5. Methodische und methodologische Konzeption

▼ 90 

Nach der thematischen Einordnung rückt die empirische Anlage der Studie in den Mittelpunkt. Das Kapitel 5 widmet sich mit seinen Unterkapiteln der empirischen Konzeption meiner Arbeit, insbesondere der Begründung der Forschungsperspektive und Methodenwahl sowie der Auswahl der Untersuchungsfälle. In dem anschließenden Kapitel 6 wird auf die Besonderheiten der beiden verwendeten Methoden sowie deren Anwendung eingegangen.

Die Empirie diente einer offenen Entdeckung im Feld, da theoretische Aussagen zum Medien- und Gesellschaftswandel „letztlich immer nur auf der Grundlage sorgfältig durchgeführter empirischer, sozialwissenschaftlicher Analysen getroffen werden können und sich nicht einfach vom Schreibtisch des Wissenschaftlers aus antizipieren oder prognostizieren lassen“ (Gebhardt 2008: 25). In der vorliegenden Studie habe ich alltägliches Handeln mittels unterschiedlicher Methoden erforscht, um einen tiefen und zugleich vielfältigen Einblick in die Gestaltung von Alltag und die Rolle von Medien und Mobilität hierbei zu erhalten.

5.1. Offenes, datengeleitetes Forschen

Um tägliche Kommunikationssituationen hinsichtlich ihrer Bezüge zu Orten und Mobilität über den Tag hinweg untersuchen zu können, wurden Personen in ihrem Alltag begleitet beziehungsweise zu diesem befragt. Trotz der Auswahl der Teilnehmer nach theoretischen Gesichtspunkten (vgl. Kapitel 5.3) und der Kenntnis der beruflichen wie familiären Situation der teilnehmenden Personen, stand es offen, was mich im Detail erwarten würde. Die vielfältigen Begegnungen, Aushandlungen, Bewegungen und Kommunikationssituationen des Tages sollten sich erst im Forschungsverlauf zeigen. Auf der Suche nach alltäglichen Zusammenhängen zwischen der Notwendigkeit zu Mobilität, dem Gebunden-Sein an bestimmte Orte und den möglichen Einflüssen (mobiler) Kommunikation kam es aber genau auf diese Handlungssituationen und ihren Zusammenhang über den Tag hinweg an. Ich entschied mich daher für ein methodologisches Rahmenkonzept, das eine offene und möglichst unvoreingenommene Annäherung an das, was mir der Alltag der Personen aufzeigt, ermöglicht. Das offene Herangehen der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2008) sowie der Gedanke, theoretische Zusammenhänge aus den Daten entwickeln zu lassen, boten einen geeigneten Rahmen für die geschilderte Perspektive. Daher lehnte ich die Konzeption meiner Studie an diese Methodologie an. 

▼ 91 

Alheit sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Wesen des Alltagshandelns und der Idee datennaher Erforschung:

„Soziales Handeln ist im Regelfall, wie wir gesehen haben, »diffus teleologisch«. D.h. es besitzt durchaus eine vage Vorstellung von dem, was bei der Handlung herauskommen soll. Aber die Alltagserfahrung zeigt, dass der Handlungsprozess selbst die ursprüngliche Intention ändern, vielleicht sogar vollständig revidieren kann. Handeln, könnte man sagen, hat eine »zielstrebige Offenheit«, eine »gerichtete Flexibilität«. Genau diese Qualität strebt nun die Grounded Theory für die Forschung an.“ (ders. 1999: 7)

▼ 92 

Die methodologische Anlage und das methodische Vorgehen meiner Studie folgten dabei den Maßgaben qualitativer Sozialforschung (vgl. beispielhaft Lamnek 2005, Mayring 2002). Wie in der thematischen Begründung der Studie deutlich wurde, ist bei der Untersuchung mobiler, mediatisierter Alltage davon auszugehen, dass Personen im Laufe des Tages mit einer Vielzahl anderer Menschen an unterschiedlichen Orten und auf unterschiedliche Art und Weise in Kontakt treten. Qualitative Verfahren, die „im Gegensatz zu den quantitativen die relevanten Kontexte der Phänomene mit berücksichtigen, um die es geht“ (Krotz 2005: 51) erschienen bei einem so kontextintensiven Forschungsrahmen daher angemessen. Die Entscheidung für die grundlegende Forschungsrichtung liegt daher bereits in dem Untersuchungsfeld selbst begründet. In dieser Hinsicht argumentiert auch Alheit, wenn er für Alltags-Studien qualitative Forschungsansätze nahelegt:

„Da Alltag offensichtlich kein gewöhnlicher soziologischer Forschungsgegenstand ist, sondern gewissermaßen ein Phänomen »im Rücken« der Individuen (die Forscher eingeschlossen), stellt sich die Frage nach dem forschungspraktischen Zugang und nach einem angemessenen methodischen Instrumentarium. Es leuchtet ein, daß quantitative Methoden dazu schon deshalb nicht taugen, weil sie darauf angewiesen sind, alltägliche Situationen durch Eliminierung von »Störvariablen« möglichst zu »bereinigen« und ihre Authentizität zugunsten von Standardisierbarkeit und Reproduzierbarkeit auszuschalten.“ (ders. 1985: 13, Hervorhebung im Original)

▼ 93 

Er folgert daraus, dass es bei Ansätzen zur Alltagsforschung „um die Elaboration qualitativer Verfahren [geht, GFK], die den authentischen Charakter alltäglicher Phänomene möglichst explizieren, statt ihn einzuschränken“ (ebd., Hervorhebung im Original). Denn qualitative Verfahren sind nicht darauf angewiesen, Variablen zu isolieren, also den Kontext auszublenden oder konstant zu halten – ein Unterfangen, das bei der dichten Erforschung von Alltag mit sich ständig ändernden Rahmenbedingungen ohnehin hoffnungslos erschiene. Bezug nehmend auf die künstliche Forschungssituation, die durch eine Kontrolle des Kontextes entstehen kann, betont Coyne:

„The move to the everyday promotes methods of research that engage with narrative and socially situated ethnographic study, rather than the transportation of phenomena to the laboratory, or isolation into the calculative world of variables and quantities“ (ders. 2010: 74). 

▼ 94 

Die Entscheidung für eine qualitative Herangehensweise stellt nicht die grundsätzliche Geltung und Aussagekraft quantitativer Methoden in Frage. Es zeigt sich allerdings deutlich, dass insbesondere der Forschungskontext für die Wahl oder Kombination qualitativer oder quantitativer Verfahren maßgeblich sein muss und nicht eine generelle Festlegung auf einen der Ansätze im Voraus. In diesem Sinne führt Krotz an:

„Firstly, to repeat it once more, we do not accept that one empirical approach is good and the other is bad. Instead, if it is the case that a method is accepted as scientific, it should be assumed that it has specific advantages and disadvantages, and that – with a given research question – we must select the adequate empirical approach.“ (ders. 2006: 301; vgl. auch Kelle/Erzberger 2009)

▼ 95 

Voß sieht bei der Erforschung von Alltagshandeln die Sensibilität für den Kontext und somit „das genaue empirische »Hinschauen«“ als

„eine zentrale Tugend, die sich mit dem methodischen Postulat der »Offenheit« verbindet, also einer wissenschaftlichen Perspektive, die trotz aller Vorabannahmen und Thesen die Suche nach Unerwartetem und Neuem zum Primat der Forschungen erhebt und sich nicht auf das »Testen« von Hypothesen beschränkt.“ (ders. 2000: 49)

▼ 96 

Wie sich in den vorangegangenen Kapiteln zeigte, wird der Einfluss von Mobilität und medialen Entwicklungen auf die Konstitution einer Gesellschaft und somit auch auf die Gestaltung von Alltag wissenschaftlich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und durchaus kontrovers diskutiert. Alltag erscheint als ein komplexes Geflecht aus einer Vielzahl sich gegenseitig strukturierender Zusammenhänge (vgl. Kapitel 4). Dies eröffnet ein großes Potential für individuelle Handlungsgestaltungen. Um den möglichen Dynamiken im Alltag folgen und auf neue Erkenntnisse während der Untersuchung reagieren zu können, entschied ich mich für eine offene und datennahe Herangehensweise. Das Entwickeln theoretischer Aussagen aus den Daten heraus, das wiederkehrende empirische Prüfen dieser Aussagen und das Zusammenführen in Kategorien als theoretische Verdichtungen sind als wesentliche Schritte meiner Arbeit aus der gegenstandsbezogenen Forschung abgeleitet. Daher weist die Studie in ihrer Anlage Bezüge zur Grounded Theory nach Glaser/Strauss (1967) sowie deren Weiterentwicklungen auf.

Offenheit als zentrales Gütekriterium qualitativer Forschung (vgl. Mey 1999: 127; Krotz 2005: 118ff, 128f; Kleining 1995: 231ff) findet sich in den verschiedenen Schritten meiner Studie wieder. So wurde während des Forschungsprozesses das methodische Vorgehen variiert. Nach der Reflektion und Auswertung erster Daten wurde ein weiteres, anschließendes Verfahren gewählt, um eine zusätzliche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand zu erhalten. Die methodische Umsetzung war ihrerseits offen angelegt und richtete sich flexibel nach den Vorgaben der Handelnden. Auch die Fragestellung und die theoretischen Erkenntnisse wurden während des Forschungsprozesses als vorläufig angesehen (vgl. Krotz 2005: 125) und in ihrer Ausrichtung angesichts der Empirie verändert und präzisiert. Die Analyseergebnisse in Form von Konzepten und Kategorien aus den einzelnen Fallstudien wiederum wurden im Sinne der „Methode des ständigen Vergleichens“ (Glaser/Strauss 2008: 111ff) auf ihre Gültigkeit untereinander geprüft, so dass sich bisherige Ergebnisse immer auch hinsichtlich neuer Daten, genauer den Erkenntnissen aus dem Kodieren dieser, bewähren mussten. Der Forschungsprozess ist in seiner Offenheit somit zirkulär angelegt gewesen (vgl. Lamnek 2005: 194f; Krotz 2005: 135, 167; Hildenbrand 2009: 33f). Das heißt, dass sich die einzelnen Schritte der Studie immer wieder aufeinander beziehen. Die Auswahl der Fälle folgte hierbei Erkenntnissen aus dem Forschungsprozess selbst (vgl. Kapitel 5.3).

5.2. Anlage der Studie

Dem Untersuchungsfeld habe ich mich empirisch von zwei Seiten genähert: Beobachtend und befragend. Daher besteht meine methodische Konzeption aus zwei maßgeblichen Phasen, die sich bedingen und insbesondere in ihrem Zusammenspiel erkenntnisfördernd gewirkt haben. Bei den Methoden handelt es sich zum einen um ein begleitendes Beobachtungsverfahren mit Elementen der Befragung und zum anderen um eine besondere Form des qualitativen Interviews, das geprägt und geleitet wird durch visuelle Elemente. Die Befragungsphase wurde zudem um weitere qualitative Interviews ergänzt.

▼ 97 

In der folgenden schematischen Darstellung wird aufgezeigt, wie die einzelnen methodischen Schritte sowohl prozesshaft als auch zirkulär miteinander in Verbindung stehen.

Abb. 2: Schematische Darstellung Zusammenspiel der methodischen Ansätze

In der ersten empirischen Phase wurden zwei Personen in ihrem Alltag begleitet und ihr Handeln beobachtet. Im Dialog wurde zudem ihre Sicht auf das Alltagsgeschehen erfasst. Diese Go-Alongs (vgl. Kusenbach 2003, 2008) erstreckten sich jeweils über einen Tag.26 Dieselben Personen wurden zusätzlich zu einem späteren Zeitpunkt befragt. Dadurch wurde das Ineinandergreifen der beiden methodischen Ansätze geprüft. Zusätzlich wurden weitere acht Interviews im Zuge der Feldforschung durchgeführt. Die Erkenntnisse aus dem methodischen Vorgehen aufgreifend, bildete ein erneutes Go-Along den Abschluss der Empirie. Zugleich wurden mit diesem Schritt die bisherigen Ergebnisse erneut geprüft. Die Phase der Datenerhebung ist durch diese Rückbezüge der einzelnen methodischen Schritte zirkulär angelegt gewesen. Das Einbeziehen bereits gewonnener Erkenntnisse und die Flexibilität für methodische Anpassungen im Forschungsprozess machten das geschilderte methodische Vorgehen möglich. Insgesamt bestand meine Datenbasis aus 13 Personenfällen, die sich in eine Vielzahl von Ereignisfällen (vgl. Merkens 2009) unterteilen ließen.

Forschen als entdeckendes Handeln

▼ 98 

Der zentrale Zugang zum Feld ist das Miterleben des Alltages der Untersuchungsteilnehmer gewesen. Hierzu habe ich Forschen als aktiven, entdeckenden Prozess des Handelns gesehen (vgl. Kleining 1995: 250) und die Untersuchungsperspektive auf Mobilität zum Kernelement der Untersuchung gemacht: Mein wissenschaftliches Begleiten baute auf dem gemeinsamen Erfahren von Alltag und dem Begehen alltäglicher Handlungen und Aushandlungssituationen auf (vgl. Kapitel 4.1). Das Gehen als Mittel, Welt zu erfahren, in Aushandlungen mit anderen zu treten und somit Alltagswelt und Sinn auszuhandeln (vgl. Balzac 1997; Urry 2008; Goffman 1982, 1986), ist so ein wichtiger Bestandteil meines methodischen Ansatzes gewesen. Die Methode des Go-Alongs, nach Kusenbach (2003) – das „Mitgehen als Methode“ (dies. 2008) – ist im gemeinsamen Unterwegssein begründet und war daher für meine Studie besonders geeignet. Diesem Ansatz folgend wurden Personen durch ihren Tag begleitet und in ihren alltäglichen Handlungen beobachtet. Durch zusätzliche Befragungen während der Beobachtungen erhielt ich subjektive Anhaltspunkte für eine erweiterte Einordnung des Gesehenen. Das unmittelbare Begleiten, das Dabei-Sein und somit das Forschen in situ also am Ort und zu dem Zeitpunkt des Geschehens selbst (vgl. Honer 2009; Girtler 2001, 2004) waren charakteristisch für dieses Vorgehen. Girtler sieht hierbei das Gehen durch das Feld als grundlegend für das Erfahren und Erleben in qualitativer Forschung und führt an: „Ich selbst halte den Fußmarsch daher für ein wichtiges methodisches Mittel“ (ders. 2004: 54).

Das gemeinsame Erleben des Alltages machte auch einen weiteren zentralen Aspekt qualitativer Sozialforschung offensichtlich: Als Forscher trat ich in Interaktion und Dialog mit den Untersuchungsteilnehmern – das Forschen war ein kommunikativer Prozess (vgl. Krotz 2005: 46, 97) und kein distanziertes Geschehen. Befragungen waren in Form kürzerer Gespräche Teil des begleitenden Forschens. 

Noch deutlicher wurde die dialogische Wirkweise des Forschens in den weiteren Befragungen meiner Studie. Diese waren durch Fotografien von Alltagssituationen strukturiert und gingen auf ein Verfahren der visuellen Soziologie zurück. In dieser wissenschaftlichen Tradition werden in der Forschung Bild- und Textelemente miteinander verbunden (vgl. Collier 1957; Collier/Collier 2004; Harper 1988, 2000, 2002). Die Fotografien beschrieben in der Abbildung einzelner Situationen einen Tag im Leben der jeweiligen Person. Die Bilder sind von der Perspektive des Handelnden bestimmt gewesen, denn die Teilnehmer selbst dokumentierten den Alltag nach ihren eigenen Vorstellungen und Maßgaben. Dieses als „Reflexive Fotografie“ bezeichnete Interviewverfahren (vgl. Dirksmeier 2009: 163ff) setzt, wie in Kapitel 6.2 umfangreicher beschrieben werden wird, genau dort an, wo die Go-Alongs an die Grenze ihrer Aussagekraft gelangten: Zwar sind in dem kommunikativen Prozess des gemeinsamen Begehens des Alltages das Gespräch und die Befragung Bestandteil der Forschung gewesen. Diese entzogen sich jedoch einer umfassenden, systematischen Erfassung und somit einer tiefergehenden Einbeziehung der subjektiven Perspektive.

▼ 99 

Die Anlage meiner Studie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das teilnehmende Beobachten und Befragen als dichter, kommunikativer Forschungsprozess lieferte mir die Möglichkeit, in zahlreichen, zusammenhängenden Beobachtungssituationen Alltagshandeln und damit einhergehende Interaktionen, Abstimmungen mit jeweiligen Dritten und die Einbindung von Medien in diese Prozesse zu erfassen. Als Einstieg wählte ich aus den möglichen Teilnehmern zwei Personen mit potentiell möglichst unterschiedlichem Tagesablauf aus: Eine selbstständige Immobilienhändlerin und eine Café-Angestellte (vgl. Kapitel 5.3 und 7). Durch die in dieser Kontrastierung der ersten Fälle deutlich gewordenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten konnte eine Bandbreite verschiedener Aspekte einer mobilen Alltagsgestaltung aufgedeckt werden (vgl. etwa Dey 1999: 171). 

Das darauf aufbauende weitere methodische Vorgehen war von einer Intensivierung der Befragung gekennzeichnet. Auf Basis visueller Elemente wurde hierbei in der Reflexiven Fotografie ebenfalls der Alltag von Personen als Ganzes nachgezeichnet und nachvollzogen. Die Erkenntnisse aus den Beobachtungen waren hierbei Quelle und Impuls für die Befragungsphase und bildeten zudem eine Grundlage für die Einordnung der Befragungsergebnisse. Zusätzliche qualitative Interviews dienten der Prüfung und Vertiefung meiner Erkenntnisse. Ein weiteres Go-Along bildete den Abschluss der Feldforschung. Hierbei wurden mit diesem sehr dichten und umfangreichen methodischen Ansatz erneut die bisherigen Erkenntnisse geprüft.

5.3. Die Teilnehmer der Studie: Fallauswahl und Begründung

Die Teilnehmer für meine Studie habe ich gezielt nach der vermuteten Alltagsgestaltung in Hinblick auf Mobilität ausgewählt. Hierbei reichten die Fälle von der auf den ersten Blick ungebundenen, mobilen Alltagsgestaltung einer Künstlerin, über den Familienvater, dessen Mobilität im Alltag nahezu vollständig von den Wegen der Kinder bestimmt ist, bis hin zu der Hausfrau, bei der sich über 30Jahre hinweg die Routine in ihren alltäglichen Wegen eingeprägt hat. Ich bin der Strategie gefolgt, geeignete Fälle nach weiteren, sich aus dem Forschungsprozess ergebenen Kriterien hinsichtlich der Alltagsmobilität auszuwählen, um dem offenen Vorgehen meiner Studie gerecht werden zu können. So zeigte sich in der Kontrastierung der ersten Fälle die besondere Bedeutung von Freiheit, eigene Wege im Alltag und die Wege anderer Personen bestimmen zu können. Oder aber das Fehlen ebendieser Freiheit. Im weiteren Sampling wurde dies dadurch berücksichtigt, dass neue Fälle hinsichtlich der angenommenen eigenen Entscheidungsfreiheit oder deren Einschränkung ausgewählt und verglichen wurden.

▼ 100 

Ein weiteres beispielhaftes Kriterium für die Fallauswahl war die Bedeutung bisheriger Mobilitätserfahrung. So konnte sich etwa eine 18jährige Schülerin auf das Erlebnis eines längeren Auslandsaufenthaltes beziehen. Es zeigte sich auch, dass mit zunehmender Lebensdauer der Erfahrungsschatz größerer Umbrüche in der eigenen Alltagsgestaltung zunahm. Diese Ereignisse waren vor allem Wohnorts- oder Arbeitsplatzwechsel, mit denen eine Veränderung der alltäglichen Wege einherging. Hieraufhin habe ich beispielsweise einen Arbeitslosen, einen Vater in Elternzeit mit zwei jungen Kindern sowie eine kürzlich pensionierte Person in die Untersuchung mit einbezogen, um solche einschneidenden Wechsel zu berücksichtigen.

Die Begründung der Auswahl war hierbei in den verschiedenen Phasen meiner Studie je unterschiedlich: War zu Beginn, wie beschrieben, die Wahl zweier möglichst unterschiedlicher Fälle als Einstieg wichtig, wurden anschließende Fälle nach den Erkenntnissen der ersten Auswertungen hinsichtlich neuer Perspektiven auf das Thema gewählt. Mit zunehmender Konkretisierung der aufgedeckten theoretischen Zusammenhänge28, rückte neben Kontrastierungen auch die Festigung der gefundenen Kategorien in den Mittelpunkt (vgl. Strauss/Corbin 1996: 94ff; Truschkat et al. 2007: 246f).

Die Auswahl weiterer Fälle nach den Erkenntnissen des laufenden Forschungsprozesses folgte der Strategie eines Theoretischen Samplings (vgl. Glaser/Strauss 2008: 70f; Krotz 2005: 191ff; Dey 1999: 170f): Der Forscher entscheidet hierbei im Prozess der Auswertung bereits erfasster Daten, „welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind“ (Glaser/Strauss 2008: 53). Dieser Weg der Teilnehmerauswahl stellt für Strauss ein effektives Werkzeug für die Forschungsorganisation dar:

▼ 101 

„Ich habe immer wieder diese Leute in Chicago und sonst wo getroffen, die Berge von Interviews und Felddaten erhoben hatten und erst hinterher darüber nachdachten, was man mit den Daten machen sollte.“ (ders., 1994. In: Legewie/Schervier-Legewie 2004: Abs. 59)

Wird die Fallauswahl auf Kriterien der eigenen Untersuchung gestützt, kann der Forscher darauf achten, in welche Richtung die Daten ihn leiten. Flick sieht dieses Vorgehen grundsätzlich als mögliches Auswahlprinzip qualitativer Forschung. Ein forschungsbegleitendes Sampling nach theoretischen Kriterien sei daher keine exklusive Herangehensweise der Grounded Theory. (vgl. ders. 2007: 164)

▼ 102 

Für Alheit ist das Aufstellen gewisser Vorannahmen auch über die potentiellen Teilnehmer ein Weg für die forschungspragmatische Umsetzung datengeleiteter Forschung. Er spricht von einem Zusammenspiel zwischen Annahmen und Offenheit im Auswahl- und Forschungsprozess und erläutert dies wie folgt:

„»Geplant« insofern, als gewisse hypothetische Vorannahmen auch über ein neues Forschungsfeld notwendig und sinnvoll sind; »flexibel« und »offen«, weil sich im Forschungsprozess diese Vorannahmen ändern können.“ (ders. 1999: 7) 

▼ 103 

Hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen Glaser und Strauss über den angemessenen Weg offenen, datengeleiteten Forschens29 stellt er sich somit auf die Seite von Strauss, der zwischen dem Emergieren von Erkenntnissen aus den Daten und dem Entwickeln und Prüfen eigener Annahmen in diesem Prozess keinen Widerspruch sieht (vgl. Strauss 2007; Strauss/Corbin 1998).

Akquise der Teilnehmer

Zur Teilnehmerakquise habe ich in Geschäften, Cafés und Bibliotheken in Bonn Aushänge sowie Flugzettel in unterschiedlichen Stadtvierteln verteilt. Sie enthielten einen Aufruf zu der Teilnahme an Interviews mit grundlegenden Informationen zu der Studie sowie den Hinweis auf eine Honorierung. Zudem war der Link auf eine für die Studie eingerichtete Internetseite mit weiterführenden Informationen vermerkt. Dadurch, dass so alle relevanten Informationen zu der Studie Interessenten und späteren Teilnehmern zugänglich gemacht wurden und ich zudem direkt kontaktiert werden konnte (vgl. Mey/Mruck 2007b: 259), wurde eine informierte Einwilligung ermöglicht (vgl. DGS/BDS, Kap.: I.B). Zusätzlich wurde parallel ein Schneeballprinzip angewandt, um über bestehende Kontakte Teilnehmer zu finden (vgl. Lamnek 2005: 355, 574). Diese Auswahlstrategie sieht vor, über bekannte Personen, beispielsweise bereits Befragte, zu neuen Fällen zu gelangen. Patton formuliert dies folgendermaßen:

▼ 104 

„Identify cases of interest from sampling people who know people who know people who know what cases are information rich, that is, good examples for study, good interview participants“ (ders. 2002: 243). 

Durch die Empfehlungen anderer konnte ich so Informationen über mögliche weitere Teilnehmer erhalten, die mir ansonsten nicht zugänglich gewesen wären. Über dieses Prinzip wurde auch die Auswahl anhand möglicher weiterführender Kriterien im Sinne des Theoretischen Samplings einfacher (vgl. Merkens 2009: 295ff), da ich gezielt nach Personen mit bestimmten Tagesgestaltungen fragen konnte.

Die Teilnehmerakquise mittels des Schneeballprinzips eignet sich zudem auch für kritische oder schwer zugängliche Fälle (Merkens 2009: 288f). Es darf nicht übersehen werden, dass ein Eindringen in den Alltag – und ein solches war mein methodisches Vorgehen – durchaus kritisch von potentiellen Teilnehmern bewertet wird. In Vorgesprächen zu meiner Studie wurde dies vielfach deutlich und war in einigen Fällen auch der Grund für das Abspringen möglicher Teilnehmer. Durch das Schneeballprinzip entstanden (wenn auch vermittelte) persönliche Vertrauensverbindung zu den Teilnehmern. Zugleich blieb der nötige persönliche Abstand zum Untersuchungsteilnehmer erhalten. (vgl. Flick 2007: 149) Gerade bei dem besonders intensiven und persönlichen Verfahren der Go-Alongs verließ ich mich daher vollständig auf das Schneeballverfahren. Dies erschien mir in Hinblick auf die Vertrauensbildung bei einem so dichten methodischen Vorgehen als bester Weg (vgl. Lamnek 2005: 574f).

▼ 105 

Aus den potentiellen Teilnehmern wählte ich folgende Personen aus, die unterschiedliche Alltagsgestaltung in Hinblick auf Mobilität aufwiesen: Für die Immobilienhändlerin Frau Schmitz (47) ist es schon durch ihren Beruf notwendig, jeden Tag räumlich mobil zu sein, da die von ihr betreuten Bauprojekte zum Teil deutlich voneinander getrennt im Bonner Stadtgebiet liegen. Beate (26) wiederum folgt in ihrem Alltag vor allen Dingen den Wegen, die ihr Arbeitsplatz vorgibt: Als Kellnerin bewegt sie sich in den festen Strukturen des Cafés, wobei sich hier durchaus große Dynamiken entwickelten und weite Wege zurückgelegt wurden. Frieda, eine 24-jährige Studentin, arbeitet halbtags als Betreuerin in einem Altenheim. Ihre täglichen Wege wurden von ihr bewusst auf einen geringen Radius eingegrenzt. Größerer räumlicher Mobilität im Alltag stand sie eher skeptisch gegenüber. Doro, eine 18jährige Schülerin, ist alleine schon durch den Wohnort ihrer Eltern zu hoher Mobilität gezwungen, wenn sie außerhalb ihres Ortes etwas unternehmen will. Auch der tägliche Weg zur Schule war ein zentrales, notwendiges Element ihrer Alltagsstruktur. Herr Eberle (47) ist seit einiger Zeit arbeitslos. Seinen Alltag gestaltete er jedoch immer noch so wie an seinen früheren Arbeitstagen. Er verließ morgens das Haus und war den ganzen Tag unterwegs, auch wenn der eigentliche Anlass, arbeiten zu gehen, weggefallen ist. Er verbrachte stattdessen seine Zeit mit Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln oder damit, durch die Stadt zu gehen. Karin, eine 35-jährige selbstständige Schmuckdesignerin, betont die Freiheit, ihren Alltag in gewissen Rahmen selbst gestalten zu können. Es wurde jedoch deutlich, dass auch bei ihr Zeiten und Wege grundsätzlich einem gewohnten Schema folgten. Die Wege im Alltag von Viktor (36) waren von seinen Kindern bestimmt: Viktor ist Vater in Erziehungszeit. So folgte er den Tag über bestimmten Routen, etwa von der Tagesmutter zum Kindergarten und zurück und hielt sich an feste, vorgegebene Zeiten. Auch die Bedeutung von Medien im Alltag hat sich so geändert. Gero (37) ist Pendler. Er betreibt als Heilpraktiker zwei Praxen an unterschiedlichen Orten. Daher ist er beruflich viel und lange mit dem Auto unterwegs. Abschließend habe ich zwei Rentner befragt. Herr Kraus (67) ist pensionierter Arzt und nach wie vor täglich viel unterwegs. Aber bewusst anders, wie er betonte, als zu seiner Zeit als Klinikarzt. Seine ebenfalls 67jährige Frau wiederum ist seit über 30 Jahren Hausfrau. Ihre Alltagswege beschrieb sie als Routinen, die das Ergebnis dieser langjährigen Entwicklung sind, sich aber zunehmend schwerer gestalteten.

Das von mir ausgewählte Sampling ist als ein exemplarischer Ausschnitt und die Untersuchung dieser Fälle als eine Momentaufnahme alltäglichen Handelns in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft zu verstehen (vgl. Strübing 2008: 39). Dadurch, dass der Gegenstand der Untersuchung, also die Form und Einbettung alltäglicher Mobilität, über die Fälle hinweg aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln untersucht wurde, zeigten sich Befunde, die über die begrenzte Auswahl hinaus reichen. Zusammenhänge und Handlungsprozesse, die unabhängig von der Art der Mobilität im Alltag offensichtlich wurden und somit über den Einzelfall hinweg Bedeutung und Geltung hatten, lassen sich in verallgemeinerter Form in andere theoretische und empirische Betrachtungen einbetten. Insbesondere in die Theorie der Mediatisierung kommunikativen Handelns (vgl. Krotz 2001a; Hepp/Hartmann 2010) und in Untersuchungen zur Medienaneignung (vgl. Hartmann 2008; Hepp 2005; Höflich 2005a; Höflich/Gebhardt 2003) sowie der alltäglichen Mediennutzung (vgl. Boehnke/Döring 2001; Höflich 2008; Mikos 2005; Röser 2007) in einer mobilen Gesellschaft.

Im Laufe der Datengewinnung und des Auswertungsprozesses gelangte ich zu einer Bandbreite in den erhobenen Fällen und zu einer Sättigung der Kategorien (vgl. Kapitel 6.3). Die Variation der alltäglichen Mobilität in den ausgewählten Fällen deckte sich dabei mit den Mobilitäts-Clustern, die in der umfassenden Studie „Typologie der Wünsche“ als typische Formen des alltäglichen Unterwegs-Seins ausgemacht wurden (vgl. Burda 2009). Das bis dahin erhobene Datenmaterial bot zudem eine umfangreiche Basis für weiteres theoretisches Sampeln auch innerhalb der Daten. Neben dem Erheben neuer Fälle, ist es ergiebig gewesen, die bisherigen Daten als Quelle für weiteres Sampling zu sehen und sie im Laufe des Forschungsprozesses unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. So merkt Alheit zu der Möglichkeit, über die Fälle hinaus weiter zu sampeln, an:

▼ 106 

„Wir entdecken systematisch auch am Material Kontraste und Ähnlichkeiten. D.h. wir fahren fort, theoretisch zu »samplen«. Nur sind es jetzt nicht mehr Fälle oder Situationen, die wir aufeinander beziehen, sondern das erhobene Datenmaterial selbst.“ (ders. 1999: 16) 

Dieser Gedanke wird besonders dann nachvollziehbar, wenn man eine Unterscheidung zwischen Personenfall und Ereignisfall, wie Merkens es vorschlägt, vornimmt (vgl. ders. 2009: 292f, 296). Auch wenn Alltagshandeln im Sinne Giddens als ein fließender Prozess, der die einzelne Handlung überlagert, betrachtet wurde, ließen sich in der Reflexion nachträglich einzelne Ereignisse, Situationen oder Handlungen herausstellen, um diese zu untersuchen und in Bezug zu einander zu stellen (vgl. ders. 1986: 3; Joas/Knöbl 2004: 407). Dies bedeutet insbesondere bei den Go-Alongs, aber auch bei der Reflexiven Fotografie, dass sich ein Personenfall in eine Vielzahl an Ereignisfälle, also einzelne Handlungssituationen, Aushandlungen, Interaktionen zerlegen ließ, die durch die Klammer des Alltages und der darin vollzogenen Handlungen einer Person zusammengehalten wurden.

▼ 107 

 


Fußnoten und Endnoten

26  vgl. vertiefend Kapitel 6.1

28  vgl. auch Kapitel 6.3

29  von Glaser (1992) als „emergence vs. forcing“ zusammengefasst.



© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 3.0TARGET
Textarchiv Gotha/Erfurt
HTML-Version erstellt am:
26.05.2011