Gehen Machen. Der Einbruch des Zeichentrickfilms in den Realfilm

Der erste Zeichentrickfilm war ein Hybridfilm, war er doch (noch) nicht frei von realfilmischen Einflüssen, von Händen und Pinseln, die ihn zu einem Abbild des ihm zugrundeliegenden Handwerks machten, zu gleichen Teilen unfertig und vollkommen: Der nur aus Kopf und Kragen bestehende Mann in J. Stuart Blacktons »The Enchanted Drawing« teilt sich die Leinwand mit seinem Schöpfer, wird von selbigem aus dem Nichts herbeigezeichnet und auf wundersame Weise beseelt, nur um anschließend seines Trunks und der Kopfbedeckung beraubt zu werden. Diese Urszenen des Animationsfilms vereinen in sich jene entscheidenden Aspekte, die sich in diversen Nachfolgebegegnungen zwischen Figur und Zeichner_in wiederholen sollten. Denn was sich hier an die Seite des (vermeintlichen) Offenlegens von Herstellungsprozessen gesellt, ist die Bereitschaft, sich auf die Illusion gezeichneten Lebens einzulassen. Es existiert eine produktive Schnittmenge, innerhalb derer die parallele Gültigkeit beider Seiten plausibel erscheint und dadurch plausibel wird. Obwohl man die aus Tinte erwachsenden Wesen bei ihrer gestaltlichen Werdung beobachtet und all der zweidimensionalen Unzulänglichkeiten ansichtig wird, mutet der schlichte Umstand des Gezeichnet-Seins wie ein nur unwesentlicher Makel an, der keinesfalls Zweifel an ihrer Belebtheit aufkommen zu lassen vermag. Das Verfügen über eine (gezeichnete) Persönlichkeit bildet die Grundlage für jene oftmals auf einer (neben dem Schauraum Film) zusätzlichen Bühne inszenierten Zusammenkünfte zwischen den Zeichnenden und ihren Schöpfungen, für das scheinbare Vergnügen ersterer an der Deformierung letzterer und schließlich vor allen Dingen für die Auflehnung der Gepeinigten, die als logische Reaktion auf die erlittenen Qualen bereits in ebendiesen Qualen vorgelagert war. Als Rächer des an ihnen vollzogenen Unrechts lehnen sie sich auf, widersetzen sich seichten Kunststückchen (etwa dem mechanischen Verbeugen vor Publikum oder dem sinnentleerten Heben von Füßen) und annektieren sowohl realfilmischen als auch trickfilmischen Raum sowie entsprechende Soloauftritte, über die der_die allmächtige und allsichtige Zeichner_in dennoch wacht. Darüber hinaus begünstigen solche Auftritte Aussagen über die Spezifik und Logik des Zeichentrickfilms ebenso wie eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Behauptung, alles tun zu können (es muss sich nur zeichnen lassen). Zweifelsfrei existieren Grenzen, und nur weil Zeichentrickfiguren auf scheinbar unverbindlichen Farb- und Pinselstrichen basieren, betrifft die Entscheidung, sie sich selbst zu überlassen oder bestimmte Dinge vollführen zu lassen, die persönliche Moral. Denn auch die Wirklichkeit stellt für sie kein Tabu (mehr) dar, sie profitieren von einer neu sich sowohl auf Rezipienten- als auch Produzentenseite herausbildenden Freiheit, mit dem Zeichentrickfilm umzugehen, werden als Schauspieler_innen wahrgenommen und erfahren die Einspeisung in eine Werbemaschinerie, die die Mythen, die sich rund um ihre jeweilige Person/Persönlichkeit ranken, in sich endlos potenzierende Selbstläufer verwandelt. Sie überstehen sogar die Einbindung in einen filmischen Produktionsprozess, der seinerseits als Film inszeniert wird und behauptet, kleinschrittig und authentisch vorzugehen, indem sie dem vermeintlichen Makel der Künstlichkeit skrupellose Entwaffnung in Form von spontanen Belebtheitsausbrüchen entgegensetzen. Zeichentrickfiguren – so die eigentümlich klare Erkenntnis – existieren auf der Bühne und auch abseits dieser Bühne, können ermüden und genießen ihren Feierabend, womöglich sogar in etwas legererer Kleidung als etwa einem Matrosenanzug. Sie unterscheiden sich nicht von ihren realfilmischen Konterparts – Mickey Mouse und Donald Duck sind Greta Garbo und Charlie Chaplin.

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