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Hans-Wolfgang Schaller

Kultur und Literatur in Amerika

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt "Amerika - fremder Freund", 01.07.2003

Erfurt 2003

I Einleitung: Aussagen zur amerikanischen Kultur

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 18.6.2003 zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an die amerikanische Romanschriftstellerin, Kulturkritikern und Publizistin Susan Sonntag führt die Autorin des Artikels Kristina Maidt-Zinke zwei Äußerungen Sonntags an, in denen sie sich auf die amerikanische Kultur bezieht. Die erste ist ein direktes Zitat: "Nach dem Sieg der Ideologie des Konsums leben wir jetzt in einem Zeitalter des kapitalistischen Triumphalismus, in dem das eigensüchtige Handeln in einem bisher ungeahnten Ausmaß den meisten Leuten völlig akzeptabel, selbstverständlich und vernünftig erscheint."

Die zweite Äußerung ist eine Paraphrase: "Das Amerikanischste an ihr, hat sie einmal gesagt, sei ihr Ehrgeiz, sich selbst ständig neu zu erfinden."

Neben der Kritik an den materialistischen Auswüchsen der modernen Massengesellschaft steht also, als Zug der amerikanischen Kultur ausdrücklich ausgewiesen, der ebenfalls eigensüchtige Anspruch, sich ständig neu erfinden zu dürfen. Die Zeitung kommentiert ergänzend, wenn auch nicht logisch zwingend: "In der scheinbar unbegrenzten Möglichkeit zum Aufbrechen erstarrter Denk- und Lebensgewohnheiten lag seit Goethes Zeiten die Anziehungskraft des amerikanischen Kontinents für die europäische Geisteselite."

Und noch eine amerikanische Aussage zur amerikanischen Kultur, diesmal aus dem 18. Jahrhundert: Der Literatur- und Kulturwissenschaftler am John F. Kennedy- Institut der Freien Universität Berlin, Winfried Fluck, zitiert in einem Diskussionspapier zum SS 2003 einen Brief, den der spätere zweite Präsident der USA, John Adams, 1780 aus Paris schrieb: "Es sind nicht die Schönen Künste, die unser Land braucht; es sind die nützlichen, praktischen Künste, an denen in einem Land Bedarf besteht, das noch einfach und ohne großen Luxus ist. (...) Ich muß Politik und Kunst des Kriegführens studieren, um meinen Söhnen die Möglichkeit zu geben, Mathematik und Philosophie, Geographie, Naturgeschichte, Schiffsbau, Schiffsnavigation, Handel und Landwirtschaft zu studieren, damit deren Kinder Malerei, Poesie, Musik, Architektur, Bildhauerei, Webkunst und Porzellan studieren können." 1)

Bei Adams taucht also umrissartig schon ein auf Amerika bezogener Kulturbegriff auf, der seine theoretische Fundierung in der Aufklärungsphilosophie der schottischen ‚common sense'-Philosophen  2) erfahren hat und dann in der Romantik seine volle Ausprägung erhielt. Die gesellschaftliche Ordnung und die Kultur einer Gesellschaft hängt von ihrer materiellen Basis ab und diese entwickelt sich progressiv von Stufe zu Stufe steigend in die Zukunft hinein immer höher und sichert somit praktisch den jeweiligen kulturellen Entwicklungsstand einer Nation ab.

Der europäische organische Kulturbegriff, der die Gesellschaft als Ganzes umfasst, bricht jedoch in Amerika auseinander. Die Sicherung der materiellen Basis nach dem Motto ‚first things first' ist als Sicherung der Lebensgrundlage unbedingt nötig, und erst darauf folgt die Etablierung von Kultur im Sinne von ‚schönen Künsten'. Die politische Abnabelung der USA von Europa auf der Basis der aufklärerischen Naturrechtsphilosophie setzt die USA gesellschaftsgeschichtlich und politisch an die Spitze der Entwicklung, während gleichzeitig ein Defizit hinsichtlich besonderer künstlerisch-kultureller Kreativität bleibt. Hier kann Amerika mit Europa noch nicht mithalten.

II Erste Analyse: Alexis de Tocqueville

Alexis de Tocqueville, der 1831 die USA bereiste und 1840 ein zweibändiges Werk Über die Demokratie in Amerika veröffentlichte, ist bis heute aufgrund seiner hellsichtigen Analyse ein wichtiger Gewährsmann für diesen besonderen Zug der amerikanischen Kultur.

In der Tocqueville-Rezeption wird immer seine Bewertung des amerikanischen politischen Systems hervorgehoben, seine Einschätzung der kulturellen Konsequenzen einer demokratisch organisierten Gesellschaft jedoch sträflich vernachlässigt. In den absolutistischen oder bürgerlichen Ständegesellschaften Europas hat die Kultur eine hierarchische Unterscheidungsfunktion innerhalb der Gesellschaft und sichert das Machtgefälle zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Hier der kultivierte Adel, dort der ungebildete und kulturlose Pöbel. Dagegen geht die amerikanische demokratische Gesellschaft von der politischen Gleichheit der Bürger aus, was enorme kulturelle Auswirkungen hat.

Fluck kommentiert dies so: " ... die Kultur ist für Tocqueville auf grundlegende und umfassende Weise durch das neue politische System der Demokratie geprägt, das alle Lebensbereiche erfasst. Mit Demokratie ist dabei nicht ein utopisches Ideal sozialer Gleichheit gemeint, sondern viel nüchterner eine neue Form politischer Gewaltenteilung, durch die zunächst einmal staatsbürgerliche Gleichrangigkeit geschaffen wird, die wiederum ‚die gesamte moralische und intellektuelle Verfassung eines Volkes' verändert. Demokratie ist somit nicht nur ein Name für ein neues politisches System, sondern auch für eine neue Lebensform, die bis in die feinsten Verästelungen der Gesellschaft reicht. In diesem grundlegenden, gleichsam ‚systemischen' Sinn begreift Tocqueville die amerikanische Kultur als demokratische Kultur." 3)

Das hat außerordentliche und weitreichende Konsequenzen. Denn das Prinzip der Demokratie besteht in der konstitutionellen, politischen und zivilrechtlichen Gleichrangigkeit der Bürger, der Gleichheit vor dem Gesetz also. Das bedeutet nicht, dass es eine klassenlose Gleichheit gibt. Im Gegenteil, das aus hierarchischen Bindungen gelöste und somit befreite Individuum kann die eigenen Fähigkeiten und Begabungen ehrgeizig einsetzen, um materiellen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung im Wettbewerb mit dem Anderen zu erringen. Die Aufstiegschancen sind in einer demokratischen Gesellschaft also immer gegeben und werden institutionell nicht beschnitten, aufgrund der staatsbürgerlichen Rechte sogar ausdrücklich geschützt. Das kann durchaus zu weitreichenden Unterschieden der individuellen Lebensumstände und des möglichen Lebensstils führen, ohne dass dadurch die staatsbürgerliche Gleichrangigkeit aufgehoben wird.

III Der amerikanische Traum

Der sprichwörtlich mögliche Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär ist daher so etwas wie der Kern des amerikanischen politischen Systems, der sich aus den Antrieben der demokratischen Chanceneröffnung speist, und als ‚american dream' , amerikanischer Traum, seine populäre Auslegung erhält.
In der amerikanischen Literatur hat er in der Autobiographie von Benjamin Franklin einen gültigen Ausdruck bekommen. "Die Autobiographie ist ein genau kalkuliertes Konstrukt, das Normen und Werte seines Lebens, aber auch seiner Zeit, in ihrem Zusammenwirken auf ein menschliches Leben exemplarisch zeigen soll. Höchstes Ziel des Lebens ist Glück oder Glücklichsein (felicity) - hier im irdischen Leben. Voraussetzungen von Glück sind Wohlstand (affluence) und Ansehen (reputation). Diese wiederum sind erreichbar durch Fleiß (industry), Sparsamkeit (frugality) und durch gute Werke (to do good). Dieses System von Werten entwickelt Franklin jedoch nicht deduktiv, vom Begriff >>felicity<< ausgehend, sondern indem er vorführt, wie sich aus dem guten, gesellschaftlich verantwortlichen Handeln >>reputation<< ergibt. Er macht deutlich, wie Fleiß, Sparsamkeit und Selbstdirziplin zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit führen. Schritt für Schritt entfaltet sich hier das Leben, das den Einsichten der Vernunft folgt, Moral nicht mehr aus metaphysischen, sondern aus hedonistischen Einsichten entwickelt und schließlich in der typisch aufklärerischen Überzeugung gipfelt, das alles sei durch Erziehung und Beispiel an spätere Generationen weiterzugeben." 4)

Ein wichtiges Element in diesem System ist die ‚reputation', die man eben nicht durch die soziale Stellung sondern durch das eigene Handeln erwirbt. Der gesellschaftliche Status des Individuums wird also nicht über seinen Stand festgelegt, sondern wird durch die eigene Tüchtigkeit erworben. Damit geht eine Unsicherheit des Einzelnen über die eigene gesellschaftliche Bedeutung einher und führt zur besonderen Beachtung der Meinung der anderen, besonders der Peer-Group, denn das Urteil der Mehrheit, politisch gesprochen die öffentliche Meinung, entscheidet über den eigenen Wert.

Es entsteht somit ein gesellschaftlicher Anpassungsdruck, der einem gewissen Konformismus Vorschub leistet, aber es ist kein staatlich verordneter wie in einer sozialistischen Gesellschaft. In letzter Konsequenz entwickelt sich aus dem demokratischen Gleichrangigkeitsprizip eine Tendenz zur Massengesellschaft, zur unterhaltenden Massenkultur und nicht zur kulturellen Spitzenleistung.

Die Suche nach Anerkennung und Selbstwert ist damit zunächst gerade nicht die Suche nach der eigenen Individualität. Der Einzelne muss sich im Gegenteil gut verkaufen können, damit er, gesellschaftlich in hohem Masse akzeptiert wird und die gewünschte Anerkennung erhält. Die für Europäer oft befremdliche Neigung besonders erfolgreicher und reicher Amerikaner, durch kulturelle Stiftungen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erwerben, hat hier ihre Wurzeln. Das ausgeprägte Alumni-System amerikanischer Universitäten wird deshalb auch in Europa nicht so gut funktionieren.

Die Frage, wie findet man Anerkennung, Aufmerksamkeit und Zustimmung, wird zu einem zentralen Anliegen einer liberalen und demokratischen Gesellschaft, weil die Bindewirkung traditioneller gesellschaftlicher Hierarchien nachlässt. Inzwischen spüren die demokratischen westlichen Demokratien diesen Druck im Zusammenhang mit der Globalisierung deutlich. In den USA sind diese gesellschaftlichen Strukturen nach der Unabhängigkeit fast völlig ausgefallen. Die Selbstinszenierung zum Zwecke der Selbstdefinition und individuellen Selbstwertfindung trat daher in den Mittelpunkt der kulturellen Aktivität. Das ist heute genau das Problem mit der Massen- und Popkultur, vor dem Europa steht.

IV Einwanderung und Informationsverarbeitungstheorie

Vergleicht man die amerikanische Entwicklung im 19. mit der des 20. Jahrhunderts, dann werden gravierende und gleichzeitig erhellende Unterschiede deutlich.

Die massive Einwanderung aus Europa während des ganzen 19. Jahrhunderts kam vornehmlich aus dem west- und nordeuropäischen Raum, aus England, Irland, Holland, Deutschland, Frankreich, und Skandinavien, bezog sich also trotz sprachlicher, nationaler und kultureller Unterschiede auf eine christlich-abendländisch-humanistische Tradition.

In der Begegnung mit dem Fremden und Ungewohnten greift man immer auf das Bekannte und Vertraute zurück. Man vergleicht sozusagen die bisherigen eigenen Erfahrungen mit den neuen und fremden und ordnet sie den vertrauten nationalen Klischees zu: Italiener sind lebhaft, Franzosen liebestoll, Deutsche dröge, usw. Das Ergebnis ist in der Regel eine Bestätigung, wobei die Ausnahme bequemlichkeitshalber die Regel bestätigt. In der moderneren Informationsverarbeitungstheorie  5) sind das Stereotypen. Der nützliche Begriff des Schema geht darüber signifikant hinaus. Er geht davon aus, dass bei z. B. einer Einwanderung in ein fremdes Land die Stereotypen mit der Erfahrung aktiv verglichen werden, um im täglichen Umgang das sozial kollisionsfreie Miteinander zu erleichtern. Das Schema steht also "gegen passives Einregistrieren von Informationen beim Verstehen, gegen Gedächtnismodelle im Sinne von reinem Ablegen, Speichern, Kopieren von Realitätsabbildern. Der Begriff konzeptionalisiert Verstehen als konstruktive Aktivität".  6) Der Einwanderer, z. B., hat natürlich ein vitales Interesse daran, mit seinen neuen Nachbarn klar zu kommen. Er wird also aktiv versuchen, sie zu verstehen. Die Grundlage dazu bietet allerdings allein seine bisherige kulturelle Erfahrung. Das Schema ist somit eine kulturell-ethnisch geprägte, auf Erfahrung der eigenen Kultur basierende Wissensstruktur. Es bietet vertraute Konzepte, an denen jegliche Fremderfahrung gemessen, bewertet und eingeordnet werden. Dabei kommt es zu Anpassungsprozessen an die jeweilige dominante Fremdkultur, die das ursprüngliche Schema graduell verändern, die aber auch in einem reinen Einwanderungsland, wie den USA, die Mehrheitskultur modifizieren bzw. bereichern können.

Im 19. Jahrhundert waren diese Konzepte der Einwanderer aufgrund ihrer west- bzw. nordeuropäischen Herkunft in den übergeordneten europäischen kulturellen Grundzügen ähnlich, nicht unbedingt in den sozialen Bedingungen ihrer Herkunft. Aber sie alle wurden von Amerika angezogen, weil es eine bessere Zukunft für den Einzelnen versprach und keine hierarchische gesellschaftliche Struktur ausgebildet hatte, die die individuelle Entfaltung behindert hätte.

V Die Theorie des ‚melting pot' als amerikanische Nationalideologie: Frühe Versuche der Definition

Hector St. John Crèvecoeur schlug in seinen berühmten Letters from an American Farmer von 1782, einer einflussreichen Schrift aus der Zeit der amerikanischen Revolution, das Leitmotiv praktisch für das ganze 19. Jahrhundert an. Amerika, als Zufluchtsort der Armen Europas versammelt bei sich die Angehörigen der verschiedensten Nationen. Zuhause hatten sie kein Land, wurden unterdrückt und ausgebeutet und führten im Namen der Fürsten Kriege, aber in Amerika waren sie frei. Die typische Familie bestand durch Heirat aus Mitgliedern, die aus den verschiedensten Ländern kamen, aber hier arbeiteten sie zusammen, konnten sich von der eigenen Arbeit ernähren und respektierten sich gegenseitig als Menschen. Hier wurden die Menschen verschiedener Nationen zu einer neuen Menschenrasse verschmolzen, von deren Arbeit und Wohlstand in der Welt noch große Veränderungen ausgehen würden. Zusammenfassend hieß es dann: "This is an American." 7)

Crèvecoeur bestätigte also schon sehr früh den amerikanischen Traum, der im literarischen Motiv des "from rags to riches" dann seinen tausendfachen Niederschlag gefunden hat, hielt es aber auch aufgrund der europäischen kulturellen Konzeptstruktur für nötig, zumindest für wünschenswert, die nationale Identität der USA zu definieren.

V a) Europäischer versus amerikanischer Kulturbegriff: Gründungsmythen

Für das 19.Jahrhundert entwickelte sich der europäische, dem deutschen Idealismus entstammende Kulturbegriff dabei zu einem großen Hindernis. Ausgehend von Herders Stimmen der Völker und der holistischen romantischen Vorstellung von Volk, wird in der europäischen Vorstellung eine Nation in ihrem eigentümlichen Charakter durch eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur geprägt. Das Aufgreifen mündlicher Erzähltraditionen in den Märchensammlungen und die Sammlung von Volksliedern gingen dabei weit in eine mythische Vorzeit zurück und umgaben so den Nationenbegriff mit einer besonderen jeweils charakteristischen Aura.

In einem reinen Einwandererland wie den USA war das so nicht möglich. Statt Geschichte hatten sie einen Neuanfang, einen Nullpunkt sozusagen. Statt einem Kulturland fanden sie eine Wildnis vor, der riesige fremde Kontinent war eine Herausforderung zur Besiedlung und unheilvoll zugleich. Die amerikanische Kultur, und hier besonders die Literatur, führte im 19. Jahrhundert einen aussichtslosen Kampf um die amerikanische Identität, indem immer wieder versucht wurde, die Besonderheit der amerikanischen Erfahrung herauszu- arbeiten und zu beschreiben.

Im Bereich der Kultur sind das die sogenannten Gründungsmythen: die puritanische Besiedlung Neuenglands durch das auserwählte Volk Gottes, das das neue Jerusalem, die Stadt auf dem Hügel, gründete; der frontier-Mythos, es sei die historische Bestimmung Amerikas immer weiter nach Westen vorzudringen und die Wildnis zu zivilisieren. Das Gegensatzpaar ‚wilderness and civilization' wird daher auch konstitutiv für die Konflikte, die die junge amerikanische Literatur darstellt. Der Erfolgsmythos, der zusammen mit dem Individualismus die optimistische und zukunftsfrohe Grundhaltung des Nationalcharakters bestimmte, ist schließlich die alles überragende und zusammenschließende Vorstellung und Erwartung.

Auffällig ist hier jeweils, dass die nationale Erfahrung nicht geschichtlich begriffen wird, sondern als Aufgabe der Zukunft. Die in den Gründungsmythen enthaltene teleologisch gerichtete Zukunftserwartung setzte sich an die Stelle des europäischen Geschichtsbewusstseins und war sich der moralischen Dimension des amerikanischen Unternehmens voll bewusst. Das war auch schon bei Crèvecoeur so.

Die puritanische Besiedlung erfolgte auf Weisung Gottes und im Schutze seiner gnadenvollen Vorsehung. Alle frühen puritanischen Texte berichten von Gottes Hilfe und Gnade und betonen, dass die neue Welt eine moralisch gute und Gott wohlgefällige sei und vor allem sein wird. Der frontier-Mythos bezieht sich auf den das ganze 19. Jahrhundert dauernden Besiedlungsprozess nach Westen, in das vermeintlich menschenleere Land hinein. Es ist die ‚manifest destiny', die unausweichliche Aufgabe der USA die Fackel der Zivilisation immer weiter nach Westen zu tragen, möglicherweise sogar um den ganzen Globus. Hier tauchen antike Vorstellungen der ‚translatio studii' in veränderter Gestalt wieder auf. Und schließlich verwirklicht sich im success-Mythos und im Individualismus das demokratische Prinzip, das die aristokratische und hierarchische Ungerechtigkeit europäischer Gesellschaften im Bewusstsein des moralischen Gleichheitsanspruchs ersetzt.

In der Literatur sind es die klassischen Autoren des 19. Jahrhunderts, die den Kanon der amerikanischen Literatur bildeten und dabei die literarischen Spitzenleistungen repräsentierten. Es sind z.B. Nathaniel Hawthorne, Edgar Allan Poe, Ralph Waldo Emerson, James Fenimore Cooper, Herman Melville, Walt Whitman oder Mark Twain. Sie alle verarbeiten die amerikanische Erfahrung durchaus kritisch und stellen moralische Fragen, der Maßstab bleibt dabei aber immer das reine Ideal der Grundungsmythen, an dem die ungenügende Gegenwart gemessen wird.

VI Literarische Zeugnisse für die kulturelle Besonderheit

Nehmen wir mal drei Beispiele:
Cooper, am besten bekannt durch seine Lederstrumpfromane, stellt den großen Waldläufer in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Natty Bumppo erlebt die grandiose von Menschen noch unberührte Natur und kontrastiert sie mit den rasanten Veränderungen, die die Menschen in den neuen Ansiedlungen bewerkstelligen. In dem Roman The Deerslayer, Der Wildtöter, heißt der erste Satz: "On the human imagination events produce the effects of time." Ereignisse haben auf die menschliche Einbildungskraft die Wirkung von Zeit. Dieser erste Satz formuliert eine scheinbar schlichte Wahrheit als allgemeingültiges Gesetz. Nicht die Zeit an sich ist Orientierungskategorie, sondern die Ereignisse und Veränderungen, die sie bringen, sind bedeutsam. Cooper gibt damit die Dominanz einer langen, messbaren Erstreckung in der historischen Zeit zugunsten einer Ereignisdichte auf. Damit rettet er die Würde und die Bedeutung der amerikanischen Geschichte. Die europäische Geschichte erhält schließlich ihre "venerable air" ‚ehrfurchtsgebietende Würde' aus der zeitlichen Tiefendimension, die die amerikanische nicht hat. Die amerikanische Geschichte bleibt innerhalb weniger Generationenfolgen mündlicher Überlieferung noch verfügbar, sprengt aber durch die Ereignisfülle die Leistungsfähigkeit der Erinnerung und erhält auf diese Weise die Möglichkeit zur mythischen Verklärung. Die Bewegung in der Zeit wird in der amerikanischen Geschichte durch die Bewegung durch den Raum ersetzt.

In The Pioneers, dem ersten Lederstrumpfroman von 1823 beobachtet er entsetzt, wie die Dörfler, als die Graugänse in riesigen Scharen nach Norden ziehen, diese mit allen verfügbaren Gewehren und sogar einer Kanone vom Himmel holen. Viel mehr als sie verzehren können, die meisten verrotten. Diesen Raubbau kann er nicht verantworten, das ist Frevel an der als göttlich empfundenen Natur. Er wendet sich angewidert ab und zieht weiter nach Westen in die unberührte Wildnis. Das moralische Dilemma der Westbesiedlung wird auf diese Weise in der Gestalt des einsamen Trappers fokussiert. Denn Natty ist nun auch wieder nichts anderes als die Speerspitze der Zivilisation, die Siedler werden bald nach Westen nachfolgen, und der Raubbau geht weiter. Das amerikanische Experiment, in der Wildnis eine ideale Gemeinschaft aufzubauen, wird durch menschliche Unvernunft und die Freude am Töten gefährdet.

In Hawthornes Scarlet Letter wird die junge Mutter einer unehelichen Tochter von dem rigiden puritanischen Magistrat geächtet und dazu verurteilt, lebenslang und ständig einen scharlachroten Buchstaben als Zeichen für Ehebruch zu tragen. Die christliche Gemeinschaft, in der Menschenliebe und Vergebung herrschen sollte, ist zu einer theokratischen Tyrannei entartet. Hester Prynne unterläuft jedoch diese unmenschliche Strafe dadurch, dass sie den Buchstaben mit einer wundervollen Stickerei verziert und sich somit quasi als individuelle Künstlerin gegenüber einer harten und unbarmherzigen Gesellschaft behauptet. Auch hier wird der puritanische Gründungsmythos hinterfragt, denn anstatt das goldene Jerusalem heraufzuführen, haben die Puritaner ein Unterdrückungssystem geschaffen.

Und wenn, als letztes bekanntes Beispiel, Mark Twains Huckleberry Finn mit dem entlaufenen Sklaven Nigger Jim auf einem Floß den Mississippi hinuntertreibt, dann erkennt er an Jims Freundlichkeit und Verlässlichkeit seinen Wert als Mensch. Wenn sie jedoch an Land gehen, dann zeigt sich die amerikanische Gesellschaft als ungerecht, habgierig, roh und grausam. Das gesellschaftliche Wertesystem ist aber immerhin noch so stark, dass Huck einen Entschuldigungsbrief an die Besitzerin von Jim schreibt, in dem er die Strafe der Hölle auf sich nimmt weil es eine Sünde sei, Jim nicht auszuliefern. Dennoch wird er es nicht tun. Die natürliche Moral eines ungebildeten Jungen widersetzt sich der gesellschaftlichen, stellt diese aber als selbstverständliche Ordnung nicht in Frage. Hier wird das System der amerikanischen Sklaverei moralisch angeprangert und als Unrechtsystem herausgestellt. In allen diesen Beispielen sind es jedoch die einzelnen Individuen, die die Fragwürdigkeit erkennen und als eigentlich unamerikanisch anklagen. Es bleibt aber auch die Hoffnung, dass die Zukunft Besserung bringen wird.

Der Versuch der Literatur des 19. Jahrhunderts, die amerikanische Zukunftshoffnung, die amerikanische Erfahrung und die amerikanische Geschichte zur Formulierung eines Nationalcharakters zu nutzen, schlug fehl, weil die teleologischen Erwartungen moralischer Art sich nicht erfüllten. Das liegt vor allem daran, dass die Gründungsmythen der USA letztendlich Mythen einer individuellen und eben nicht gesellschaftlichen Sinngebung sind. Der europäische Nationenbegriff trifft auf die USA nicht zu.

Winfried Fluck versteht die Gründungsmythen als Formen des "self-empowerment" des selbstverantwortlichen Handelns. Es sind "die Idee des Auserwähltseins (Exzeptionalismus), die individuelle Erfolgsgeschichte (success story), der Mythos der individuellen Regeneration jenseits zivilisatorischer Zwänge (frontier-Mythos), Technik und Maschine als Formen der Selbsterweiterung, der Mythos individueller Autonomie (individualism) und den Immigrant als "Pilger" in eine neue Welt. Alle diese Mythen enthalten das Versprechen, die Stellung des Individuums zu verbessern, wenn es selbst den Mut zur Initiative aufbringt, und weisen darin einen Weg, mit der Suche nach Anerkennung noch einmal von vorn beginnen zu können."  8)

VII Zweifel, eine nationale Kultur auf der Grundlage der ‚melting pot'- Theorie definieren zu können

Im 20. Jahrhundert veränderte sich die Situation gravierend, ohne dass die Anziehungskraft der Gründungsmythen entscheidend nachließ.

Crèvecoeurs Metapher für das Einwandererland USA als einem Schmelztigel der Rassen entsprach, ganz im Sinne des europäischen Nationenbegriffs, den ursprünglichen Gründungsmythen, hob sie aber über die Geltung für den Einzelnen hinaus und zielte auf eine umfassende neue nationale Kultur. Allerdings waren von Anfang an die versklavten Afro-Amerikaner und die indianischen Ureinwohner davon ausgeschlossen. Ganz im Sinne des aufklärerischen Kulturbegriffs, wonach sich die Zivilisation über vier Stufen, die primitive des Jägers und Sammlers, die barbarische des Viehtreibers, die zivilisierte des Bauern und die hochentwickelte des Händlers und Handwerkers nach oben arbeitet  9) , stehen die Indianer und Sklaven auf einer so niedrigen Entwicklungsstufe, dass sie zur Teilhabe an der modernen Gesellschaft nicht fähig sind.

Mit der Industrialisierung und Urbanisierung vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, also nach dem Bürgerkrieg, stieg die Immigration vor allem von ungelernten Arbeitern aus Süd-, Südost- und Osteuropa rasant und hielt bis zum ersten Weltkrieg an. Schon früher beobachtet worden, dass die Schmelztiegeltheorie nicht richtig funktionierte, denn die Iren, die Deutschen, die Holländer und Schweden siedelten entweder in relativer ländlicher ethnischer Nachbarschaft oder in homogen bewohnten Stadtvierteln, und so wurde die Forderung erhoben, den Gehalt des Schmelztigel-Begriff zu einem Teil eines offiziell geförderten Anglo-Konformismusprogramms zu erheben. Die Vorzüge der amerikanischen Verfassung und die amerikanische Bürgerrechtstradition waren der Bezugspunkt einer geplanten gründlichen ‚Amerikanisierung', die eine staatsbürgerliche Unterrichtung, die Einführung in amerikanische Sitten und Gewohnheiten einschließen sollte und endlich für Einwanderer den Nachweis einer gewissen Sprachbeherrschung forderte. Das gipfelte in einer rassistischen Bewegung, in der Bücher, wie Madison Grant's The Passing of the Great Race von 1916, feststellten, dass alle Rassen, seien es die des Mittelmeerraums, Juden, Schwarze oder Orientalen der nordischen Rasse unterlegen seien. Schon 1911 erschien der vom Kongress initiierte Dillingham Report einer Einwanderungskommission, der in 42 Bänden eine Unterscheidung zwischen der ‚alten Einwanderung' aus Nord- und Westeuropa und der ‚neuen Einwanderung' aus Ost- und Südeuropa traf. Natürlich waren die ‚neuen Immigranten' nicht geeignet, in einer freien, protestantischen und nordisch-amerikanischen Republik zu leben.

Seit ihrer Gründung sind die USA ethnisch und religiös heterogen, so dass es auch heute noch unmöglich ist, von einer einheitlichen Nation und einer Nationalkultur zu sprechen. Jeder Amerikareisende kann bestätigen, dass er immer wieder, und auch gerade von alteingesessenen Familien hört: ‚Wir sind deutscher, holländischer, irischer, englischer Abkunft', aber er wird auch hören, dass die Amerikaner im besten aller Länder leben. Die Bezugspunkte sind jeweils die allseits anerkannte Verfassungsordnung, Gleichheit, die Freiheit zur persönlichen Entfaltung, Redefreiheit, Pressefreiheit als mögliche Veränderung der amerikanischen öffentlichen Meinung durch eine freie Medienlandschaft und eine Popkultur, die sich durchaus auch -wie das Beispiel Madonna jüngst zeigte- kritisch in die Tagespolitik einmischt.

Die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre hat zudem gezeigt, dass die Einforderung verfassungsmäßig verbriefter Rechte beträchtlichen Erfolg haben kann. Es gibt also anerkannte und verbindliche amerikanische Werte, die sich mit Ausnahme des Rechtssystems jedoch nicht gesellschaftlich institutionell niederschlagen, sondern die kulturelle Identität ethnischer Gruppen respektieren, vor allem aber die Möglichkeit zur individuellen Ausdifferenzierung nachdrücklich betonen.

Der Einzelne operiert somit auf dem Boden einer kulturellen Gruppenidentität, auf die er sich zurückziehen kann, agiert aber darüber hinaus in einem gesamtamerikanischen Kontext des Individualismus. Die ethnischen Minderheiten werden aber dennoch ihrerseits amerikanisiert, wenn sie den Individualismus in ihr kulturelles Repertoire aufnehmen und kollektivistische Tendenzen beschneiden. Randolph Bourne spricht deshalb auch von einer amerikanischen Föderation verschiedener Kulturen  10) und der Unmöglichkeit die spezifische amerikanische Kultur zu definieren. Hier eröffnet sich zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit des friedlichen Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen, die den gegenseitigen Respekt auf der Achtung des Einzelnen gründen. Letztlich ist das der eigentliche Kern der heute international geführten Multikulturalismusdebatte.

VIII Kritik an literarischer Kanonbildung und kulturelle Diversifikation

Im 20. Jahrhundert führte diese Veränderung des kulturellen Bewusstseins zu einer zunehmenden Kritik an dem Versuch literarischer Kanonbildung des 19. Jahrhunderts, und die Literatur sowie die Literaturwissenschaft konzentrierte sich mehr und mehr auf die Auffächerung und Diversifikation der literarischen Landschaft der USA. Drei sich ergänzende Entwicklungen sind hier besonders zu beobachten:
1. die Regionalisierung der amerikanischen Literatur,
2. die Ethnisierung und
3. die zunehmende Wandlung der Protagonisten vom Werte verteidigenden Helden zum die gesellschaftlichen Wertvorstellungen erleidenden Anti-Helden.

VIII a) Southern Renaissance und Regionalisierung der amerikanischen Literatur

In diesem Zusammenhang trat zunächst der amerikanische Süden mit seinem nach dem Bürgerkrieg gebrochenen Verhältnis zur eigenen Geschichte als exemplarisch für die modernen USA hervor. Das moderne industrialisierte und urbanisierte Amerika wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren von Literaten, Journalisten und Professoren der Südstaaten aus dem Umfeld der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee mit den Schlagwörtern ‚Industrialism', ‚Cosmopolitism', ‚Progress', ‚Big Business', ‚Applied Sciences' als den Norden repräsentierend gefasst, dem das zivilisierte agrarische Ideal der untergegangenen Südstaatenwelt entgegengestellt ist. Die Schriftsteller der ersten Generation der ‚Southern Renaissance' die man in die 30er und frühen 40er Jahre einordnen muß, empfanden den Süden somit als Opfer des modernen Amerika und zeichneten sich durch eine Obsession mit der Vergangenheit aus, die in enormer Detailgenauigkeit aufgearbeitet und selbstquälerisch vor allem hinsichtlich des durch die Sklaverei offensichtlich gewordenen moralischen Versagens befragt wurde.

Der realistische historische Roman war daher die bevorzugte Form; die literarische Moderne, die Schichten der Erinnerung aus der Perspektive eines Bewusstseins bloßzulegen, der bevorzugte Stil. In diese Gruppe gehören Autoren wie Stark Young, Andrew Lytle, Caroline Gordon, Allen Tate, die melodramatisch schreibende Margaret Mitchell, Robert Penn Warren und der durch Schreibexperimente und Bewusstseinsstrom herausragende William Faulkner. Besonders bei Warren und Faulkner wird dabei deutlich, dass die Geschichtsverarbeitung im individuellen Bewusstsein über die regionale Bedeutung ins humanistisch Universelle hinausdrängt und in der moralischen Verantwortung des Einzelnen einen Weg in die Zukunft zwischen den Extremen des Materialismus und der simplen Vergangenheitsverklärung sucht.

In der zweiten Generation, die in den 40er und 50er Jahren schrieb, blieb die moralische Auflösung zwar das Thema, aber es wird auf das Individuum zugespitzt. Die wichtigsten Autoren sind Ralph Ellison, Carson McCullers, Flannery O'Connor, Truman Capote, Walker Percy, William Styron und Eudora Welty.

Die Helden sind nicht mehr nur Opfer der modernen vom amerikanischen Norden geprägten Gesellschaft, sondern ebenso sehr desillusioniert von den durch die Sklaverei desavouierten nur scheinbar zivilisierten Idealen des Südens. Sie nähern sich somit der Entfremdungsthematik der Romane Saul Bellows und J.D. Salingers an. Dies gilt auch für die dritte Generation der 60er und 70er Jahre, zu der etwa Clyde Edgerton, Ernest Gaines, Barry Hannah, James Alan McPherson, Anne Tyler und Alice Walker, gehören, um nur einige zu nennen.

Diese moderneren Südstaatenautoren stehen aber "nur insoweit in dem postmodernen Kontext, als sie auf Erklärungsmodelle verzichten. Sie entwerfen auch keine eigenen fiktiven Welten, sondern sie setzen sich parodistisch überzeichnend mit der modernen Kultur auseinander, von der sie sich abgestoßen und gleichzeitig angezogen fühlen. Aus der südstaatlichen Geschichte und Literaturtradition heraus wissen sie zudem um Niederlage, Untergang, Verzweiflung und Verlust. Und damit tauchen auch die dunklen Seiten des Lebens auf, groteske Verformungen, die im postmodernen Sinne nicht mehr auf Gesellschaft, Umwelt, Natur und Vererbung zurückgeführt werden, sondern Teil des Geheimnisses des Lebens selbst sind. Was bleibt ist die menschliche Solidarität, die fast Faulknerische trotzige Behauptung der humanen Position als ‚honour, endurance, compassion, and sacrifice'"  11), als Ehre, Erdulden, Mitleid und Aufopferung.

Der literarische Regionalismus, der sich in der Southern Renaissance erstmals deutlich artikuliert, ist jedoch ein alle Regionen der USA erfassendes Phänomen, das seinen Niederschlag an den amerikanischen Universitäten in Forschungs- und Studieneinrichtungen fand. In den späten siebziger Jahren gründete die University of Nebraska ein ‚Center for Great Plains Studies', die University of Mississippi in Oxford das ‚Center for the Study of Southern Studies', die University of Kentucky ihr ‚Appalachian Center'. Neueren Datums sind regionale Forschungsschwerpunkte in North Carolina, Texas, Maine, Utah und Wyoming und zeigen, dass die Partikularisierung der amerikanischen Kultur und Literatur im 20 Jahrhundert als für Amerika charakteristisch und bedeutend wahrgenommen wird.

VIII b) Ethnische Minoritäten

Die im 20. Jahrhundert ständig zunehmende Zersplitterung der literarischen Landschaft Amerikas bezieht sich nicht nur auf die Regionen, sondern besonders auch auf die ethnischen Minderheiten. Die Abschaffung der Sklaverei nach dem Bürgerkrieg hat zwar die rechtliche Freiheit der farbigen amerikanischen Bevölkerung gebracht, die soziale Anerkennung wurde ihr aber aus rassistischen Gründen mehr noch als anderen Minderheiten auch versagt. Im 20. Jahrhundert hat es zwei bedeutende Epochen gegeben, in denen die Farbigen eine breite literarische Wirkung erzielen konnten. Die zu Beginn des Jahrhunderts einsetzende Migration der Farbigen aus dem Süden in den urbanisierten und industrialisierten Norden führte in den Städten des Nordens zur Ghettobildung und zur Verschärfung der sozialen Problematik. Die künstlerisch-literarische Verarbeitung dieser Erfahrung in den 20iger Jahren, in der sogenannten Harlem Renaissance, brachte auf allen literarischen Feldern, dem Drama, dem Roman aber vor allem in der Lyrik beeindruckende Leistungen hervor. Aus dem Erlebnishorizont einer ethnischen Minorität heraus kam so eine besondere Facette der amerikanischen Erfahrung in den Blick und bereitete den Weg für die große Zahl der afroamerikanischen Autoren -ein Begriff der ‚political correctness' nach der Bürgerrechtsbewegung der 1960 Jahre- in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach der Erfahrung des Holocaust und der folgenden verstärkten europäisch-jüdischen Einwanderung entwickelten auch die amerikanischen Juden ein verschärftes Gefühl ihrer ethnischen Besonderheit und bildeten ebenfalls eine eigene literarische Tradition aus.

In Anerkennung der literarischen Versuche des 19. Jahrhunderts, eine Nationalliteratur zu etablieren, unterscheidet die Literaturkritik seither zwischen der mainstream-Literatur und der Literatur der ethnischen Gruppen, zu denen heute auch die ‚native-Americans', also die Indianer, und die spanisch sprechenden Einwanderer, die ‚Chicanos' gehören.

Vergleichbar und doch ganz anders gelagert ist der Fall der ‚gender studies', in denen die Darstellung der Frauen in der Gesellschaft, begriffen als eine Minorität, untersucht wird. Die Problematik der Frauenrolle greift über ethnische Grenzen hinweg auf geschlechterspezifische Kulturstereotypen zu.

Solche Begriffsbildungen nehmen zu, je näher man der Gegenwart kommt und belegen, dass sich die amerikanische Literatur immer weiter von einem die nationale Literatur repräsentierenden main-stream entfernt. So gibt es Abgrenzungen von ‚lost-generation', ‚beat-generation', ‚counter-culture', ‚non-fiction fiction', ‚new journalism', usw. Die kategorialen Ansätze sind höchst unterschiedlich und zeigen lediglich, dass es sich immer um eine Literatur handelt, in der der Einzelne im Gegensatz zu scheinbar festgefügten gesellschaftlichen Werten steht und zu einer universellen humanitas vorstoßen will.

Klaus Ensslen kommentiert die zweite Epoche der afroamerikanischen Literatur nach der Bürgerrechtsbewegung: "Aber während man die Harlem oder New Negro Renaissance noch als vom gönnerhaften Wohlwollen eines weißen Publikums und seiner aufgeklärten Bohème abhängige modische Bewegung sehen kann,--- so scheint heute der Boden für eine beharrlichere und beständige literarische Artikulation des schwarzen Amerikaners ... sicherer als je zuvor." 12)
Zu den herausragenden Autoren der zweiten Epoche gehören Ralph Waldo Ellison, James Baldwin, W.E.B. Du Bois, Malcolm X und Eldridge Cleaver.

Die wichtigsten afroamerikanischen Autoren der Gegenwart sind jedoch Frauen, von denen die Nobelpreisträgerin Toni Morrison herausragt. Ethnische Literatur und ‚gender literature' überschneiden sich in ihrem Werk, weil die Erfahrung der Farbigen aus der Sicht der schwarzen Frau dargestellt wird. "In ihrer anfangs postmodernen Mischung realistischer und mythisch-phantastischer Elemente beschreibt sie ... die qualvolle Initiation junger Schwarzer in die Gesellschaft. Mit Tar Baby (1981) und Beloved (1987) wendet sie sich stärker historischen Themen zu und erzählt schließlich in rhythmisch durchgeformter Prosa in dem Kurzroman Jazz (1992) vom Leben im heutigen Harlem. Mit ihrem bisher letzten Roman Paradise (1997) bewegt sie sich zunehmend vom Postmodernismus weg"  13) und zu konventionelleren Erzählmustern zurück. Diese werden jedoch durch folkloristische, legendäre und mystische Elemente ergänzt. Bei den Afroamerikanerinnen Alice Walker, Toni Cade Bambara, Gail Jones und Jamaica Kincaid sind ganz ähnliche Entwicklungen zu beobachten.

IX Vom Helden zum Antihelden

Das zentrale Erlebnis des zwanzigsten Jahrhunderts ist die wachsende Einsicht in das Zerbrechen tradierter Ordnungssysteme. Schlüsselbegriffe wie Religion, Naturrecht, Evolution, Nation und Sozialismus sind jeder für sich geeignet, eine logische und in sich geschlossene Interpretation der Welt zu entwickeln. Die Auseinandersetzungen um die Vormacht, Macht und Deutungshoheit solcher Vorstellungen wurden zur Auseinandersetzung der Ideologien.

Der erste Weltkrieg ist im Bewusstwerden dieses Zusammenhangs besonders für die USA ein einschneidendes Ereignis. Im ganzen 19. Jahrhundert war Amerika damit beschäftigt, die teleologische Geschichtserwartung in die Realität umzusetzen. Der den Empirismus radikalisierende Pragmatismus bereitete durch seine Ideologieskepsis den Rückzug auf das handelnde Individuum vor, das sich dann durch keine vorgefertigten Welterklärungsmodelle oder gegebene Ordnungssysteme mehr manipulieren lässt. Die Erfahrung des ersten Weltkriegs macht im Zusammenprall der unterschiedlichen Wertvorstellungen der USA mit denen der europäischen Kriegsteilnehmer deutlich, dass es letztlich um handfeste Machtpositionen geht.

Die amerikanische literarische Moderne erkundet entsprechend die Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit, die das Individuum hat und entwickelt Darstellungstechniken, die vom perspektivischen "point of view" bis zum Bewusstseinsstrom reichen. Die dargestellte Welt tritt also mehr und mehr hinter ihre Wahrnehmung zurück.

Nach dem zweiten Weltkrieg wird dieses Problem noch verschärft. Die Philosophie des Existentialismus stellt das menschliche Bedürfnis, im Leben einen Sinn und eine Bedeutung zu finden, einer gleichgültigen und feindlichen Welt gegenüber. Die in ihrem Bewusstsein gefangenen Helden der klassischen Moderne weichen nun den Handelnden, die ihre Aktionen ständig auf Sinn hin hinterfragen, den zögerlichen Anti-Helden also, die im unablässigen Redestrom nach Rechtfertigung für ihre Existenz suchen. Saul Bellows, Jerome D. Salingers und Ralph Ellisons Protagonisten sind herausragende Beispiele.

Der Postmodernismus der sechziger und siebziger Jahre zieht daraus dann eine radikale Konsequenz. Die Realität und Welt sind nur noch Vorstellungen. Die Darstellung von Welt, eine ordnungsstiftende Aktivität, kann sich nicht mehr auf einen objektiven Gegenstand beziehen, sondern sie ist ihrerseits ein Kampf um die Bedeutungshoheit und somit um Macht. Die Organisation von Text ist dann nichts anderes als Organisation von Ordnung generell. Fiktion und Wirklichkeit verschmelzen. Die Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung muss nun flankiert werden von der Problematisierung des Erzählvorgangs selbst. "Die Literaturkritik hat diese, die Illusion des Realen gezielt zerstörenden, metafiktionalen Texte Anfang der siebziger Jahre ‚postmodern' genannt und ihnen unter diesem Markenzeichen zu literarischem Erfolg verholfen."  14) Die Beschäftigung metafiktionaler Texte mit sich selbst läuft jedoch Gefahr, im virtuosen Spiel mit der Form steril zu werden. Vor allem die ethnischen Literaturen in Amerika, die, wie das Beispiel der Afroamerikaner zeigt, den tatsächlichen Verlust ihrer ursprünglichen kulturellen Wurzeln kompensieren, entdecken die "pragmatischen Aspekte des Mimetischen"  15) neu, sie stellen Welt dar und erschaffen gleichzeitig eine geschichtlich begründete kulturelle Ordnung, die vermutlich mit der historischen Wirklichkeit, die unwiederbringlich verloren, weil unterdrückt und vergessen, nicht viel oder nichts gemein hat. Hier hat sich ein Neorealismus entwickelt, der auf mimetischer Grundlage gesellschaftliche Zustände darstellt und mit den Techniken des Postmodernismus im und durch den Text Ordnungszusamenhänge als Machtorganisation entwirft.

Das Schreiben wird so zu einem fiktiven Akt der Erinnerung, wie das auch bei sogenannten ‚mainstream-Autoren Walter Abish, Marilynn Robinson, Paul Auster und Don DeLillo der Fall ist, aber es ist eine Erinnerung, die die traumatische Erfahrung eines Verlustes verarbeitet, bei den ethnischen Literaturtraditionen ist es ein Verlust von kultureller Vergangenheit, bei den anderen ein Verlust vertrauter Ordnung. Die Protagonisten sind nicht affirmative Helden, sondern suchende Anti-Helden. Sie suchen ihren Platz innerhalb einer sich rasant verändernden Gesellschaft und begreifen ihre Position als eine der funktionalen Offenheit, weil es eine feste Ordnung nicht mehr gibt. Entsprechend schwanken ihr Selbstbild und ihr Selbstverständnis, weil sie ständig innerhalb der Gesellschaft neu bestimmt und feinjustiert werden müssen. Das Erzählen selbst ist bestimmt durch eine ordnungsschaffende Funktion, die alle Merkmale der postmodernen metafiktionalen und selbstreferentiellen Konstruktion aufweist, bleibt aber dennoch an die mimetische Darstellung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit gebunden. Aber es ist eine Wirklichkeit, in der die Vergangenheit keine Funktion der gesellschaftlichen Grundlegung mehr hat, und entsprechend eine ungewisse, offene Zukunft. Das Problem ist allein die Gegenwart.

X Susan Sonntag noch einmal

Die beiden eingangs zitierten Äußerungen von Susan Sonntag kennzeichnen somit ziemlich exakt den gegenwärtigen Zustand der amerikanischen Kultur und Literatur. Sie beklagt einerseits, ganz im Sinne der eben skizzierten Situation, die gegenwärtig der amerikanischen Kultur innewohnende Affinität zum Materialismus, zum Konsum und zur flachen Unterhaltungskultur, fordert aber andererseits energisch das von der amerikanischen Gesellschaft garantierte Recht auf Freiheit des Individualismus zum Zwecke der ständigen Neuerfindung des Ich ein. Nach dem bisher Gesagten ist das kein Widerspruch.

Scheint der erste Ausspruch auf den ersten Blick einen gewissen europäisch-elitären Kulturbegriff wiederzugeben, so wird doch rasch deutlich, dass er der gegenwärtigen kulturellen Situation der USA entspricht. Der zweite Anspruch dagegen bezieht sich auf das allzeit gültige Recht des Individuums und ist in der Tat uramerikanisch.

Man darf, meine ich, auf ihre Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels gespannt sein.

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Fußnoten:

1) The Adams Papers, Series II:Adams Family Correspondence, Band 3-4 (1778-1782), hrsg. L.H. Butterfield und Marc Friedländer. Cambridge: Harvard University Press, 1973, Bd. 3:341-42. Übersetzung: W. Fluck im Diskussionspapier Die amerikanische Kultur als Kultur der Moderne, http://userpage.fu-berlin.de/-kultur, S. 3.

2) Thomas Reid, Dugald Stewart und Archibald Alison.

3) Fluck, a.a.O., S.18f.

4) Hans-Wolfgang Schaller, "Die geistigen Grundlagen der amerikanischen Aufklärung", in: Heinz-Joachim Müllenbrock, Hrsg., Europäische Aufklärung, II, Wiesbaden, AULA-Verlag, 1984, 435-468, S. 455. 2)  5) Vgl. schon Bartlett, Frederic C., Remembering, London: Cambridge University Press, 1932 und besonders: Herrmann, Theo, "Über begriffliche Schwächen kognitivistischer Kognitionstheorien: Begriffsinflation und Akteur-System-Kontamination" Zeitschrift für Sprache und Kognition,Bd. I,1982, S.3-14.

6) Uta M. Quasthoff, "Ethnizentrische Verarbeitung von Informationen", in: Petra Matusche, Wie verstehen wir Fremdes. Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen, München, Goethe-Institut, 1989, S. 37-62, 41.

7) J. Hector St. John de Crevecoeur, Letters from an American Farmer, Gloucester, Mass., Peter Smith, reprint of original edition of 1782, 1968, S. 50.

8) Fluck, a.a.O., S.20, Fußnote 41.

9) vgl. die Geschichtsauffassung der schottischen‚ common-sense-phylosophers' nach der Darstellung bei: George Dekker, The American Historical Romance, Cambridge, University Press, 1987, Kap. 3, S. 73-98.

10) Randolph Bourne, "Transnational America", in: David Hollinger und Charles Carper, Hrsg., The American Intellectual Tradition, Bd. 2, New York, Oxford UP, 1997, S. 175.

11) Hans-Wolfgang Schaller, Der amerikanische Roman des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, Ernst Klett Verlag, 1998, S. 118.

12) Klaus Ensslen, "Der afroamerikanische Roman nach 1945", in: A.Heller, Hrsg., Der amerikanische Roman nach 1945,Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, S.223-258, 224.

13) Schaller, a.a.O., S.140.

14) Heinz Ickstadt, Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert. Transformation des Mimetischen, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1998, 171.

15) A.a.O., S.188.

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Stand: 24.07.2003