Einleitung

Das Angermuseum in Erfurt befindet sich historisch betrachtet an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Sammlungen liegen in den Depots oder sind an anderen Orten sicher verwahrt, die ständige Ausstellung ist geschlossen; Sonderausstellungen finden ebenfalls kaum statt. Das Museum wird gegenwärtig umgebaut und soll in absehbarer Zeit durch ein neues architektonisches Konzept überzeugen und das Publikum in seinen Bann ziehen. Grund und vor allem Gelegenheit genug, sich erneut mit der kunsthistorischen Identität des Hauses zu beschäftigen.1

Die vorliegende Arbeit soll als rezeptionsästhetische Grundlagenforschung gelesen werden und stellt einen Beitrag zur seit einigen Jahren verstärkt geführten Diskussion innerhalb der Museen dar, auch die eigene mittelbare Ausstellungsgeschichte als kunsthistorisch relevanten Fakt zu begreifen. Bernd Lindner weist in seiner Habilitationsschrift (1998) über die „Janusköpfigkeit des Anfangs“ nach 1945 besonders darauf hin, dass die Ausstellungstätigkeit dieser Jahre noch nicht genügend ausgewertet wurde, da die meisten Arbeiten, die sich mit rezeptionshistorischen oder ästhetischen Phänomenen in der SBZ/DDR2 beschäftigen, zumeist nur Überblickscharakter haben.3 Eine Beschäftigung mit der zeitgenössischen Kunstszene ist daher gerade auch im regionalen Kontext sinnvoll.

Lindner stellt in seiner Arbeit über den Neuanfang innerhalb der bildenden Kunst im Osten Deutschlands nach 1945 folgende Thesen auf: Bei den eher regional betonten Ausstellungen seien die Schauen mit Überblickscharakter dominant. Ein weiterer Schwerpunkt liege in der Verbundenheit mit der so genannten „Kunst des nationalen Erbes“. Ausstellungen, die sich einem dieser Themen widmeten, seien vom Publikum durch eine starke Präsenz belohnt worden, während Sonderschauen mit offensichtlich stark politischer Ausrichtung in der Besuchergunst eher weniger Beachtung fanden. Diese Argumente als Grundlage nehmend, soll im Verlauf dieser Arbeit die Praxis der Sonderausstellungen am Angermuseum von 1945 bis 1962 untersucht werden.

Diese Präsentationen sind aus weiteren Gründen von besonderem Interesse. Ihrem ephemeren Charakter gemäß wechselten die Sonderausstellungen durchschnittlich alle vier Wochen. Herbert Kunze, langjähriger Direktor des Angermuseums, konnte sich nach 1945 auf die beständige Tradition berufen, der regionalen Kunst der Gegenwart einen Ort geben zu wollen, wie sie durch seine Amtsvorgänger Edwin Redslob und Walter Kaesbach bereits kultiviert worden war und die ebenfalls Kunzes Arbeitsstil vor dem Krieg prägte. Diese Wechselausstellungen geben Aufschluss über Künstler, Kunsthandwerker und die Präsentation ihrer Arbeiten unter der kritischen Aufmerksamkeit eines Publikums, das mit seinen verschiedenen Interessen nur schwer in der homogenen Begriffseinheit ‚Rezipient‘ zu umschreiben ist. Sie wurden außerdem in ihrer Gesamtheit noch nicht publiziert. Mit der vorliegenden Arbeit wird die Ausstellungstätigkeit des Angermuseums nach 1945 erstmals dokumentiert. Eine derartige Zusammenstellung ist für die historische Identität eines musealen Ortes ebenso notwendig wie für einen wissenschaftlichen Vergleich mit anderen Häusern, die sich in ähnlicher Weise der Gegenwartskunst widmeten. Der zeitliche Rahmen der vorliegenden Untersuchung ergibt sich aus der Amtszeit des Museumsdirektors Herbert Kunze, dessen nicht ganz freiwilliges Ausscheiden aus dem Dienst im Frühjahr 1963 eine entscheidende Zäsur in der Geschichte des Hauses darstellt. Für viele Künstler dieser Zeit stellte das Angermuseum eine Institution dar, die nicht zuletzt durch die herausragende Persönlichkeit seines Direktors geprägt wurde.

Nach einer kurzen historischen Einführung folgt ein ideengeschichtlicher Exkurs, der die Museumsdirektoren als Akteure mit ihren Konzepten vorstellt und Herbert Kunze in die Tradition des Hauses einordnet. Im Verlauf der Untersuchung werden die Sonderausstellungen mit den dazu gehörenden Rezensionen und kritischen Artikeln der Printmedien im zeitlichen Kontext dokumentiert. Von besonderem Interesse sind dabei Kunzes Auseinandersetzungen um einen toleranten Umgang mit sämtlichen künstlerischen Ausdrucksvarianten. Dem ephemeren Charakter dieser Sonderausstellungen geschuldet, verbunden mit der Tatsache, dass zumeist keine Kataloge publiziert wurden, lässt sich über die jeweilige Hängung der Kunstwerke – nach Chronologie oder Thema – nur spekulieren. Aus diesem Grund liegt die Aufmerksamkeit der Untersuchung auf der Dokumentation der einzelnen Sonderausstellungen im Rahmen des angegebenen Zeitraums.

Über das Problem der Objektivität in der Historie und den angrenzenden Wissenschaften wurde aus Sicht der Postmoderne ausführlich diskutiert.4 Weil die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR aus heutiger, noch immer zeitnaher Sicht, Gefahr läuft in jeglicher Hinsicht der Identitätsbildung zu dienen, ein Umstand der sich in persönlichen Gesprächen mit Zeitzeugen tatsächlich bestätigte, wurde in der Arbeit auf die Methode der „Oral History“ bewusst verzichtet.

Da ein baulich verändertes Museum von seinen Mitarbeitern auch einen erweiterten oder veränderten Entwurf zum konzeptionellen Selbstverständnis des Hauses erfordert, ist die Rückbesinnung auf den 1945 vollzogenen Neubeginn hilfreich. Nicht nur die verschiedenen Sammlungen, sondern gerade die Auseinandersetzungen mit der lebendigen, schöpferischen Tätigkeit von Künstlern als Antwort auf die unmittelbaren Belange der Gegenwart, rechtfertigt in besonderem Maße die Notwendigkeit von Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, wie sie nicht zuletzt durch die vorliegende Arbeit dokumentiert, am Angermuseum eine lange Tradition haben.

„Die Frage lautet also nicht, ob es Museen zeitgenössischer Kunst geben soll, sondern liegt eher darin, ob dafür die herkömmliche Museumsform und ihre Aufgabe kunstgeschichtlicher Repräsentation noch geeignet sind.“ (Belting 2002, S. 115)

Sich der Tradition zu erinnern, die kunsthistorischen Schätze verschiedener Sammlungen des Angermuseums zu nutzen und sie in Kombination mit wechselnden Sonderausstellungen zeitgenössischer Künstler zu zeigen, könnte mit der Chance verbunden sein, die Aufmerksamkeit des Publikums erneut auf das Museum zu lenken, um neue Rezipienten zu gewinnen.


Fußnoten und Endnoten

1  Stand: August 2008

2  SBZ, Sowjetische Besatzungszone.

3  Vgl. dazu Börner 1998, Dollichon 1992.

4  Vgl. dazu Lyotard 1979, Lübbe 1977, Lorenz 1997, Erll / Nünning 2004. Auch die Kunsthistoriker haben auf einem Internationalen Symposium anlässlich des Bestehens des Faches Kunstgeschichte an der Universität Wien, im Oktober 2002, dazu Stellung bezogen und auf das Problem der „subjektiven Geschichtskonstruktion“ hingewiesen. Vgl. dazu Kunstchronik 2/03, S. 53 ff.



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28.01.2009