14 Arbeitshypothesen

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Die hier vorliegende Arbeit will mögliche Auswirkungen einer systemisch-konstruktivistischen Weiterbildung für Pädagogen in Schule untersuchen. Dafür ist die Erstellung von Hypothesen hilfreich, die auf Plausibilität hin überprüft werden können. Hypothesen521 sind eine vorübergehende Festlegung von Vermutungen, die der Erkenntnisgewinnung dienen und veränderbar sind. Im Umgang mit ihnen geht es nicht um Wahrheitsfindung sondern um die Frage ihrer Nützlichkeit in einem bestimmten Bereich (Selvini Palazzolli et al 1980, 126). Pfeffer (2004, 88) führt aus: „Die Festlegung einer Hypothese dient zur Bestimmung eines Ausgangspunkts und der daraus zu ermittelnden Richtung für das eigene Vorgehen. Gleichzeitig ist die Hypothese jener genau bestimmbare Bereich der Wirklichkeitskonstruktion der Interviewerin, der zur Veränderung durch Kommunikation bereitgestellt wird. Durch die Formulierung einer Hypothese spitzt die Beobachterin ihre Aufmerksamkeit soweit zu, dass Überraschungen erwartbar werden.522 Sowohl eine Bestätigung als auch eine Widerlegung einer Hypothese trägt zur Informationsvermehrung der Interviewerin bei.“

Für die Erstellung von Arbeitshypothesen über mögliche Veränderungen von Konstrukten bzw. Verhalten schulischer Pädagogen durch eine systemische Fortbildungsreihe lässt sich auf die bisherigen Ausführungen in dieser Dissertation zurückgreifen. In Kap. 13.1 wurden bereits fünf Gruppen von Ressourcen bzw. Kompetenzen benannt523, zu deren Stärkung oder Erlangung eine Fortbildung zur systemisch-postmodernen Pädagogik in Schule beitragen kann bzw. sollte. Zu diesen Kompetenzbereichen lassen sich Arbeitshypothesen aufstellen. Diese können zu einer sechsten, die vorherigen Punkte eher zusammenfassenden Hypothese führen. Im Folgenden werden die Thesen benannt und kurz erläutert. Aufgrund der Interdependenzen der Gesamtthematik gibt es in Teilbereichen Überschneidungen. Veränderte Konstrukte im Gehirn sind nicht unmittelbar zugänglich, daher werden die Thesen formuliert über die Kopplung an Teilnehmer-Aussagen in den abschließenden, evaluierenden Interviews.

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„Die Teilnehmer berichten, dass sie ...

1. ...über mehr und/oder bewusstere pädagogische Beziehungsgestaltungskompetenz verfügen.“

Für eine systemisch-konstruktivistische Fortbildung für Pädagogen ist diese These vielleicht die zentralste, weil Leben und Lernen grundsätzlich (in) Beziehung (eingebettet) sind. Die nachfolgenden Thesen fallen in gewisser Weise letztlich alle in den Bereich der wechselseitigen Bezogenheit von Individuen bzw. Systemen. Teile der hier in dieser These angesprochenen Beziehungskompetenz könnten z.B. Fragen betreffen des Umgangs mit Wertschätzung, Verantwortung, Positionierung, Meta-Ebene, Kooperation, Führung und Konflikten. Insofern, als sich eine systemisch-konstruktivistische Grundhaltung nicht unmittelbar nachweisen lässt, soll eine bewusstere pädagogische Beziehungsgestaltungskompetenz auch verstanden werden als Zeichen einer allmählich wachsenden systemisch-konstruktivistischen Grundhaltung.

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2. ...in ihrem schulischen Kontext beginnen, systemisch-konstruktivistische Methoden der Gesprächsführung und Kommunikation einzusetzen.“

Hier geht es im wesentlichen um ‚Handwerkszeug’ systemischer Pädagogik und Beratung, das im schulischen Alltag schrittweise umgesetzt wird. Für sich allein genommen, besagt diese These nicht viel, da systemisch-konstruktivistische Methoden mit der entsprechenden Grundhaltung und Beziehungskompetenz umgesetzt werden müssen, da die Form den Inhalt (mit)bestimmt. Insofern ist sie der ersten These nachgeordnet.

3. ...über mehr Distanzierungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten verfügen oder diese bewusster einsetzen.“

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Eine verbesserte Wahrung eigener Grenzen bzw. eine gestiegene (engagierte) Distanzierungsfähigkeit gehören, wie schon weiter oben geschildert, ebenfalls in den Bereich von Beziehungsgestaltung. Sie betreffen aber ein für hingebungsvolle Pädagogen besonders wichtiges Feld: jenes des Ausgleichs zwischen Engagement und Distanzierungsfähigkeit, das für die Sicherung des eigenen Wohlergehens von beachtlicher Bedeutung ist (Bauer 20007,68; Schaarschmidt 2005,24ff). Die Fähigkeiten, sich gegenüber den Schülern abgrenzen zu können und aus Überengagement herausgehen zu können (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 192), gehören vermutlich zusammen und bilden die Voraussetzung für angemessenes Engagement.

4. ...über einen schnelleren und/ oder bewussteren Zugriff auf ihre eigenen Ressourcen verfügen.“

Eine verstärkte Ressourcenorientierung im Umgang mit sich selbst, mehr Achtsamkeit für eigenes Wohlbefinden und eine angemessene Selbstvalidierung sprechen den Aspekt der eigenen Gesundheit noch direkter und mit anderen Schwerpunkten an als die vorherige These. In beiden Thesen (3 und 4) geht es zunächst nur um die formulierten Punkte - d.h. Auswirkungen auf das Wohlbefinden, Gesundheit oder Gelassenheit der Seminarteilnehmer an ihrer jeweiligen Schule zum Zeitpunkt des Endes der Fortbildungsreihe (vgl. These 6) werden hier noch nicht erhoben.

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5. ...vermehrt und/oder bewusster in Systemen, Umwelten und Interdependenzen denken.“

Die Fähigkeit, verstärkt in Systemen und Umwelten zu denken, bedeutet, Kontexte angemessener zu berücksichtigen (als vorher) und über eine bessere Kenntnis der Logiken des Schulsystems bzw. des Systems des eigenen Schulhauses zu verfügen. In dieser These wird die systemische Sichtweise der Wichtigkeit von Überblicksgewinnung und Vernetzungsdenken besonders betont.

Findet eine Präzisierung bzw. Ausdifferenzierung der Wahrnehmung und eine Steigerung der Fähigkeiten in einer in den fünf Thesen beschriebenen Weise statt, müsste dies Auswirkungen auch auf die Selbstwahrnehmung der Mitforscher haben. Auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund lässt sich in Verbindung mit den fünf bisherigen Thesen daher eine weitere erstellen, die von einer Steigerung der gefühlten Gelassenheit als Ausdruck eines erweiterten Kompetenzbewusstseins ausgeht.: „Die Teilnehmer berichten, dass sie ...

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6. ...in ihrem schulischen Alltag mehr Gelassenheit empfinden, und rechnen dies auch der Fortbildungsreihe zu.“

Die bisherigen fünf Thesen wurden anhand der Ausführungen über inhaltliche Schwerpunktbildungen einer systemisch-konstruktivistischen Seminarreihe gebildet. Es wurde schon angedeutet, dass diese Thesen letztlich zu der Vermutung führen, dass die Fortbildungsteilnehmer bzw. Mitforscher subjektiv eine Steigerung von Gelassenheit, Abgeklärtheit und Sicherheit erleben. Angesichts der Komplexität des menschlichen Lebens und seines Wandels müssen die Teilnehmer allerdings diese Veränderung zumindest in Teilen – also: „auch“ – der Fortbildungsreihe zuerkennen. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass ggf. (zumindest in Teilen) während der Fortbildung mehr Unzufriedenheit über die eigene aktuelle schulische Situation entstehen kann, wenn dessen problematischen Aspekte durch die Bewusstwerdungsprozesse im Zusammenhang mit der Fortbildung (deutlicher und bewusster) wahrgenommen werden.524

Grundsätzlich muss der Hauptforscher darauf achten, auch für weitere, vorher nicht oder nicht so bedachte Aspekte offen zu bleiben, so dass aufgestellte Thesen verändert und zusätzliche Thesen neu aufgestellt werden können. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es in dieser Arbeit lediglich um Plausibilitäten gehen kann. Und darauf, dass der Versuch, eine andere Sichtweise zu ermöglichen, nicht zu ungeduldig sein darf, da eine solche Veränderung Zeit benötigt: „Ich glaube, es wird lange dauern [...]. Denn wenn man anfängt, konstruktivistisch zu denken, dann kommt man drauf, dass man fast alles, was man vorher gedacht hat, umkrempeln muss. [...] Es ist eine anstrengende und vor allem sehr ungemütliche Sache“ (v.Glasersfeld,, zitiert nach Voß 2005b, 15).525


Fußnoten und Endnoten

521  Die Begriffe ‚Thesen’, ‚Hypothesen’ und ‚Arbeitshypothesen’ werden gemäß der Wissenschaftstheorie (als Teilgebiet der Philosophie) unterschiedlich verwendet. Grundlegende Unterschiede gibt es bspw. zwischen Sozial- und Naturwissenschaften und innerhalb der Sozialwissenschaften abhängig von analytischem oder empirischem Vorgehen, von deduktivem oder induktivem Vorgehen (Stegmüller 1969ff). In dieser Arbeit verwende ich diese Begriffe synonym. Allerdings bin ich mir bewusst, dass ich zunächst analytisch vorgehe, d.h. aus Prämissen Argumentationen und schließlich Thesen deduziere. Diese werden anhand von Aussagen der Seminarteilnehmer und Mitforscher einem empirischen Vorgehen ausgesetzt, das allerdings aufgrund der beschränkten Teilnehmer- und Interviewpartner nur auf Plausibilität prüfen kann.

522  Das bedeutet, dass ein Teil der Aufmerksamkeit des Hauptforschers auf dem möglichen Scheitern von Thesen liegen muss. Hypothesen können sich in ihrem Scheitern als intelligente Fehler herausstellen, wenn sie die Entdeckung von Neuem ermöglichen. Andererseits gilt es aber auch darauf zu achten, dass der schultypische Defizitblick nicht dazu führt, zu viel Aufmerksamkeit auf die ‚Erwartung von negativen Überraschungen’ zu lenken.

523  Die unten stehenden Ausführungen folgen sowohl Martin/ Schuster (2005, 24,42ff,51,111) als auch den bisherigen Überlegungen in dieser Dissertation (insb. Kap. 6-11).

524  Möglich wäre es auch, Fragen der Veränderung der eigenen Gesundheit nachzugehen, die allerdings auch nicht einfacher zu operationalisieren sind. Diese Arbeit geht allerdings davon aus, dass aufgrund ihrer strukturellen Kopplung die Systeme Psyche, Körper und Verhalten ohnehin aufeinander einwirken.

525  Ähnlich Siebert (2005b, 136), der darauf hinweist, dass, derjenige, der auf der Suche nach eindeutigen Antworten sich mit konstruktivistischen Ansätze und Vorgehensweisen beschäftigt, häufig einfach nur auf einem höheren Niveau verwirrt zurück bleibt.



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09.06.2008