinder als Seiende’) und den Bedürfnissen der Gesellschaft (‚Kinder als Werdende’) zu finden. Dafür müssen sowohl Innen- als auch Außenperspektive eingenommen werden können, die Position des Systembeobachters mit der persönlich teilnehmenden Beobachtung gekoppelt werden können. Eltern und Erzieher haben eben nicht die Funktion von Kumpeln (Schneider 2000a, 27). Jesper Juul spricht der Eltern/Pädagogen-Kind-Beziehung ihr demokratisches Element ab, da dem Kind keine Entscheidungen zugemutet werden dürften, für die es noch nicht reif sei: „Wir können unsere Kinder auf die Demokratie vorbereiten, aber die Eltern-Kind-Beziehung kann nicht demokratisch sein“ (Juul 1998)251. Wohl aber kann sie als „einseitig-egalitär“ bezeichnet werden (Juul, zit.n. Zangerle 1998, 46), denn die Eltern wüssten häufig auch nicht mehr als die Kinder, jedenfalls könnten sie nicht definitiv und genau wissen, was sich letztlich als gut für das Kind erweise (Juul 1998, 49). Die Kontinuität emotional fundierter Beziehungen muss allerdings im angemessenen Rahmen gewährleistet werden können (Huschke-Rhein 1998b, 36,40), was heißt, dass der Erwachsene verantwortlich bleibt für die Qualität seiner Beziehung(sangebote) zum Kind (Juul nach Gründler 1998, VI) und für seinen Beitrag zur ‚einbettenden Kultur’, die die Beziehung zu ihm darstellt.

‚Job’ der Eltern aber auch von Pädagogen ist es, allgemein gesprochen, „Struktur vorzugeben, eine positive Atmosphäre zu schaffen, in diesem Rahmen dann sowohl Raum zu geben für die Initiativen des Kindes, als auch selbst Initiative zu übernehmen und zu leiten“ (v.Schlippe 2006, 10). Hierbei sollten ihnen nicht nur ihre Aufgaben klar sein sondern ebenso ihre Interessenlage, ihre Möglichkeiten und Grenzen, da nur selbstständige Erziehende junge Menschen zur Selbstständigkeit begleiten können (Bastian 2001, 28,30) und ihnen „Vor-Bilder“ (Bauer 2007c, 27)252 sein können.

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Diese Ideen können in eine größere Anzahl von Aufgabenbeschreibungen, hilfreichen Einstellungen und Methoden aufgefächert und so weiter konkretisiert werden. Es geht hierbei um orientierende Anhaltspunkte, eine perfekte Umsetzung ist ohnehin im Umgang mit lebenden Systemen als unmöglich anzusehen:253

Zunächst werden Punkte aufgeführt, die Pädagogen und Eltern betreffen:

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Hier befindet sich die Aufzählung bereits in einem Übergangsbereich zu Aufgaben, die eher Ausdruck von pädagogischer Professionalität als elterlicher Erziehung sind bzw. sein müssen.

7.13.4 Aufgaben professioneller Pädagogik

Es werden im Folgenden weitere mögliche Aufgaben und Haltungen für schulische Pädagogen aufgeführt, die nun allerdings sich primär auf ihre pädagogische Professionalität beziehen und deutlich weniger von Eltern einzufordern sind. Ähnlich wie (später) Peergroups vermögen mitunter auch Pädagogen in der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen, diesen eine neue und andere Sicht von Welt, Selbst und Leben zu vermitteln sowie Ermutigung zu schenken, sich Herausforderungen zu stellen. Für ihre Schützlinge können Lehrerpersönlichkeiten (im Vergleich zum ggf. problematischen Heimatsystem) manchmal „eine ‚zweite Chance’“ sein (Bauer 2007c, 137). Aufgrund ihrer Eingebundenheit in den schulischen Kontext und der größeren ‚Ferne’ zu den Kindern als die Eltern haben Pädagogen eine eigenständige Position. Folgende Aufgaben lassen sich hier benennen:

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Diese Anregungen müssen in ihrem Zusammenhang und systemisch-konstruktivistischen Kontext gesehen werden. Die Zusammenstellung bietet lediglich Fokussierungshilfen und ist sich bewusst, dass es „unmöglich [ist], die unglaubliche Fülle von Rahmenbedingungen, der Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung begegnen und die sie prägen, zu kontrollieren“ (Omer/Schlippe 2002, 25). Das ist auch nicht nötig, da (auch junge) Menschen als aktive, bewusste und kreative Wesen, das, was sie erleben und was ihnen begegnet, auf eine konstruktive Weise verarbeiten (Omer/Schlippe 2002, 160). Es reicht, dass Pädagogen als ‚good enough teacher’ eine ‚durchschnittlich annehmbare Umgebung’ bieten (in Anlehnung an Winnicott 1989, zit.n. Omer/Schlippe 2002, 77).265

Noch einige Bemerkungen zur möglichen Vorbildfunktion von Lehrern. Die postmodernen Schüler suchen im Lehrer nicht nur den Stoffvermittler. Wenn Schüler in ihren Entwicklungsprozessen und innerhalb der Pluralität von Sinn- bzw. Handlungsangeboten verstärkt auf der Suche nach Orientierung und Identität sind, ist es Pädagogen auch grundsätzlich und gegenüber früher vielleicht sogar verstärkt266 möglich, über persönliche Beziehungsgestaltung den Schülern bewusst pädagogische Beziehungsangebote zu machen (Kap.9.2) und damit u.U. einem Bedürfnis nach Vorbildfunktion (in bestimmten Bereichen) zu entsprechen. Siebert (2005, 104) schlägt vor, dass Pädagogen ihre „Überzeugungen – bei aller Vorläufigkeit – offensiv vertreten, ohne intolerant zu sein.“

Letztlich entscheiden allerdings die Schüler, ob ein Lehrer in einem konstruktivistischen Zuschreibungsprozess Autorität zuerkannt bekommt. Er besitzt sie nicht mehr qua Amt. Ein Kind entscheidet selber, ob es einem Autor erzieherischer Intervention oder pädagogischer Erzählungen für einen bestimmten Bereich die Funktion eines Erziehers oder Pädagogen zubilligt. Hierfür spielen Authentizität, Kongruenz, Präsenz, Zuverlässigkeit, Respekt und Verständnisbereitschaft des Pädagogen eine große Rolle. Akzeptiert der junge Mensch die Erzieher-Zögling-Beziehung nimmt er auch die dahinterstehende Asymmetrie der Beziehung – für den entsprechenden Bereich menschlichen Lebens – an (Rotthaus 1999a, 77). Entscheidungsleitend können dabei drei Aspekte sein: seine Bewertung der Person der Erziehers, der intendierten Erziehungsziele und des Bildes, das die Beziehungsdefinition für das Selbst des Schülers vorsieht (Rotthaus 1999a, 79). Nur Autorität und Respekt zu fordern, wie Bueb (2006) das tut, greift deshalb zu kurz. In der Postmoderne stellt sich vielmehr die Frage, unter welchen Voraussetzungen Autorität und Respekt zugeteilt werden (Bauer 2007c, 8).

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Insofern als der Erziehende im interaktionellen Geschehen (das das zu erziehende Subjekt mit beeinflusst) erzieherischen Anspruch erhebt, entsprechende Ziele vor Augen hat und entsprechende Kontexte gestaltet, mit denen er versucht, Einfluss auf den jungen Menschen und seine Persönlichkeitsentwicklung zu nehmen, ist die pädagogische Beziehung asymmetrisch angelegt.267 Lernende und Lehrende besitzen im Rahmen der Lernkultur unterschiedlich definierte Aufgaben (S.J.Schmidt 2005a, 106). Es ist mithin nicht der Inhaltsaspekt, sondern der Beziehungsaspekt, der eine Handlung als erzieherisch definiert. Indem der Pädagoge diese Umstände explizit macht, kann er diese Asymmetrie relativieren.

So entsteht ein Beziehungsraum mit eigenen Regeln und Verhaltensmustern, der durch erzieherische Interaktion mithergestellt und mitgestaltet wird. Dabei muss es zwischen Erwachsenen und Kindern, v.a. aber Jugendlichen, zu Konflikten kommen, da ihre Beziehungen sich durch das Wachsen und zunehmende Mündigwerden der Zöglinge strukturell verändern. Können Kinder und Jugendliche durch Konflikte und Enttäuschungen und insb. durch schmerzliche Erfahrungen moralischer Entwicklung hindurch gehen, während eine einbettende Kultur sie auffängt und mitträgt, führt dies zu Persönlichkeitsentwicklung (Rotthaus 1999a. S.59.,117. vgl. Oser/ Spychiger 2005, Kap.6).

Förderlich für eine Akzeptanz der Autorität des Erwachsenen kann seine Fähigkeit sein, einerseits junge Menschen beraterisch begleiten zu können, mit ihnen also z.B. ressourcenorientiert so nach Lösungen zu suchen, dass sie selbst ihre für sie stimmigen Lösungen ggf. über kleine Schritte in ihrem Tempo entwickeln. Andererseits sollte er konfrontative Gespräche fair und in Anerkennung der Autonomie des Gegenübers führen und dabei Verstöße sowie das gewünschte Verhalten klar benennen können. Mehr dazu in Kap.9.1. Der Lehrer hat zunehmend mit Interessen, Ressourcen und Entwicklungsprozessen des Schülers als Subjekt bzw. Individuum zu tun und wird zunehmend mit Beratungsbedarf und Fragen von Gruppendynamik268 konfrontiert sein. Huschke-Rhein (1998b, 8) sieht „Pädagogik als Beratungswissenschaft“, da unter der Prämisse der grundsätzlichen Selbstorganisation von Schülern als lebenden komplexen Systemen „jeder pädagogische Akt seiner Struktur nach als ‚Konsultation’, als Beratung beschrieben und verstanden werden“ kann (Huschke-Rhein 1998b, 15). Ohnehin steigt der Beratungsbedarf in Schule kontinuierlich an.

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Es geht in der postmodernen schulischen Pädagogik vor allem um eine angemessene Begleitung akkomodativen Lernens, um ‚transformative Bildung’, um begleitete Persönlichkeitserweiterung. Das diversifiziert die Funktionen von Lehrern: Sie sind dialogische Lernbegleiter, Ermöglicher und Erleichterer (Facilitator) von Lernprozessen, Beziehungsgestalter, Moderatoren, Grenzensetzer, Konfliktbewältiger, Berater, Coaches, Netzwerkarbeiter und Selbstreflektierende (Voß 2000b, 34). Da heutige Pädagogen für eine solche ausdifferenzierte Beziehungsgestaltung i.d.R. keine Ausbildung haben, entsteht Burn-Out-Gefahr - vor allem gerade dann, wenn sie unterstützen und helfen wollen. Sich hier weiterzubilden, kann sie weiter professionalisieren für das aktuelle Geschehen in Schule und Unterricht.

Während es in diesem Kapitel hauptsächlich um die ‚Gestaltung pädagogischer Beziehungen’, also zwischen Pädagogen und Schülern geht, so sollen doch kurz einige Anmerkungen zur pädagogischen Gestaltung von Beziehungen unter Schülern gemacht werden. Eine schulische und unterrichtliche Kontextgestaltung, die soziales Lernen und kooperative Arbeits- und Umgangsformen fördert und verlangt, kann als hilfreich für die personale Entwicklung in postmodernen Gesellschaften angesehen werden. Konstruktive Konfliktbearbeitung sollte dabei nicht nur direkt von den Lehrpersonen vorgelebt werden, sondern auch innerhalb der Gruppe angeregt und begleitet werden. Differenzen in der Klasse bzw. die „Vielfalt der in einer Gruppe vertretenen Erfahrungswirklichkeiten und Perspektiven“ kann anregend für soziale Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und verhandlung sein (Siebert 2005b, 109). Die Fähigkeit, die Regeln der eigenen Interaktion „kontinuierlich explizit in Sprache zu gießen, miteinander auszuhandeln und gemeinsam zu verändern“ kann sowohl für Schüler als auch für Lehrer als „Schlüsselqualifikation“ für den Umgang mit verschiedensten Lebensformen, für gemeinsam entwickelbare Konfliktbearbeitungsmuster und praktizierte Demokratie angesehen werden (Palmowski 2002b, 52). Hier wird deutlich, dass es letzten Endes um bestimmte Haltungen geht, die der Pädagoge selber an den Tag legen muss, um sie von den Schülern untereinander einfordern zu können.

Zum Abschluss des siebten Kapitels sei noch einmal deutlich festgehalten, dass die Kunst der Begleitung (Kompetenzen in Gesprächsführung, Beziehungsgestaltung, Interaktion, Gruppendynamik, Führung, Beratung u.ä.) für Pädagogen in der heutigen Schule immer wichtiger wird. Dies könnte auf Dauer zu einem Paradigmenwechsel hin zu einer systemisch-konstruktivistischen Pädagogik führen, die für die genannten Bereiche vielfältige Anregungen und Hilfestellungen bereit hält. Grundlegende Aspekte systemisch-konstruktivistischer Pädagogik sollen daher an dieser Stelle mit bisherigen, abweichenden Sichtweisen kontrastiert werden. Hierfür stellt Siebert konstruktivistisch-postmoderne Ideen von Pädagogik modernen, auch bürokratisch geprägten Ansichten gegenüber, die er als „curriculumtheoretisch“ bezeichnet.

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Abb. 7-13: moderne-curriculumtheoretische Ansichten auf Schule vs. postmodern-konstruktivistische (Siebert 2005b, 107)269

Hier zeigen sich auch Unterschiede zu reformpädagogischen Ansätzen, die zwar i.d.R. schüleraktivierende Methoden einsetzten, aber „die Selbsttätigkeit oft nur zur Nachahmung bestehender Lebenswelten und zu einer möglichst harmonischen Einführung in diese nutzen wollten. Konstruktivistische Pädagogik bedeutet hingegen [... : ] Nichts aus den Wirklichkeiten ist ein Heiligtum, das uns absolute Werte oder konstante Normen vermitteln könnte“ (Reich 2002, 127).

Die dargestellten Ideen systemisch-konstruktivistischer Pädagogik treffen in der Realität des Schulalltags auf bestimmte Strukturen der gegenwärtigen Schule, die Kontext und Rahmen für eine mögliche Umsetzung dieser Ideen und Anregungen sind.


Fußnoten und Endnoten

171  Bereits weiter oben wurde deutlich, dass der systemisch-konstruktivistische Ansatz insb. zu Ideen und Sichtweisen passt, wie sie für die Postmoderne der idealtypischen Stufe 5 nach Kegan typisch sind (Kap.5.2.3).

172  In einer Kurzform findet sich diese Idee auch in Jäpelt 2004b, dort unterteilt nach radikal konstruktivistischen, sozialkonstruktionistischen und systemischen Theoriebereichen.

173  Die Kenntnis systemisch-konstruktivistischer Theorien wird, wie gesagt, für die hier vorliegende Arbeit vorausgesetzt; auf sie muss aber insoweit eingegangen werden, als aus ihr Folgerungen für schulische Pädagogik abgeleitet werden.

174  Fragen der ‚Beratung’ in Schule werden in einem eigenen Kapitel (Kap.10) behandelt.

175  Mit der Annahme eines ko-evolutiven Modells werden gleich drei andere Modelle in Frage gestellt: a) das Sender-Empfänger-Modell, gemäß dem Pädagogen gezielt informieren, aufklären, erziehen usw.; b) das Gemeinschaftsmodell, dem gemäß eine Klasse eine symbiotische Gemeinschaft wäre; c) das Individualismusmodell, dem gemäß jeder für sich allein lernt bzw. lernen kann (Siebert 2005, 79).

176  Radikalkonstruktivistisch gesehen, finden die tatsächlichen Effekte im Bereich der Selbstorganisation im Verborgenen – nämlich im nicht direkt zugänglichen Gehirn des Lernenden – statt. Daher definiert Rotthaus (2006, 36) Erziehung wie folgt: „Wenn ein Mensch seinen Handlungen des Anregens, Informierens, Lobens, Tadelns usw. erzieherische Absicht zuschreibt und diese erzieherische Absicht auf einen oder mehrere andere Menschen [...] richtet, findet Erziehung statt. Dabei ist unwichtig, ob eine entsprechende Handlung überhaupt eine oder welche Wirkung sie hat.“ Diese Definition berücksichtigt die letztliche „Unerziehbarkeit“ lebender Systeme (mehr dazu in Kap.7.3), kann aber insofern auch nicht ganz befriedigen, als die Intention, erziehen zu wollen, ebenso wenig von außen einzusehen bzw. verlässlich festzustellen ist, wie Erziehungserfolge.

177  Huschke-Rhein (1997, 50) führt aus: „’Bildend’ wäre [...] erst das selbstbestimmte Verfügen können über die Themen in unterschiedlichen Kontexten, um jeweils [...] routinierte Alltagsmuster aufzugeben, wenn sie nicht mehr produktiv für Leben und Überleben sind. [...] Gewohnheiten verbinden mit der Vergangenheit, kontextuelles Neugestalten dagegen mit der Zukunft.“ - Thesen zu „transformativer Erwachsenenbildung“ finden sich in Anlehnung an Mezirow bei Siebert 2005b, 27.

178  Der ‚Erfinder’ der Peanuts, Schulz (2000, 120), schreibt: „Echte Konversation bedeutet, immer wieder Fragen zu stellen. Und zwar die richtigen Fragen zur richtigen Zeit.“

179  Grundhaltung wird hier verstanden als selbstgeprägte Form, die sich ein Mensch gibt, um sein eigenes Dasein verantwortlich in die Hand zu nehmen (Bollnow 197, 155, zitiert nach Voß 2005b, 14).

180  Abhängig von den Kontexten der Pädagogik (Kap.9.1) sind einerseits Neutralität und Nicht-Wissen (im Beratungs- u. Unterstützungskontext v. Pädagogik) und andererseits klare inhaltliche Positionierung und Wissen (im Kontroll- und Auswahlkontext von Pädagogik). Hierbei handelt es sich aber nicht um Grundhaltungen sondern um Positionierungen.

181  „Der traditionellen Form des Unterrichts liegt ein Defizitmodell zugrunde: der Lehrer weiß, das Kind weiß nicht, d.h. es hat ein Defizit, das es zu beseitigen gilt“ (Retzer/Simon 1998, 4).

182  Das heißt nicht, alles, was ein Schüler denkt und tut, gutzuheißen.

183  Interessanterweise ist dies gerade bei Pädagogen zu beobachten, die aus humanistischer Richtung kommen.

184  Vgl.a. Abb. 4-7 und Abb. 5-2.

185  Von Foerster weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass das Wort ‚Existieren’ in seinem ursprünglichen lateinischen Sinn von ‚entstehen’, ‚entspringen’, ‚hervorkommen’, ‚erscheinen’ stammt.

186  Dass sie Konstrukte sind, sagt noch nichts über deren Un/Nützlichkeit oder die Il/Legitimität des Auftrags an Lehrer zur Auswahl und Kontrolle aus.

187  Vgl. Abb. 6-1 in Kap. 6.3.1.2

188  Postkarte von Effpunkt, Freiburg. O.J.

189  Dies ist auch eine zentrale Idee der Aufmerksamkeitsfokussierung der hypnosystemischen Therapie und Beratung. Dies erklärt z.B., warum negative Formulierungen („nicht mehr müde und schwer“) die absichtsgegenteilige Wirkung haben.

190  Das ist bereits eine Annahme im Buddhismus (Reichle 1994, Welwood 2002).

191  im Sinne von Foersters (1997, 29).

192  V.Glasersfeld vergleicht diese Funktion des Lehrers mit der eines Farmhundes, der in Irland beim Treiben von Kühen sich in die Lücken von Straßenhecken stellt, um ihnen anzudeuten, dass dies der falsche Weg sei (v.Glasersfeld 1998, 38f und 2003, 31f).

193  Letzteres wird besonders deutlich im „Erklärungsprinzip“, das Bateson (1983, 77ff) als konventionelle Übereinkunft sieht, an einem bestimmten Punkt der Diskussion oder des Denkens mit dem Erklären der Dinge aufzuhören.

194  Die Wertschätzung von Unterschiedlichkeit sieht auch die „pädagogische Bedeutung des Erzählens als eine Form der biographischen Selbstvergewisserung und der sozialen Verständigung“ (Siebert 2005b, 23).

195  nicht: kontextdeterminiert.

196  Damit lehnt sich G. Schmidt an Luhamnn an. „In seiner ebenso nüchternen wie provokanten Art definierte der Soziologe Niklas Luhmann die Erziehung als ‚Geschäft der Trivialisierung des Menschen’. Wer einen anderen erzieht, der versucht, ihm den richtigen Weg zu weisen, ihn aufs richtige Gleis zu setzen. Das engt den Spielraum des Zöglings unweigerlich ein. Diese ¸’Trivialisierung’ ist indes gar nicht zu beklagen, wenn sie einem Kind am Ende zu eigener Kraft und Freiheit verhilft. Das hinzubekommen ist bekanntlich nicht leicht“ (Schultz 2006a).

197  Vgl. Kap.4.4.5.

198  Bedeutung kann nicht von außen gezielt über- bzw. vermittelt werden, sondern entsteht, systemisch-konstruktivistisch gesehen, emergent innerhalb kognitiver Netzwerke.

199  Zur Diskussion, ob nur Verstörung möglich ist oder auch Unterstützungsangebote machbar, vielleicht sogar ethisch gefordert sind, vgl. G.Schmidt (2004a, 63ff136f,160).

200  Hieraus ergeben sich freilich auch erhebliche Konsequenzen für die Beziehungsgestaltung zwischen Pädagoge und Schüler, auf die ich später zu sprechen komme (Kap. 7.13.).

201  Das Instruktionsverdikt von Maturana und Varela wird mitunter auch als Ausdruck von Antipädagogik verstanden (Huschke-Rhein 1997, 42). Das ist insofern durchaus angemessen, als die Sinnhaftigkeit des Versuchs der direkten Steuerung von Individuen in Frage gestellt wird. Allerdings ist der genannte Vergleich insofern eher unangemessen, als die Sinnhaftigkeit der aktiven Gestaltung von Kontexten (und von präsenter Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen als Chance zur ‚Individuation gegen’ und Orientierungsgewinnung durch die Kinder, vgl. Omer) durchaus vom systemisch-konstruktivistischen befürwortet wird.

202  „Lebende Systeme sind kognitive Systeme, und Leben als Prozeß ist ein Prozeß der Kognition“ (Maturana 1982, 39).

203  „Lernen und Entlernen sind Veränderungen von Unterscheidungsschemata, die traditionell ‚Wissen’ genannt werden. Nichtlernen hingegen ist die Aufrechterhaltung dieses Wissens. Dazu bedarf es einerseits der Wiederholung der Prozesse, [...] die zu diesen Unterscheidungen geführt haben, und andererseits der Vermeidung aller Prozesse, die zu neuen Unterscheidungen führen könnten“ (Simon 2002, 156).

204  Auch die neuere Resilienzforschung (z.B. Welter-Enderlin / Hildenbrand 2006) weist auf die Aktivität von Lernprozessen hin, insb. darauf, dass Kinder Unzulänglichkeiten im Erziehungsprozess durchaus – im Gegensatz zur psychoanalytischen Vorstellung vermeidbarer, massiver, negativer Auswirkungen früher Störungen – selbstständig (gemeint ist hier: ohne Therapie) kompensieren können.

205  Diese Unterscheidung wurde bereits auf S.137 mit den Begriffen ‚ expansive’ und ‚defensive Lernprozesse’ eingeführt.

206  Auf diesem Hintergrund stellt sich z.B. die Frage, ob die Trennung in Psyche, Körper und Verhalten - Systemgrenzen, wie sie Luhmann als Beobachter einführt – ggf. sinnvoll durch ein eigenständiges affektiv-emotionales System zu ergänzen wäre, statt die Gefühle einfach der Psyche zuzurechnen. Damit könnte vielleicht Vorwürfen an die Systemik begegnet werden, dass sie den Aspekt der Gefühle zu sehr vernachlässige (legitime Kritik, die teilweise aus der eigenen Reihe kommt, vgl. G.Schmidt 2004b).

207  Die systemische Therapie und Beratung spricht in diesem Zusammenhang von Neugier.

208  Im übrigen schränkt Oser ein, dass nicht alle Fehler selber begangen werden müssen, sondern dass es auch ‚advokatorisches Lernen’ geben kann als ein Lernen aus den Fehlern, die andere (bereits) begangen haben.

209  Oser/Spychiger (2005, 13) fordern, Falsches als Falsches zu benennen, damit es sich nicht dauerhaft festsetzt, Fehlertoleranz sei „unerträgliches und zweideutiges Verhalten“. Konstruktivistisch und hirnphysiologisch macht das insofern Sinn, als einmal ‚falsch verdrahtete’ Synapsen prädestinierte Wege für Denken darstellen (Spitzer 2005). Unter anderen Aspekten machen diese Aussagen aber wenig Sinn: Viele und gerade die existenziellen Fragen sind in der Postmoderne zu offenen, nicht eindeutig beantwortbaren Fragen geworden. Genau damit sind sie entscheidbar geworden (i.S. v.Foersters 1997, 29), und sie müssen entschieden werden, da, sich nicht zu entscheiden, ebenfalls eine Entscheidung (nämlich für die Fortsetzung des Bisherigen, z.B. in der Klimapolitik) darstellt. Auf diesem Hintergrund wird Osers Konzept des negativen Wissens keineswegs unbrauchbar - im Gegenteil: seine Bedeutsamkeit steigt auf existentiellem Hintergrund. Es wird aber schwieriger, Osers obiger Forderung nachzukommen, Falsches auch als solches eindeutig zu benennen, da über Falsches und Richtiges nicht mehr so leicht zu bestimmen ist wie in der Moderne, deren Projekt die Abschaffung von Ambivalenzen war/ ist (Bauman 1996). Lernen wird damit komplizierter, kann sich weniger an Eindeutigem orientieren.

210  Und das nicht nur kognitiv, wie Siebert (2005, 35) das schreibt, sondern gerade auch das emotional-affektive Selbstmanagement betreffend.

211  Das ist für eine Bürokratie typisch, die auch im eigenen Umgang mit den Lehrern Auswahl und Kontrollfragen über die der Förderung stellt. In Hessen – so ein junges Beispiel - hat sich die Bildungsbürokratie mit Schließung des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik dafür entschieden, Lehrerfortbildung (fast) nur noch für Schulleitung und Multiplikatoren anzubieten.

212  Fehler zu machen, sichert Überleben, solange diese nicht tödlich sind und solange sie zu angemessen(er)en , viable(re)n Handlungsweisen führen. Das verhindert nicht, dass in der hochtechnisierten Postmoderne einige Fehler zu dramatischen Folgen und sogar zur Auslöschung der Spezie Mensch führen können. Insofern kann man im Umgang mit dem Fehlermachen einen Spielmodus von einem Ernstmodus (Clement 2004, 167) unterscheiden, der sich auf die Fehlerkonsequenzen-Einschätzung bezieht. Teil des Lernens wäre dann, und das kann auch für Schule gelten, Klarheit darüber zu gewinnen, wann welcher Modus angebracht ist.

213  Möglich ist es z.B., eine schlechte Klassenarbeit trotz Lernfortschritts zu schreiben - ein Lernen, das statt gefunden hat, wäre in dem Fall nicht erkennbar. Umgekehrt können Lernfortschritte diagnostiziert werden, die gar nicht statt gefunden haben: Schüler erzielen gute Testergebnisse, aber ohne die im Unterricht behandelten Methoden anzuwenden. Nicht-Lernen kann u.U. auch durch ein verändertes Verhalten verdeckt werden (z.B. ‚einschleimen’).

214  Sie können nur das messen, worauf sie angelegt sind. „Viele Schulversager wären in der Lage, an der Spielekonsole eines Computers jeden PISA-Test mit Bravour zu bestehen, vorausgesetzt, es gäbe einen PISA-Test für Killerspiele“, so Bauer (2007c, 10f) ironisch.

215  Das kann Expertenabstimmungen bedeuten (z.B. Klassenkonferenz), die nach eigenen Regeln (z.B. Zeitknappheit gegen Ende der Sitzung erhöht die Chancen, ein bestimmtes Konstrukt/ Label durchzusetzen) verläuft (Palmowski 1999b,112; G.Schmidt 2004b).

216  Schweitzer/Schlippe (2006, 17) weisen darauf hin, dass solche Diagnosen nicht nur und ausschließlich als soziale Konstruktionen anzusehen seien (ich komme darauf zurück).

217  Diese Tabelle wurde entwickelt in Anlehnung an und (teilweise) Veränderung von Ausführungen Balgos (2003, 103).

218  Zu Konsequenzen für förderpädagogische Diagnostik, die sich hieraus ergeben: vgl. Willenbring 2003. Zu Konsequenzen für didaktische Überlegungen für Schüler mit ‚Lernbeeinträchtigungen’: vgl. Lütje-Klose 2003.

219  Vgl. die dicken Trennstriche in der Tabelle (Abb.7-8)

220  Angemerkt sei, dass in der gegenwärtigen Schulpolitik ein strukturell gleiches Vorgehen festzustellen ist: Die nach PISA von der Kultusbürokratie gesuchte Erklärung für als (massenhaft) unzureichend beschriebene Leistungen von Schulhäusern wird den Schulhäusern (und Pädagogen) selber angelastet, so dass nun in einigen Bundesländern kontrollsteigernde ‚Schul-TÜVs’ eingerichtet werden. Auch hier gilt: Es handelt sich zunächst einmal um kommunikativ vermittelte Konstruktionsprozesse mit Konsequenzen für Selbstbild und Motivation der Lehrer.

221  Zu genaueren Unterschieden zwischen diversen systemisch-konstruktivistischen Didaktikern vgl. Reich 2005, 185f.

222  Es zeigte sich in der Weiterbildungsgruppe, dass die Teilnehmer – ähnlich dem Hauptforscher - bei der Auswahl der Schwerpunkte der Didaktik kein besonderes Gewicht gaben.

223  Eine etwas andere Erklärung findet sich Reich (2005, 182f), der für die tatsächliche Praxis in Deutschland – die aber empirisch nicht wirklich zu erfassen ist – folgende drei wesentliche Probleme für die Umsetzung systemisch-konstruktivistischer Didaktik benennt: Inhaltsdominanz, Methodenarmut und fehlende pädagogische Lernstandsdiagnostik.

224  Zum Wort Lern-„Gegenstand“ vgl. die Wald-Wege-Erkenntnismethapher von Heinz von Foerster (S.49).

225  Ohnehin ist es unmöglich, für 30 Schüler im 45-Minuten-Takt subjektiv angemessene, auf akkomodatives Lernen abgestellte Lernumwelten zur Verfügung zu stellen (Kap.6.2).

226  Im Vergleich der beiden Bilder springt ggf. nicht sofort ins Auge, dass auf im rechten Saal 4 Sitzplätze weniger vorhanden sind. Der Unterschied ist bezeichnend, da das rechte Lernsetting kleinere Gruppen erfordert.

227  Sollten Eltern oder Pädagogen dies übersehen, wächst, nach Rotthaus (1999a, 109), die Gefahr von Gewaltanwendung und (übertrieben) harter Sanktionierung.

228  Das Konzept wird als bekannt vorausgesetzt: nähere Informationen (bezogen auf Schulpädagogik) finden sich z.B. in Huschke-Rhein 1998b,146f; Hubrig/ Herrmann 2005.

229  Hier geht es bereits um Fragen der Beziehungsgestaltung zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden, auf die ich in Kap.7.13 zurückkomme, auch um dann konkrete Aufgaben aus systemisch-konstruktivistischer Sicht zu beschreiben.

230  Die Diskussion soll hier nicht geführt werden. Die Frage nach der pädagogischen Relevanz einer systemisch-konstruktivistischen Ethik wäre ggf. eine eigene Dissertation wert. An dieser Stelle sei lediglich verwiesen auf z.B.: die Arbeiten Stegmüllers; die Ausgabe 4/1998 der Zeitschrift für Syst. Therapie und Beratung; Schlippe/ Schweitzer 2002, 271ff.

231  in Schule und (auch in der hier untersuchten) Weiterbildung für Lehrer

232  auch: Verantwortungsverweigerung, -ablehnung, -nichtbeachtung.

233  Möglich und berechtigt sind auch die Fragen, wofür man als schulischer Pädagoge Verantwortung übernehmen will, darf, muss (vgl. Abb. 9-13 in Kap.9.11). Hier lege ich den Akzent auf das Können, da viele Pädagogen eher dazu neigen, zu viel als zu wenig Verantwortung zu übernehmen. Je nach Sichtweise kann dieses Kapitel aber durchaus auch als eine Beschreibung von Müssen gelesen werden, da die genannten Verantwortlichkeiten aus den Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes und seinen ethischen Prinzipien ableitbar sind. Fragen des Wollens sind individuell zu beantworten.

234  Dies entspricht eher der Logik einer Belohnungskultur (Kap. 8.4.2).

235  „Ob Inhalte Bildungsprozesse initiieren, ob sie von Subjekten produktiv nutzbar gemacht werden können, kann nicht zureichend aus der Logik dieser Inhalte geschlossen werden“, so schon 1982 Ziehe/Stubenrauch (S.152).

236  Der Begriff der ‚multikulturellen Gesellschaft’ bezieht sich hier darauf, dass auch innerhalb der Gesellschaftsbereiche, die keinen Migrationshintergrund haben, sich eine Vielzahl von „Milieus“ und Lebenswelten in posttraditionalen, pluralen Gesellschaften etablieren.

237  Kösel (1993) spricht in diesem Zusammenhang im Rahmen seiner systemisch-konstruktivistisch definierten ‚subjektiven Didaktik’ von ‚didaktischen Driftzonen’. Diese lassen sich anhand mehrerer Kriterien bestimmen: ähnliche kulturelle Deutungsmuster; gemeinsames thematisches Interesse; ähnliche kognitive Strukturen und Vorkenntnisse; ähnliche Affektlogiken, ähnliche Lerngewohnheiten und Lernstile; Vorhandensein von Neugier aller Beteiligten bei Toleranz gegenüber ungewohnten Sichtweisen (Siebert 2005b, 67f). Nimmt man diese definitorischen Forderungen ernst, wird deutlich, wie gering die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von soliden „didaktischen Driftzonen“ (und das auch noch im Rahmen einer Zwangsveranstaltung wie Schule) ist.

238  Diese Einschränkung bezieht sich auf zwei Aspekte. Erstens besteht die Aufgabe der Pädagogik ja gerade darin, junge Menschen in höhere und ausdifferenziertere Formen von Selbstorganisation zu begleiten, was aber impliziert, dass in der Pädagogik permanent Fremd- und Selbststeuerungsprozesse ausgewogen werden müssen. Zweitens kann es schulische Situationen geben, in denen die Kontrollfunktion, der Schule unterliegt, zu einer (günstigenfalls) expliziten (Teil-)Entmündigung des Schülers führt und zur ebenso expliziten, kompensierenden Verantwortungsnahme durch Vertreter des Staates (zu denen Schule auch gehört, vgl. Kap.9.13).

239  zu etwa achtzig Prozent, gemäß Hubrig/ Herrmann (2005, 136).

240  Das verhindert nicht ihre Gleichwertigkeit oder Gleichwürdigkeit.

241  Kritisch bzw. weiter differenzierend zu diesem Kooperationsbegriff äußert sich Hargens.(2006, 70). Er weist darauf hin, dass Kinder gegenüber Eltern – und für Pädagogen in der Zwangsveranstaltung Schule gilt das vielleicht abgeschwächt aber immer noch ähnlich – nicht nicht kooperieren können. Der Begriff der Kooperation sage daher noch nichts über die Qualität der Kooperation aus.

242  Noch einmal: das bedeutet nicht, dass alle Lehrer so sind, sondern, dass es Wirkmechanismen im Kontext von Schule gibt (Kap.6.2), die ein solches Denken fördern oder manchmal sogar fordern.

243  Seine ‚Person’ bedeutet nicht notwendig seine ‚Persönlichkeit’. Diese Differenzierung tritt der verbreiteten These entgegen, dass Autorität ganz überwiegend in der (unveränderbaren) Persönlichkeit des Lehrers begründet liegt, so dass eben einige Lehrer darüber verfügen könnten und andere nicht. Eine solche These übersieht, dass pädagogische Kommunikation und Beziehungsgestaltung in wesentlichen Zügen veränderbar und erlernbar sind

244  „Von der didaktischen Ausbildung her wird vielen Lehrern die Meinung nahegelegt, der Stoff existiere eigentlich an sich, und man müsste ihn nur didaktisch gut aufbereiten. Die Schüler beobachten das anders: Da steht ein Mensch. [...] Die Lernatmosphäre ist die Hintergrundmusik [... Und die Lehrer wollen] spüren, dass das, was sie geben, auch genommen wird“ (Huschke-Rhein 1998a, 63).

245  Vgl. Kap.10 zu Veränderungen und Arbeitsmöglichkeiten im schulischen Beratungskontext.

246  noch verstärkt gilt das für den Rahmen von Beratung im engeren Sinne.

247  Mehr dazu in Kap.9.3.

248  Es spielen auch Faktoren für schulische Erziehungsprozesse eine Rolle, die nichts mit der Person des Lehrenden zu tun haben, z.B. finanzielle und räumliche Ausstattung der Schule und die Größe des Schulsystems (größere Systeme tendieren zu Anonymisierung und führen zu einem geringeren Gefühl von Eigenwirksamkeit bei Lehrern und Schülern).

249  dort noch weitere Aspekte.

250  also Rechnen bei Dyskalkulie usw.

251  Ebenso Bauer (2007c, 96), der betont, „dass die Beziehung zum Kind niemals symmetrisch, also gleichberechtigt sein kann [...] Das Kind kann sich die Welt nicht allein erschließen, es kann vor allem keine Entscheidungen über Dinge treffen, die es noch gar nicht kennt.“

252  „Durch diese Beziehungen, die wir als ‚Vor-Bilder’ mit den Kindern und Jugendlichen gestalten, tragen wir entscheidend dazu bei, was aus ihnen wird“ (Bauer 2007c, 27).

253  vgl. zu den aufgeführten Punkten (Eltern wie Pädagogen) u.a.: Rotthaus 1999a; Omer/Schlippe 2002,2004; Schlippe 2000; Siebert 2005b; Huschke-Rhein 1998b; Kreter 2005; Ludewig 2002; Hargens 2006,75; Hennig/Knödler 2000,100f; Schlippe 2006,42; Tsirigotis 2006,178, Sirringhaus-Bünder 2006,218ff, Bastian 2001.

254  Wenngleich hier eher die Eltern angesprochen sind, so gehen doch Ganztagsschulen und Schulen mit besonderer Betonung des Gesundheitsaspekts in diese Richtung.

255  „Liebe besteht darin, einem anderen in einem spezifischen Interaktionsbereich Raum für seine Existenz in Koexistenz mit einem selbst zu öffnen“ (Maturana 1985, 130).

256  Im günstigen Fall kommt es zur strukturellen Kopplung, wobei Varela (1990, 111) die Fähigkeit, in eine mit anderen geteilte Welt einzutreten, ausdrücklich als (zentralen Bestandteil von) Intelligenz hervorhebt.

257  zumindest als unausgesprochener, nicht bezeichneter Unterschied/ Kategorie, vgl. Kap.4.4.2.

258  Was ggf. „angeregt werden kann, ist eine Selbstreflexion der eigenen Perspektive, die Anerkennung anderer Perspektiven, die Verständigung über Schnittmengen und konsensuelle Bereiche der Wirklichkeitskonstruktion“ (Siebert 2005b, 71).

259  Folgt man Luhmann (1987, 67), sozialisieren nicht Personen sondern Differenzen.

260  in Anlehnung an Jensen 1990, 58.

261  Lehrer werden in posttraditionalen Gesellschaften mit veränderten Familienverhältnissen vermehrt von Schülern und teilweise auch von Eltern ‚eingeladen’, ansatzweise oder sogar verstärkt quasi als Ersatzeltern zu fungieren. Dies stellt eine Überforderung dar, vor der ein Pädagoge sich hüten sollte.

262  vgl. Kap. 10.2, 10.6.5

263  Persönliche Kongruenz ist auch ein wichtiger Gesundheit erhaltender Schutz (Bauer 2007c, 69f).

264  Die besondere Schreibweise von ‚bei-steuern’ bezieht sich auf die Unmöglichkeit der gezielten Steuerung lebender Systeme. Und nicht darauf, dass die Eltern steuern und Pädagogen ‚nur’ beisteuern. Sicherlich haben Eltern den größeren Einfluss – hier geht es aber um einen anderen Punkt (vgl.a. die Ausführungen zur systemischen Führung (Kap.9.9) ).

265  Für ideal gehaltene Bedingungen lassen übrigens mitunter gerade jene Herausforderungen des Lebens vermissen, die für Wachstum nötig sind (Omer/Schlippe 2002, 160).

266  So z.B. Huschke-Rhein (1998, 41), der davor warnt, dass Pädagogen sich von einem solchen Erwartungsdruck überfordern lassen, und konsequent fordert, die Reflexion möglicher Vorbildfunktion frühzeitig in die Ausbildung mitaufzunehmen.

267  Insofern als Lernende „intentional unbelehrbar“ (S.J.Schmidt 2005a, 106) sind, kann aber auf dieser Ebene der autopietischen Organisation des Organismus Gleichwertigkeit postuliert werden.

268  Im Umgang mit Gruppen werden die gleichen, oben angeführten Fähigkeiten gebraucht. Insbesondere ist hier obendrein verstärkt darauf zu achten, dass Gruppen nicht nur eine angemessene Balance brauchen zwischen Bewahrung und Veränderung, sondern auch zwischen Gemeinsamkeit und Differenz.

269  In Ergänzung zu den in Abb. 4-7 und Abb. 7-3 beschriebenen Grundlagen.



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09.06.2008