2. Alltag in einer mobilen Gesellschaft

▼ 6 (fortgesetzt)

Unser Handeln wird Tag für Tag davon strukturiert, welche Wege wir zurücklegen und wie wir dies tun (vgl. Schubert 2000; Tully/Baier 2006). Alltag lässt sich so nach raum-zeitlichen Kriterien gliedern (vgl. Pohl 2009; Riege/Schubert 2005). Ebenso prägen Medienangebote sowie die Aneignung von Medien den Alltag von Menschen (vgl. Hartmann/Hepp 2010; Krotz 2001a, 2007; Mikos 2005). Im Folgenden werden die Beziehungen dieser drei zentralen Aspekte – Mobilität, Alltag und Medien – zueinander beschrieben und als Grundlage für das weitere Vorgehen festgehalten.

2.1. Mobilität

„Mobilität hat Vorrang“
„Mobilität kann Luxus werden“
„Mobilität steigert Konsumfreude“
„Neue Mobilität: Ölpreisschock löst Öko-Boom aus“

Diese Schlagzeilen spiegeln etwas Gemeinsames wider: Mobilität ist in unserer Gesellschaft verankert und betrifft ganz unmittelbar die alltäglichen Handlungsmöglichkeiten. In der öffentlichen Diskussion um gesellschaftliche Themen wird deutlich, was von Mitgliedern dieser Gesellschaft erwartet wird: Mobil und flexibel zu sein, um sich dem gesellschaftlichen Wandel schnell anpassen zu können. Nicht nur im Beruf, sondern auch in anderen Bereichen des Alltages wird Mobilität immer häufiger stillschweigend vorausgesetzt (vgl. Triebel 2010). Besonders hinsichtlich der Automobilität zeigt sich, wie sehr Menschen an ihren Mobilitätsmöglichkeiten hängen: So sorgen steigende Benzinpreise für Unmut, da die individuelle Beweglichkeit gefährdet scheint. Ebenso betreffen regelmäßige Debatten über die Pendlerpauschale eine große Personengruppe, die täglich weite Strecken überbrückt. (vgl. Tully 1999; Tully/Baier 2006)

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In aktuellen Nachrichten, Diskussionen und Diskursen ist Mobilität in der Gesellschaft so ein gegenwärtiges Thema. Sie fällt als Schlagwort, um bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben und wird als Argument für politische oder soziale Forderungen verwendet. Von einer mobilen Gesellschaft wird dabei in vielerlei Hinsicht gesprochen: Beginnend bei der Möglichkeit zu räumlicher Mobilität, die zunehmend auch als Kriterium für wirtschaftlichen Erfolg gefordert wird, über soziale Mobilität als deren Ursache oder Folge bis hin zu weiteren Formen, etwa mentaler oder virtueller Mobilität (vgl. beispielhaft Funken/Löw 2003; Rehberg/Schmitz/Strohschneider 2005; Tully/Baier 2006; Urry 2008). Diese Betonung des Themas und seine Ausdifferenzierung finden sich in der wissenschaftlichen Betrachtung verschiedener Disziplinen unter unterschiedlichen Perspektiven wieder (vgl. beispielhaft Herz 1983; Groß 2008; Traeger 2005; Weilenmann 2003).

Mobilität ist in der alltäglichen Wahrnehmung dabei eine diffuse Größe, an der Personen und Institutionen gemessen werden. Es scheint Menschen zwar eine Vorstellung inne zu wohnen, die ihnen erlaubt, andere danach zu beurteilen, wie flexibel und mobil sie sind. In Worte zu fassen, was genau Mobilität ausmacht, fällt allerdings oft schwer. Denn wenn es darum geht, den Begriff konkret zu fassen, wird seine Vielschichtigkeit offensichtlich.

Als Ordnungskriterien werden daher in der wissenschaftlichen Betrachtung einige Bezugsgrößen immer wieder herangezogen, um Mobilität zu definieren. So führt allein das Lexikon zur Soziologie 16 Sammelbegriffe auf, unter denen sich unterschiedliche Aspekte von Mobilität zusammenfassen lassen (vgl. Fuchs-Heinritz 2006: 443ff). Solche Auflistungen zeigen, wie sich Definitionen von Mobilität ergänzen, überlagern und zum Teil gegenseitig ausschließen. Meist wird ein sehr spezieller Aspekt herausgegriffen, der die Definitionen entweder besonders präzise oder besonders allgemein werden lässt. Angesichts der vielfältigen, heterogenen Aspekte von Mobilität und der ebenso zahlreichen Definitionen des Begriffes in unterschiedlichen Disziplinen der Wissenschaft war nicht zuletzt aus forschungspraktischen Gründen eine für meinen Forschungsgegenstand relevante Eingrenzung nötig. Tully/Baier gelangen bei dem „Versuch einer Ordnung“ (dies. 2006: 31) von Mobilitätsbegriffen zu einer Konzentration auf räumliche, soziale und informationelle Mobilität. Das entscheidende Kriterium für diese Einteilung liegt für sie in der direkten wissenschaftlichen Erfassbarkeit der Mobilitätsformen anhand der räumlichen und zeitlichen Differenzierung (vgl. ebd.: 31f).

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Hiervon ausgehend ist in dieser Studie mit Mobilität das beobachtbare, alltägliche Unterwegssein in Form physischer Bewegung gemeint – ein Aspekt von Mobilität, den Tully/Baier als elementar für die Gestaltung von Alltag erachten (vgl. dies. 2006: 37). Die räumliche Mobilität, das Verändern von Bezügen im Raum, wie es Simmel (1995, zuerst 1903) nennt, wird in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung dabei oft als die grundlegende Form von Mobilität und als Quelle anderer Mobilitätsformen erachtet. Schroer etwa beschreibt räumliche Mobilität als „die Bewegung der Menschen von Ort zu Ort durch Wanderung“ (ders. 2006a: 76), also als offensichtliches Unterwegssein. Cresswell sieht diesen „act of moving between locations“ (ders. 2006: 2f) als einfachste Form, Mobilität zu begreifen. Franz definiert räumliche Mobilität „als Wechsel eines Individuums zwischen den definierten Einheiten eines räumlichen Systems“ (ders. 1984: 24) und betont hierbei wie auch Tully/Baier die raum-zeitliche Erfassbarkeit der Bewegung.

Über die reine Bewegung hinaus berücksichtigt Franz zudem das Potential und den Willen zu Mobilität. Hierzu stellt er der Mobilität die Begriffe Motilität, also die Möglichkeit zu Mobilität (vgl. auch Urry 2008: 38f), und Mobilitätsbereitschaft zur Seite (vgl. Franz 1984: 29f). Insbesondere in der Betrachtung potentieller Mobilität findet sich der Gedanke, auch in ortsgebundenen Handlungen nach Verweisen auf (zukünftige) Mobilität zu suchen. Dieser Aspekt wird ebenso in der Etymologie des Begriffes deutlich: Der lateinische Begriff mobilis bedeutet beweglich, mobilitas ist die Beweglichkeit (vgl. Stowasser 1994). Mobilität bezieht sich so nicht nur auf die Zeit und den Raum des Unterwegsseins, sondern auch auf die Möglichkeit zur Bewegung. Räumliche Mobilität als unmittelbare, erfahrbare und somit im Alltag empirisch zugängliche Form von Mobilität stand im Mittelpunkt meiner Betrachtung. Ihre Bezüge zu Orten sowie ihre Geltung auch in Zeiten des Nicht-Unterwegsseins wurden dabei als Möglichkeit zu Mobilität berücksichtigt.

Räumliche Mobilität

„Die Entfernungen werden durch dieses, dem Fluge der Vögel nachstrebenden Verbindungs- und Transportmittel immer kleiner, Staaten und Nationen rücken dadurch einander immer näher; die Verbindungen werden immer zahlreicher und enger, und der Mensch bemächtigt sich immer mehr der Herrschaft über Raum und Zeit.“ (zitiert nach Traeger 2005: 180) 

Dieses Zitat aus der Einladung einer Eisenbahngesellschaft 1833 spiegelt die Begeisterung wider, mit der die Möglichkeit zu räumlicher Mobilität durch die Eisenbahn aufgenommen wurde. Sicherlich ist es als Pressetext zugespitzt formuliert. Aber die Errungenschaft, sich immer mehr von räumlichen und zeitlichen Zwängen lösen zu können, hat insbesondere seit der Industrialisierung ganze Gesellschaften verändert (vgl. Schmitz 2005; Groß 2008). Überwindung von Raum ist dabei das wohl offensichtlichste Zeichen von Mobilität, denn Raum und Raumveränderungen sind direkt wahrnehmbar. Menschen haben sich daran gewöhnt, dass ihr Körper beschleunigt werden kann und so Strecken schneller überbrückt werden, als dies aus eigener Kraft möglich wäre. So selbstverständlich wie es heute erscheint, nahezu jeden Ort auf dem Globus erreichen zu können, so revolutionär muss den Menschen in der Zeit der Industrialisierung das Potential der damals neuen Eisenbahn erschienen sein.

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Und so wie zu dieser Zeit Mobilität in ihrer räumlichen Ausprägung neu begriffen werden musste, so stellen auch heute Formen der Mobilität Mitglieder einer Gesellschaft vor die Aufgabe, diese zu erfahren und zu begreifen. Informationelle, mediale oder virtueller Mobilität – wie auch immer man die Überbrückung des Raumes durch Kommunikationsmittel nennt – ist nicht in dem Maße direkt erfahrbar wie räumliche Mobilität. Denn Menschen können mobil sein, ohne unterwegs zu sein: Medien ermöglichen es ebenso wie Transportmittel Raum und Zeit zu überbrücken, mit dem Unterschied, dass nicht der Mensch selbst mobil sein muss. Stattdessen ist es seine Kommunikation, die immer seltener daran gebunden ist, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stattfinden zu müssen. Und so, wie das Verständnis von expansiver räumlicher Mobilität mit dem Aufkommen der Eisenbahn in der Gesellschaft erst reifen musste, so musste auch in einer zunehmend mediatisierten Gesellschaft mediale Mobilität mit anderen gesellschaftlichen Prozessen in Einklang gebracht werden (vgl. Höflich/Gebhardt 2003) und im Zuge einer „mobilen Sozialisation“ verinnerlicht werden (vgl. Höflich/Kircher 2010a).

Laut Tully/Baier befinden wir uns dabei bereits auf dem schnellsten Weg „in eine »Mobilitätsgesellschaft II«, in der Mobilität in allen Bereichen Voraussetzung der Teilhabe ist“ (dies. 2006: 102). „[M]otorische Technik“, als Grundlage räumlicher Mobilität, wird dabei durch die Verbreitung von Kommunikationstechniken erweitert und letztendlich verdrängt (vgl. ebd.: 103). Diese neue Form der mobilen Gesellschaft steht in der Prognose von Tully/Baier allen Menschen offen: „Bisherige Beschränkungen der Mobilität im Hinblick auf bestimmte Gruppen, Typen oder räumliche Grenzen entfallen sämtlich“ (ebd.: 102). Eine optimistische Vorstellung von der Macht der Kommunikationsmedien, die an McLuhan/Powers´ Entwurf des globalen Dorfes, das allen von überall her zugänglich ist, erinnert (vgl. McLuhan/Powers 1995).

Orte und Mobilität

Räume haben durch ihre Strukturen und Besonderheiten Einfluss auf das Handeln und somit auch auf die (potentielle) Mobilität einer Person (vgl. Barker 1968; Chapin 1974; Löw 2007; Schubert 2000). Burkart differenziert Orte danach, ob und wie sie mobile Kommunikation ermöglichen oder restringieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die Funktion oder Funktionalität von Orten einen direkten Einfluss darauf hat, wie mobile Kommunikation eingebunden werden kann (vgl. ders. 2000: 221ff). Analog zu der räumlichen Prägung von mobiler Kommunikation kann ein Einfluss der Funktionalität des Raumes auf Mobilität im Allgemeinen angenommen werden. Ein Ort, der im besonderen Maße für Mobilität steht – ja sogar ausschließlich wegen und für Mobilität existiert – ist der Flughafen. Als Sinnbild für räumliche Mobilität ist dieser Ort als Untersuchungsgegenstand in der Mobilitätsforschung besonders beliebt. So betont Cresswell: 

„The airport has become something of an iconic space for discussions of modernity and postmodernity, and its central role in literature on mobility makes it an ideal place to consider the ways in which geographies of human mobility have developed.“ (ders. 2006: 220) 

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Weitere Beispiele finden sich bei Adey/Bevan (2006), Bachleitner (2005), Gottdiener (2001) und Weilenmann (2003). In diesen Studien wird deutlich, wie sehr Mobilität auch außerhalb der eigentlichen räumlichen Bewegung Orte und Handeln prägt. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird herausgearbeitet, wie sich in dem Mobilitätsraum Flughafen viele unterschiedliche Formen von Mobilität und eben auch von Immobilität differenzieren lassen. So betonen Adey/Bevan, dass der Reisende neben seiner physischen Mobilität, deren Ausgangspunkt der Flughafen ist, auch medial mobil ist, etwa durch die räumliche Einbindung von Informations- und Kommunikationsmedien (vgl. Adey/Bevan 2006: 51ff). Bachleitner wiederum sieht ein „Spannungsfeld von Mobilität und Immobilität“ an diesem Ort. Er zeigt auf, dass räumliche Mobilität immer mehr auch eine Einschränkung von Mobilität mit sich bringt, da „diese Immobilitätszeiten [Wartezeiten, GFK] drastisch zunehmen, während die Mobilitätszeit (Flugzeiten) aufgrund technologischer Weiterentwicklungen ständig verkürzt werden“ (Bachleitner 2005: 267). Das Verweilen am Ort und das Handeln dort stehen unter dem Eindruck von (anstehender) Mobilität.

Einen speziellen Bereich von Mobilität in Zusammenhang mit Flughäfen hat Weilenmann untersucht, für den sie hinter die Kulissen geschaut hat. Am Beispiel eines Informationssystems für Fahrer von Schneeräumfahrzeugen gibt sie Einblick in die Mechanismen, die zur Aufrechterhaltung des Mobilitätsraumes Flughafen nötig sind. Sie zeigt auf, wie mit der Zunahme von Mobilität auch der Aufwand für einen reibungslosen Ablauf steigt. Dies zieht neue Organisationsformen und die Einführung neuer Kommunikationstechnologien nach sich. (vgl. Weilenmann 2003: 75ff) Es zeigte sich zudem, dass Mobilität der einen eine Immobilität anderer, die für das Aufrechterhalten der Mobilitätsmöglichkeit zuständig sind, bedeutet (vgl. auch Adey/Bevan 2006: 56). Auch Urry betont, wie sehr die Mobilität von der Leistung anderer und zugrunde liegender, oft statischen Strukturen abhängt: „Almost all mobilities presuppose large-scale immobile infrastructures that make possible the socialities of everyday life“ (ders. 2008: 19). Als Beispiele nennt er Wege, Schienen, öffentliche Straßen, Versorgungsleitungen, Kommunikationsverbindungen und eben auch Verkehrsknotenpunkte wie Flughäfen. Orte der Mobilität und Räume des Unterwegsseins sind also immer auch Teil größerer, statischer Strukturen und geprägt von Handlungen anderer sowie von Arrangements mit diesen.

Mediale Mobilität in räumlicher Mobilität

Alleine an dem Beispiel des Flughafens lässt sich zeigen, wie differenziert ein Ort, der in Burkarts Kategorisierung als Mobilitätsschleuse bezeichnet wird (vgl. ders. 2000), in Bezug auf Mobilität betrachtet werden kann. Bei unspezifischen, multifunktionalen Orten ist eine noch feinere Unterscheidung anzunehmen. Deshalb scheint eine reine Ortseinteilung als Anhaltspunkt für die Strukturierung von Mobilität schwierig. Wie Adey/Bevan einbringen, wird die physische Raummobilität zudem zunehmend von einer virtuellen Mobilität im Raum begleitet. Dass Raum auch ohne einen physikalischen Ortswechsel schnell überwunden werden kann, ist – zumindest auf gesellschaftlicher Ebene – ein Phänomen, das erst durch elektronische Medien ermöglicht wurde. Wilke merkt zu der Veränderung von Mobilität durch Medien an:

„Die Zahl derer, die sich häufiger und über kürzere oder längere Strecken hinweg fort bewegten, stieg mit den modernen Verkehrstechniken an, die seit dem 19. Jahrhundert aufkamen. Jetzt begann eine physische Mobilisierung, die ihre sozialen und mentalen Korrelate hatte. Weiterer technischer Erfindungen bedurfte es jedoch, um die Kommunikation vollends von der Bindung an den Raum zu entfesseln. Dies gelang letztlich erst durch die Nutzung immaterieller Transportwege im 20. Jahrhundert.“ (ders. 2004: 2) 

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McLuhan sieht dabei in Medien eine Erweiterung der menschlichen Sinne und gerade in elektronischen Medien einen Weg, das Bewusstsein auf entfernte Orte auszuweiten (vgl. Krotz 2001b: 66ff). Bereits der Untertitel seines Werkes Understanding Media – The Extensions of Man – verweist hierauf (vgl. McLuhan 1968). Auch wenn sich McLuhans Visionen von den Auswirkungen elektrischer Medien – allen voran des Fernsehens – und von der Entwicklung des elektronischen Menschen (vgl. McLuhan/Powers 1995: 130ff) auch aus heutiger Sicht nicht vollkommen erfüllt haben, so ist doch hervorzuheben, dass er die Mobilität von Informationen mit der (virtuellen) Mobilität des Menschen zusammenbringt. Die zunehmende Mediatisierung des alltäglichen Handelns (vgl. Krotz 2001a, 2007) und somit auch die Verbreitung von Medien an öffentlichen Plätzen (vgl. Höflich 2005a; Katz 2004; Ling 2002) führt dazu, dass physische Mobilität im Raum immer häufiger auch mit elektronischer Mobilität zusammentrifft. In Bezug auf Mobilitätserfahrung in Städten sehen etwa Adey/Bevan dieses Zusammenwirken folgendermaßen:

„It is becoming inevitable that physical transport trough the city will also affect or be affected by a virtual movement. As the virtual becomes increasingly interwoven in space, it seems ever more likely that this trend will continue.” (dies. 2006: 56)

So wird in immer mehr Fällen räumliche Mobilität von virtueller Mobilität durch Medien begleitet. Aber auch solche Formen der Mobilität sind nicht vollkommen raumlos. Der Gedanke des Raumbezuges und der Begrenzung findet sich auch im Virtuellen wieder, wie Schroer hinsichtlich der Diskussion um eine „grenzenlose Gesellschaft“ (ders. 2003: 218) anführt:

 „Übersehen wird in einer solchen Perspektive jedoch nicht nur, dass es im Cyberspace zur Errichtung zahlreicher neuer Grenzen kommt, sondern auch, dass sich dieser scheinbar grenzenlose Raum durch die Installierung einer Grenze konstituiert: der Grenze zwischen virtuell und real.“ (ebd.) 

Anders als virtuelle Mobilität lässt sich physische Mobilität an ihren lokalen Begrenzungen festmachen. In raum-zeitlichen Handlungsmodellen wird der Alltag von Menschen anhand der räumlichen Strukturen und des Wechsels zwischen ihnen nachgezeichnet. Die Gestaltung des Alltagshandelns wird hierbei mit den Vorgaben räumlicher Strukturen begründet (vgl. Barker 1968; Chapin 1974). Einen Perspektivwechsel von äußeren Kategorien hin zu einer Perspektive auf den Handelnden selbst vollzieht hingegen Weilenmann, wenn sie in Abgrenzung zu bisherigen Kategorien von Mobilität und in Anlehnung an die Gender-Studies ihren Ansatz des Doing Mobility (dies. 2003) entwickelt: „It is time to move from these categories of mobility, and instead ask what is relevant for the participants“ (ebd.: 31). Diese „Teilnehmer“ sind Personen, die in unterschiedlichen Formen Tag für Tag mobil sind und die so Mobilität in ständiger Interaktion mit anderen sozial aushandeln.

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Mobilität ist also eine Größe, die in Beziehung zu räumlichen, sozialen und medialen Prozessen steht, sich aber nicht auf einen dieser Bereiche beschränken lässt. Auch besteht Mobilität weder durch eine externe Strukturierung des Alltages ausschließlich außerhalb des Individuums (vgl. Franz 1984; Wahl 2005). Zu sehr ist sie geprägt von fortwährenden sozialen Abstimmungen (vgl. Weilenmann 2003). Noch lässt sich bei aller Betonung sozialer Konstitution von Mobilität die strukturierende Wirkung der räumlichen Vorgaben leugnen. Im Sinne Giddens´ Theorie der Strukturierung sehe ich Mobilität im Alltag vielmehr als Resultat gegenseitiger Strukturierung zwischen raum-zeitlichen Vorgaben und individueller Ausgestaltung (vgl. ders. 1992). Löw fasst diese Beziehung folgendermaßen zusammen:

„Vieles deutet darauf hin – so lässt sich Urry zustimmen – dass Räume nicht nur körperlich erfahren werden, sondern auch auf die Körper zurückwirken, dass Räume also in diesem Sinne nicht nur Produkt des Handelns sind, sondern auch als Institutionen Handeln strukturieren.“ (dies. 2007: 62) 

Physischer Raum ist durch das Handeln von Personen dabei immer auch sozialer Raum (vgl. Franz 1984; Löw 2007). Der Versuch sozialen Raum und physischen Raum voneinander zu trennen, kann daher nur ein analytisches Unterfangen sein, wie Bourdieu anführt:

„Der physische Raum läßt sich nur anhand einer Abstraktion […] denken, das heißt unter willentlicher Absehung von allem, was darauf zurückzuführen ist, daß er ein bewohnter Raum ist, das heißt eine soziale Konstruktion und eine Projektion des sozialen Raumes.“ (ders. 1991: 28)

Diese Perspektive ermöglicht eine Betrachtung im Sinne der gegenseitigen Strukturierung, wie sie Giddens beschreibt: Auf der einen Seite steht die handelnde Person mit ihrem Bick auf das Alltagsgeschehen: „Alle Menschen sind bewußt handelnde Subjekte. Das bedeutet, alle sozialen Akteure wissen sehr viel über die Bedingungen dessen, was sie in ihrem Alltagsleben tun“ (Giddens 1992: 335). So können sie „normalerweise diskursiv beschreiben, was sie tun und aus welchen Gründen sie das tun“ (Giddens 1992: 335). Zum anderen entziehen sich dem Handelnden gewisse Strukturen, die aber gleichwohl sein Handeln prägen: „Das Bewußtsein menschlicher Akteure ist immer begrenzt, zum einen durch das Unbewußte, zum anderen durch uneingestandene Bedingungen und unbeabsichtigte Folgen des Handelns“ (Giddens 1992: 335f). Das alltägliche Unterwegssein steht also zwischen den sich bedingenden raum-zeitlichen Strukturen und individuellen Handlungen. Als Teil internalisierter Alltagshandlungen (vgl. beispielhaft Berger/Luckmann 2007: 139ff) sind diese Bezüge dem Handelnden nicht immer bewusst.4

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So wie Raum und Handeln sich gegenseitig prägen (vgl. Löw 2007; Giddens 1992), Sozialisation als Wechselspiel zwischen Individuen und Gesellschaft funktioniert (vgl. Berger/Luckmann 2007) und Mediennutzung individuelles Handeln ebenso prägen kann, wie von ihm geprägt zu werden (vgl. Krotz 2007; Ling 2004), so ist davon auszugehen, dass auch Mobilität, die alle diese Bereiche betrifft, Teil eines ständigen Aushandlungsprozesses ist.

2.2. Alltag und Alltagshandeln

„Mein Alltag? Der ist doch langweilig, da passiert doch nichts“

Karin5 nippt an ihrem Ananas-Saft und lehnt sich zurück. „Das soll jetzt also spannend gewesen sein? Das war doch ein Tag wie jeder andere“ (Karin (35)/Beob. III). Wir sitzen abends in einem Café. Hinter uns liegen über zehn Stunden, die ich Karin durch ihren Alltag begleitet habe. Während sie immer noch verwundert darüber ist, was an ihrem Alltag überhaupt spannend sein könnte, blicke ich auf einen mit Notizen gefüllten Block. Meine Aufzeichnungen beschreiben eine Vielzahl von Interaktions- und Kommunikationsmomenten: Das Verbinden von mobilen mit lokalen Handlungen, das alltägliche Aushandeln und Koordinieren mittels Medien sowie die Einbindung in Netzwerke. Für Karin war es ein Tag wie viele. Für mich war es der tiefgehende Einblick in den Alltag einer Person, so dicht und umfassend, wie er normalerweise für einen Außenstehenden nicht möglich wäre. Karins Anmerkung ist beispielhaft für die Verwunderung der Teilnehmer darüber, warum sich jemand für den Alltag anderer interessieren sollte. Der eigene Alltag sei doch ganz normal, unspektakulär, sicher uninteressant für einen Fremden habe ich oft gehört. Dies ist nicht ganz verwunderlich, denn Alltag als normale „Sphäre des natürlichen, spontanen, unreflektierten, wahren Erlebens“ der Handelnden steht dem Besonderen einer wissenschaftlichen Betrachtung, wie Elias anführt, also dem Nicht-Alltag des „reflektierten, künstlichen, unspontanen, besonders auch des wissenschaftlichen Erlebens“ gegenüber (vgl. ders. 1978: 26).

Soviel vorweg: Oberflächlich betrachtet erscheint der Alltag der untersuchten Personen als eine ganz „normale“, selbstverständliche Angelegenheit, die Tag für Tag abläuft. Begibt man sich jedoch in den Alltag selbst und geht tiefer, wird deutlich, wie sehr dieser durch vielfältige und komplexe Arrangements in Gange gehalten wird. Die Rolle von Medien bei der Alltagsgestaltung – etwa bei dem Verbinden unterschiedlicher Phasen des Tages – wurde so offensichtlich. Dem Normalen, verlässlichen, Gewohnten stand dabei eine grundsätzliche Dynamik, mit der sich alltägliches Handeln vollzog, gegenüber. Grossberg fasst diese Ambivalenz des Alltäglichen folgendermaßen zusammen: „Alltäglichkeit verweist auf die Banalität des alltäglichen Lebens, auf die Tatsache, dass »nichts passiert und alles sich verändert«“ (ders. 2003: 105).

Alltag als Handlungs- und Forschungsrahmen

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Alltägliches Handeln ist unmittelbares und gewöhnliches Handeln. Es ist für den handelnden Menschen normal, routiniert und entzieht sich daher oft genug einer bewussten Auseinandersetzung. (vgl. beispielhaft Alheit 1985; Gebhardt 2008: 133ff; Voß/Holly/Boehnke 2000; Wagner 1994: 51f) Verinnerlichte Handlungsmuster ersparen dabei ein permanentes erneutes Aushandeln von Verhaltensweisen (vgl. Berger/Luckmann 2007: 136ff). Routiniertes Alltagshandeln wird so ermöglicht, da es für den Handelnden gewissermaßen einfach passiert. Und dennoch ist es so bedeutungsgeladen. Denn mit alltäglichen Aushandlungen meistern Menschen eine gewaltige Aufgabe: Ihren Tagesablauf zu organisieren. Hierzu müssen sie in unterschiedlichen Situationen Arrangements mit räumlichen und sozialen Gegebenheiten treffen und sich mit anderen Personen abstimmen. Es kann daher angenommen werden, dass eine stärkere Mobilisierung und Flexibilisierung des Alltagsflusses und somit eine Zunahme neuer Aushandlungssituationen solch eine routinierte Bewältigung des Alltagshandelns erschwert.

Alltag als Rahmen komplexer Aushandlungen ist dabei in das Interesse der wissenschaftlichen Untersuchung gerückt. Die handelnde Person wurde verstärkt zum Gegenstand der Betrachtung. Moscovici schreibt hierzu: „Der Alltagsmensch auf der Straße ist zum unfreiwilligen Helden aller theoretischen Machenschaften geworden, die in den Wissenschaften vom Menschen angestiftet werden“ (ders. 1994: 7). Die Konsequenz dieses wissenschaftlichen Perspektivwechsels von dem „Massenmenschen“ zu dem Menschen im Alltag ist, dass „alles, was vertraut, routinenhaft und gemeinsam erscheint, einen erstrangigen Platz inmitten der Dinge eingenommen [hat, GFK], die man minutiös verstehen will“ (ebd.). Ganz neu ist dieser Trend dagegen nicht: Alheit spricht bereits 1985 von einer „sozialwissenschaftlichen »Mode«“, sich auf die Betrachtung des Alltäglichen zu konzentrieren (vgl. ebd.: 45ff).

Voß nennt den Versuch, Alltag definitorisch zu fassen, die „Annäherung an eine diffuse Kategorie“ (ders. 2000). Er betont insbesondere, dass sich Alltag durch das Normale im Unterschied zum Besonderen auszeichnet (ebd.: 48). Dieser Gedanke folgt Elias (1978), der für die Definition von Alltag den Weg der Abgrenzung von jeweils anderen Bereichen wählt. Hierzu stellt er Gegensatzpaaren zusammen, die er folgendermaßen beschreibt:

„Die Liste, die folgt, gibt […] einen vorläufigen Hinweis auf den jeweils implizierten Nicht-Alltag. Ohne diesen Gegenbegriff kann man im Grunde nie recht verstehen, vorauf sich die jeweiligen Darstellungen über »Alltag« oder gegebenenfalls auch »Alltagsbewußtsein« und »Alltagskultur« beziehen.“ (ebd.: 25; s. auch Kirchhöfer 2000: 17)

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Wesentliche Punkte dieser definitorischen Aufstellung sind:6

Abb. 1: Abgrenzung des Alltagsbegriffes. Eigene Darstellung nach Elias (1978): 26

Die Notwendigkeit einer Abgrenzung sieht Elias alleine schon deshalb, weil die jeweilige Bedeutung von Alltag und alltäglichem Handeln nur in der Gegenüberstellung mit dem Nicht-Alltäglichen deutlich wird. Denn „ohne ein einigermaßen klares Bild dieses implizierten, manchmal gelobten, manchmal gehassten Nicht-Alltags kann man eigentlich nie recht verstehen, in welchem Sinne der Alltagsbegriff gebraucht wird“ (Elias 1978: 27). Auf Alltag als das Routinierte, somit Gewöhnliche und Alltag als direkter Erfahrungsbereich des Handelns werde ich nun genauer eingehen. 

Alltag als der normale, verlässliche Ereignis- und Erfahrungsrahmen

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In dem Alltag der Menschen spielt sich ihr Handeln ab; er ist der direkte, unmittelbare Kontext des Lebens. Ich beziehe mich hier auf einen Alltagsbegriff, den Voß/Holly/Boehnke (2000) im Rahmen des Forschungsprogrammes „Neue Medien im Alltag“ hergeleitet haben. Insbesondere folge ich der Ansicht, das Alltägliche grundsätzlich als das Normale „in Absetzung zu außergewöhnlichen und überhöhten Handlungen“ (Voß 2000: 33) zu betrachten, wie dies auch in der Darstellung von Elias deutlich wurde. Im Alltag kann das Besondere gerade im Normalen des menschlichen Handelns entdeckt werden, denn „die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt, nicht im Goetheanum“ (Joseph Beuys. In: Brügge 1984: 179). Als weiteren wesentlichen Aspekt schließe ich die Annahme mit ein, dass der Handelnde trotz gegebener Strukturen aktiven Einfluss auf die Gestaltung seines Alltages nimmt und so zumindest Anteil daran hat „in welcher Weise Vorgaben im komplexen Rahmen des Alltages eingebettet werden“ (Voß 2000: 48). 

Der Alltag ist somit das, was eine Person in ihrem Handeln normalerweise umgibt. Dies legt eine phänomenologische Perspektive nahe, da hier das alltägliche Handeln und die alltägliche Lebenswelt zentral sind. Phänomenologischen Betrachtungen folgend (vgl. Schütz 1932; Schütz/Parsons 1977; Gebhardt 2008), bilden der Handelnde und seine Perspektive auf das alltägliche Handeln den Ausgangspunkt der Untersuchung. Denn „im Zentrum der Schütz´schen Analysen steht die subjektive Handlungsperspektive der Akteure bzw. der subjektive Sinn, den die Akteure mit ihrem Handeln verbinden“ (Gebhardt 2008: 97). Der Alltag – also die „gesamte Wirklichkeit des Alltagslebens“ – wurde als „vornehmliche Realität“ betrachtet (vgl. Schütz/Luckmann 1975: 25). Auf die phänomenologische Perspektive von Schütz gestützt, definiert Hepp so die alltägliche Lebenswelt als „den lokalen Lebenszusammenhang eines Menschen“ (ders. 2008: 80) und führt als Besonderheiten dieses Kontextes an, „dass er intersubjektiv ist, bis auf weiteres als unproblematisch angenommen wird sowie der Bereich der primären Wirklichkeitserfahrung als auch des Alltagshandelns ist“ (ebd.). Wie in der Beschreibung des methodischen Vorgehens vertieft werden wird (vgl. Kapitel 5), war das Miterleben dieser alltäglichen Lebenswelt der zentrale Zugang zum Feld und das Nachvollziehen der subjektiven Perspektive ein weiteres wesentliches Element meiner Studie.

Alltag ist also der Wirklichkeitsbereich, „den der wache und normale Erwachsene als schlicht gegeben vorfindet“ (Schütz/Luckmann 1975: 25). Dass Alltag als selbstverständlich und somit verlässlich empfunden werden kann, liegt in wiederkehrenden Ereignissen und Handlungen begründet: „Unser Leben ist rund um die Wiederholung von ähnlichen Verhaltensmustern organisiert – von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und sogar von Jahr zu Jahr“ (Giddens 1995a: 101).

▼ 17 

Hinsichtlich der Untersuchung medialer Entwicklungen im Alltag betont auch Voß den Stellenwert des Normalen und Routinierten, der Alltag ausmacht:

„Das Thema der Neuen Medien im »Alltag« zielt damit auf das gewöhnliche und werktägliche Handeln im Umgang mit Medien, die eher unbedeutsamen und gewohnheitsförmigen Tätigkeiten, den mit eher reduzierter Bewußtheit betriebenen Alltagstrott, das pragmatisch konkrete Einerlei des tagtäglichen Tuns.“ (ders. 2000: 48)

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Alltag ist also oft genug der „Normalarbeitstag“ Kramer (2004: 33). Alltagshandeln besteht aus den täglichen Routinen, die damit einhergehen. Das alltägliche Handeln ist tief in dem Vertrauen der Handelnden in das Normale, Wiederkehrende begründet. Solch eine „»ontologische Sicherheit« bezieht sich auf das Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenen sozialen und materiellen Handlungswelt“ (Giddens 1995b: 118). 

Alltagstrott oder individuelle Kreativität des Handelns?

Diese regelmäßige, routinierte Wiederkehr im Alltag bedeutet jedoch nicht, dass jeder Tag nahezu gleich abläuft. Das Gerüst alltäglicher Routinen lässt durchaus großen Raum für Variationen im Sinne individueller Entfaltung

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„Der praktische Vollzug der Lebenstätigkeiten erzeugt eine gewisse Regelmäßigkeit und Zyklizität, die als subjektive Ordnung erscheinen und durch das Subjekt hervorgebracht werden. […] Der Alltag beinhaltet jedoch nicht nur dieses Stabilitätspotential, sondern enthält auch ein schöpferisches Moment der Unruhe.“ (Kirchhöfer 2000: 27, Hervorhebung im Original)

Das Geordnete, Strukturierte, Wiederkehrende, das Alltag ausmacht, ist in den einzelnen Aushandlungen durchaus dynamisch. So betont Kirchhöfer wie auch Voß (2000: 48) das individuelle, kreative Handeln im Alltag:

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„Die alltäglichen Lebenstätigkeiten sind eine aktive Gestaltungsleistung des Subjekts, das seine Ideen, Wünsche und Werte in materiellen und geistigen […] Verhältnissen entäußert und vergegenständlicht, und dabei entscheidet, koordiniert und intentionale Zusammenhänge bildet und realisiert.“ (Kirchhöfer 2000: 27f, Hervorhebung im Original).

Demgegenüber lässt er äußere Strukturen nicht außer Acht, betont jedoch zugleich auch hier die subjektive Begründung: „Einmal durch das subjektive Handeln hervorgebracht, wirken die Verhältnisse des Alltags als objektive Gegebenheiten, die das Individuum, wenn es erfolgreich handeln will, berücksichtigen muss“ (ebd.: 28, Hervorhebung im Original). Vor diesem Hintergrund bezieht er sich explizit auf die subjektive Hervorbringung und objektive Rückwirkung der Medienaneignung und Mediennutzung:

▼ 21 

„Solche objektiven Verhältnisse stellen nicht nur die technischen Gegebenheiten oder die Zeitorganisation dar, sondern auch die Regeln der alltäglichen Kommunikation, die Verhaltensstile des Umgangs mit den Medien oder die gemeinschaftlichen Wertzuordnungen.“ (ebd.) 

Barker (1968) hat den Versuch unternommen, die auch von ihm nicht bestrittene individuelle Kreativität des Alltagshandelns mit der Beständigkeit der Alltagsgestaltung in Einklang zu bringen. Sein Konzept der Behavior Settings beruht darauf, die durch Individualität hervorgerufene Komplexität alltäglichen Handelns durch eine Hervorhebung des Inter- beziehungsweise Überindividuellen zu reduzieren (vgl. Barker 1968: 5). Hierdurch wird in seinem Ansatz und dessen Weiterentwicklungen die Strukturiertheit des alltäglichen Handelns besonders betont. Solche raum-zeitlichen Gliederungen des Alltagshandelns eignen sich für eine analytische Einordnung von Alltagshandeln. So führt Kaminski an: „»Behavior Setting« steht für »Ordnung im Alltagsgeschehen«“ (ders. 1986a: 9). Dass solche Strukturen Ergebnis individuellen Handelns sein können und als objektive Strukturen auf das Handeln zurückwirken, wie dies Kirchhöfer beschrieben hat, zeigt erneut die Aussagekraft der Theorie der Strukturierung nach Giddens (1992). Nicht nur mobiles Handeln im Speziellen, sondern Alltagshandeln im Allgemeinen erscheint so als Aushandlungsprozess zwischen individueller Kreativität und leitenden Strukturen. Zwei weitere methodische Konsequenzen können hieraus abgeleitet werden: Die Forderung nach einer dichten Handlungsbeobachtung und nach einer flexiblen und offenen Methode, um die Spontanität und Kreativität des Handelns innerhalb der stabilen Alltagsstrukturen erfassen zu können.

2.3. Mobilität des Alltagsmenschen

Wie sieht nun ein mobiler Alltag für den Handelnden aus? Grundsätzlich sind Menschen häufiger und länger jeden Tag unterwegs als früher. Sie müssen daher in zunehmendem Maße Mobilität in ihre Alltagsgestaltung einbinden (vgl. Kramer 2004, 2005; BMVBS 2010). Während sich Mobilität und hierbei insbesondere hohe räumliche Mobilität lange Zeit als eine außergewöhnliche Anforderung ausnahm (vgl. Traeger 2005), ist heutzutage häufige und ausgedehnte Mobilität alltäglich (vgl. BMVBS 2009, 2010; vgl. auch Kapitel 4).

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Negative Assoziationen, zumindest aber eine gewisse Skepsis begleiten diese zunehmende Mobilität in unserem Alltag. Der gehetzte, immer erreichbare Mensch findet sich in der wissenschaftlichen Betrachtung wieder. Gesundheitliche und psychische Folgen werden dem gesteigerten Mobilisierungsdrang und -zwang zugeschrieben (vgl. Ducki 2010: 61ff; Schneider 2005: 118f). Stehen wir also am Rande dessen, was Sennett (1998a) in seiner Kapitalismuskritik oder Simmel (1903) in der Betrachtung der modernen Stadt als die Auflösung der Persönlichkeit durch geforderte Mobilität und Flexibilität sehen? Werden Mitglieder einer mobilen Gesellschaft zum „völlig freigesetzte[n] Individuum“, das „sich nicht mehr zur stabilen Persönlichkeit entwickeln“ kann (Bonß/Kesselring 1999)? Dem gegenüber steht das positive Bild des modernen Nomaden. Unabhängig und frei. Virtuos in der Lage, sich die medialen Angebote für seine kommunikativen Bedürfnisse zunutze zu machen. Souverän im Umgang mit den sich verändernden Anforderungen und Netzwerken im Alltag. (vgl. Triebel 2010) 

Ist dieser die Antwort auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen? Oder handelt es sich in beiden Fällen (noch) um zugespitzte gesellschaftliche Randerscheinungen, wenn von dem losgelösten, völlig mobilen Alltagsmenschen die Rede ist? Bei der Betrachtung täglicher Wege stellt etwa Kramer fest:

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„Auf dem Weg zur »Non-Stop-Gesellschaft« befindet sich die bundesdeutsche Gesellschaft nach diesen Ergebnissen7 nicht, denn nach wie vor ist das »Normalarbeitsverhältnis« für eine Mehrheit von Befragten für ihren Alltagsablauf bestimmend. Um diese im Tagesverlauf fixierte Zeit, die wie ein Pflock den Tag bestimmt […], werden die anderen Aktivitäten »herum arrangiert«, so dass klare tageszeitliche Rhythmen entstehen.“ (dies. 2004: 33)

Der ständig mobile „Weltbürger“ (Zschocke 2005: 31f), der sein Leben in Hotels, auf Flughäfen, im Zug und in immer anderen Städten verbringt „und überall ein Zuhause findet“ (ebd.; vgl. auch Vonderau 2005), ist demnach nicht der Normalfall in unserer Gesellschaft. Auch Sennett bezieht sich in seinen Ausführungen zur Mobilisierung auf eine sehr spezifische Gruppe – die junger, gut ausgebildeter Amerikaner –, wenn er von der Flexibilisierung des Arbeitslebens spricht und schließlich „the corrosion of character“ annimmt (vgl. ders. 1998a). 

Und auch wenn der moderne, mobile und immer flexible Mensch medial präsent, zuweilen dominant ist, bedeutet dies nicht, dass solch eine losgelöste Lebensweise alltäglich ist. Vielmehr argumentiert Lünenborg mit Blick auf das in den Medien entwickelte Bild von Alltag:

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„Journalismus und Alltag: Das macht – so muss man geradezu reflexhaft antworten – einen Widerspruch in sich aus. Journalismus berichtet über das Außergewöhnliche, die Veränderung, das Neue, das Bemerkens- und Berichtenswerte“ (dies. 2010: 139).

Das Bild außeralltäglicher Handlungen, in diesem Fall besonderer, hoher Mobilität zu zeigen, ist so auch ein ökonomisch erfolgreiches Konzept. Die Beliebtheit von Formaten wie „Goodbye Deutschland! Die Auswanderer“, „Mein neues Leben – XXL“ oder „Auf und davon – Mein Auslandstagebuch“ weisen darauf hin (vgl. Marxer 2010).8

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So wie Alltag als der normale, wiederkehrende und verlässliche Rahmen des Handelns gesehen wird, ist auch der Alltagsmensch eine normale und somit nicht herausragende Person (vgl. Voß 2000: 48). Die oft bemühte Metapher des internationalen Arbeitsnomaden (vgl. Zschocke 2005; Triebel 2010) mag zwar immer öfter zutreffen. Jedoch bleibt der Wechsel in ein anderes Land aus beruflichen Gründen auch weiterhin die Ausnahme9:

„Es ist bei weitem nicht so, dass ein Großteil der Bevölkerung als Jobnomaden um den Globus reisen würde. 80 Prozent der Europäer leben heute nur etwa 30 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sie geboren wurden. 1,5 Prozent der Europäer siedeln zeitweilig in ein anderes europäisches Land über. Nur etwa ein Drittel dieses ohnehin kleinen Anteils wechselt berufsbedingt das Wohnland.“ (Triebel 2010: 48; vgl. auch Moores 2006: 193)

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Daher habe ich mich in dieser Studie auf Teilnehmer konzentriert, die einen solchen „gewöhnlichen“ Alltag bestreiten, wie ihn Kramer (2004), Voß/Holly/Boehnke (2000) oder Triebel (2010) beschreiben (vgl. Kapitel 5.3). Dass diese Festlegung immer noch eine große Bandbreite unterschiedlicher Alltagsgestaltungen in Bezug auf Mobilität zuließ, zeigte sich in der Feldforschung (vgl. Kapitel 7).


Fußnoten und Endnoten

4  Dies berücksichtigend wurde im methodischen Vorgehen sowohl eine subjektive, als auch eine objektive Forschungsperspektive einbezogen, wie später vertiefend erläutert wird (vgl. Kapitel 4.7 und 5).

5  Ich verwende hier und im Folgenden die zur Anonymisierung geänderten Namen der Teilnehmer meiner Studie.

6  Für weitere Punkte dieser „alles andere als vollständig[en]“ Liste s. Elias (1978): 26.

7  Kramer bezieht sich hier auf die Zeitbudgetdaten des Statistischen Bundesamtes (vgl. Destatis 2004).

8  Röser/Thomas/Peil (2010a) zeigen jedoch auch, dass die Darstellung alltäglichen Geschehens ebenso einen festen Platz im Medienangebot hat und zunehmend auch in den Kommunikationswissenschaften berücksichtigt wird.

9  Reusch spricht, sich auf eine repräsentative Umfrage des BAT-Freizeitforschung-Instituts stützend, gar von dem „Mythos Jobnomade“ (ders. 2003: 33f).



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26.05.2011