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Wolfgang Bergsdorf

Kontinuität und Wandel

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt "Amerika - fremder Freund", 08.07.2003

Erfurt 2003

Vorbemerkung

Wer in den letzten Monaten ausführlich die Amerika-Berichterstattung in unseren Medien beobachtet hat, dem wird aufgegangen sein, dass der amerikanische Präsident Bush und seine Regierung wie auch die Vereinigten Staaten insgesamt schlecht weggekommen sind. Schon in den letzten Monaten des vergangenen Jahres stand für die Medien fest: Bush will den Krieg gegen Saddam Hussein. Er will den Sturz dieses Mannes, vor dem Vater Bush 1991 noch zurückschreckte, übrigens weil das UN-Mandat zur Befreiung Kuwaits dies nicht deckte. Bush junior will den Krieg - so die deutschen Medien - weil er an das irakische Öl will. Natürlich will er den Krieg am liebsten mit einem Mandat der Vereinigten Nationen, notfalls aber auch ohne ein solches Mandat.

Und dann kam der Krieg trotz der Warnung der deutschen, der französischen und der russischen Regierung. Von unseren Kommentatoren konnten wir hören: Bush setzt den Nahen Osten in Brand. Der Schurke Saddam Hussein gab seine Rolle in unseren Medien an den Oberschurken George W. Bush ab. Der irakische Diktator übernahm die viel angenehmere Rolle des Opfers.

Dass dann der Krieg so schnell zu Ende war, hat unsere Militärfachleute und Kommentatoren verblüfft, weil sie an ihre eigenen Prophezeiungen geglaubt haben. Zuvor war zwischen den Zeilen eine klammheimliche Freude über die Anfangsschwierigkeiten und Misserfolge der angloamerikanischen Militär-Koalition wahrzunehmen. Diese kam auch darin zum Ausdruck, dass die deutschen Fernsehanstalten den amerikanischen und englischen Verlautbarungen über den Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen ebenso wenig oder ebensoviel Glauben schenkten wie den täglichen Siegesmeldungen des irakischen Informationsministers, der übrigens noch weiter im Internet als Kultfigur fröhliche Urständ feierte. Er ist dort zum Idol der Wirklichkeitsverweigerer geworden.

Und auch noch nach der Approbation der angloamerikanischen Besetzung des Iraks durch die jüngste Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, dem auch Deutschland, Frankreich und Russland ihre Zustimmung gegeben haben, rücken die Medien hierzulande die Probleme viel stärker in den Vordergrund, während in den amerikanischen Medien die Probleme nicht verschwiegen, aber die Erfolge bei der Normalisierung des Alltagslebens in Bagdad und in den anderen Städten des Irak berichtet werden.

Wir alle müssen uns darüber klar werden, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts demokratische Politik sich in einer Medienwelt der virtuellen Realität widerspiegelt. Die Inszenierung und der Schein haben Vorrang vor Fakten. "Das zeitgemäße Genre der Politik" - so sagt kürzlich Timothy Garton Ash - "ist weder Faktum noch Fiktion, sondern Fraktion, Dokumentieren und Dramatisieren zu einem - und das rund um die Uhr." 1)
Dem Endverbraucher der Medien, also uns Fernsehzuschauern und Zeitungslesern, wird eine Realität präsentiert, die in einem vertraulichen, habituellen und professionellen Zusammenspiel von Politikern, Spin-doctors, PR-Managern und Journalisten fabriziert wird. Diese so fabrizierte Realität ist keine Welt der Fiktion oder der Lüge, obwohl auch sie gelegentlich vorkommt, wie jetzt die Zeitung NYT erleben musste. Jahrelang hatte einer ihrer berühmten Reporter seine Berichte gefälscht. Wir haben es vielmehr mit einer Medienrealität zu tun, die von Untertreibungen und Marginalisierung wichtiger Fakten oder aber von Dramatisierung und Übertreibung unwichtiger Fakten beherrscht wird.

Auch deshalb ist es kein Wunder, dass die Vorgeschichte des Irak-Krieges, sein Verlauf und seine Ergebnisse von den Medien in Deutschland und in den USA in höchst unterschiedlicher und teilweise gegensätzlicher Weise wahrgenommen wurden oder werden. Denn ebenso wie die veröffentlichte Meinung in beiden Ländern - also die Berichterstattung der Medien - gibt es auch unterschiedliche Wahrnehmungen der öffentlichen Meinung, wie sie mit Hilfe der Demoskopie anschaulich gemacht werden können. Jede Analyse des Feldes der außenpolitischen Bestimmungsfaktoren muss neben der veröffentlichten auch die öffentliche Meinung mit einbeziehen, um zu einem umfassenden Urteil zu gelangen. Oft folgt die demoskopisch vermessbare öffentliche Meinung der von den Medien vorgeschlagenen veröffentlichten Meinung zumeist mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Sie muss es aber nicht, zumal dann nicht, wenn Grundüberzeugungen und grundsätzliche Einstellungen abgefragt werden.

Die Demoskopie kann Auskunft geben über die Stärke von politischen Einstellungen, über die Motive von Meinungsänderungen, über den Bedeutungswandel von Themen und von Begriffen, über den Einfluss aktueller Ereignisse und politischer Persönlichkeiten auf die Meinungsbildung. Sie kann über verborgene Zusammenhänge und offene Widersprüche im Mosaik des Meinungskosmos einer Bevölkerung unterrichten; sie kann so mithelfen, den auf Bürgern, Parlament und Regierung lastenden Mediendruck zu verringern. Wähler und Gewählte gewinnen durch die Demoskopie ein differenzierteres Bild der Politik, indem ihre Informationsquellen erweitert werden. Für Wähler wie Gewählte ist es dabei wichtig, die begrenzte Aussagekraft demoskopischer Ergebnisse für ihre Beurteilung einschätzen zu lernen.

Vorsicht wie Erfahrung lassen es geboten erscheinen, demoskopische Befunde nicht überzuinterpretieren, sie nicht zum Ausgangspunkt langfristiger Strategien zu nehmen, die fast regelmäßig durch den unregelmäßigen Verlauf der Meinungsströme hinfällig werden. Vor allem wäre es ein eklatantes Missverständnis des Wertes der Demoskopie, ihr sichere Rezepte für die Maximierung des langfristigen Vertrauens, kurz: für politische Führung, entnehmen zu können. 2) Der Erfolg einer Politik zeigt sich vor allem in Wahlentscheidungen, nicht in der Augenblickszustimmung einer demoskopisch messbaren Mehrheit. Bei einer der wichtigsten Weichenstellungen der Nachkriegszeit, dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, war vor der Installierung der US-Raketen eine deutliche Mehrheit der Befragten in den Stationierungsländern anderer Meinung als ihre Regierungen. Gallup-International ermittelte Ende 1983 in einer vergleichenden Studie als wichtigstes Ergebnis, die Bürger Großbritanniens, Italiens und der Bundesrepublik Deutschland standen der Stationierung der US-Raketen in ihren Ländern mehrheitlich ablehnend gegenüber.

Dass sich die Meinungen über den Stationierungsbeschluss schon unmittelbar vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages ändern konnten und er rückblickend als eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands und für den in der Selbstbefreiung der Osteuropäer kulminierenden Entspannungsprozess gesehen werden konnte, verdeutlicht ein gleichzeitig erhobener Befund, der eine positive Grundeinstellung gegenüber den Vereinigten Staaten konstatiert.

Die Demoskopie kann ihren Nutzen für Politik und politische Wissenschaft vergrößern, indem sie ihre Befunde über einen längeren Zeitraum akkumuliert und so den Verlauf von Meinungsströmen und ihrer Veränderungen offen legt. Wenn im folgenden versucht wird, das Raster der Meinungen und Einstellungen, in das die deutsch-amerikanischen Beziehungen eingebettet sind, mit Befunden der Demoskopie auszuleuchten, so kann angesichts vorliegender wichtiger Studien der Schwerpunkt auf die achtziger Jahre gelegt werden. Die Publikationen von Hans-Peter Schwarz, Elisabeth Noelle-Neumann, Gebhard Schweigler, Hans Rattinger und Petra Heinlein sowie von Wolfgang Dobler 3) bieten für die Kontinuitäten und Widersprüche der öffentlichen Meinung über die deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika bis in die achtziger Jahre hinein eine fundierte Orientierungsgrundlage.

In dieser Ringvorlesung sind auf Sie eine Vielzahl von Informationen, Argumente und Sichtweisen herabgeprasselt. Ich möchte in der letzten Vorlesung über die Perzeption Amerikas durch die Deutschen sprechen und über das Deutschlandbild der Amerikaner, also davon, wie sich die gegenseitige Wahrnehmung nach 1945 entwickelt hat. Kontinuität im Wandel zeigen die deutschen Amerikabilder und die amerikanischen Deutschlandbilder bis in die 90er Jahre hinein, wie ich im ersten Teil zeigen möchte. Danach werde ich anhand des sehr umfangreichen Materials aus der internationalen Werteforschung zeigen, dass die gegenseitigen Sympathien von Deutschen und Amerikanern keineswegs eine Übereinstimmung in den Grundüberzeugungen zur Grundlage haben und deshalb - das ist der Gegenstand meines kurzen Schlussteils - an der ersten großen transatlantischen Krise nach dem Ende des Kalten Krieges stark schrumpfen mussten.

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I. Das Amerikabild der Deutschen

Die ersten Meinungsumfragen über die Einstellung der Deutschen wurden unmittelbar nach der Kapitulation im Auftrag der amerikanischen Besatzungsbehörden durchgeführt. Ihre Ergebnisse lassen erkennen, dass schon in den ersten Nachkriegsmonaten ein positives Amerikabild bei der deutschen Bevölkerung entstand, das einen krassen Gegensatz zu der antiamerikanischen Nazi-Propaganda zeichnet. Bereits im November 1945 wurden die Besatzungsmächte nicht mehr als Demütigung empfunden. In der amerikanischen Besatzungszone hatten Ende 1948 70 % der Befragten eine positive Meinung über die amerikanischen Besatzer. 4)

Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte sich bei den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland die Überzeugung gebildet, dass sie von den Amerikanern auf den Gebieten Politik, Technik und Wissenschaft lernen könnten. Dies blieb der Rahmen für das positive Amerikabild, das über durch aktuelle Ereignisse bewirkte Schwankungen hinaus bis heute eine bemerkenswerte Stabilität aufweist, obgleich nach einem Einbruch Ende der sechziger Jahre das Niveau seit Mitte der siebziger Jahre niedriger ist als in dem Jahrzehnt davor.

Die deutsche Sympathie für Amerika und die Amerikaner blieb selbst dann auf hohem Niveau erhalten, als sich die innenpolitischen Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss auf dem Höhepunkt befanden, ähnlich der Entwicklung zehn Jahre zuvor, als der Vietnam-Krieg sein Ende fand. Die Ergebnisse der seit 1957 vom Institut für Demoskopie Allensbach gestellten Frage: "Mögen Sie eigentlich die Amerikaner, oder mögen Sie sie nicht besonders?" belegen diese Feststellung.

Von 1957 bis 1966 kletterten bei den Westdeutschen die Sympathiewerte der Amerikaner von 40 % auf fast 60 %, sie sanken dann in Folge des Vietnam-Krieges auf 48 % und changierten dann um die 50 %, um im Frühjahr 2003 bis auf 41 % (jetzt Gesamtdeutschland) zurückzugehen. Mann kann sagen, dass trotz aller Schwankungen fast jeder zweite Deutsche sich als Freund der Amerikaner zu erkennen gibt.

Jeder Fünfte lässt Vorbehalte erkennen, wobei die Antwortvorgabe "mag sie nicht besonders" als einschränkende Negation positiver Gefühle den Personenkreis relativ weit zieht. Ein Drittel der Bevölkerung ist in dieser Frage indifferent oder möchte keine Meinung äußern. Das vertraute und prägende Bild der deutschen Meinungen gegenüber den Vereinigten Staaten ist also durch eine klare Dominanz von Sympathie gegenüber Vorbehalten charakterisiert. Dieses insgesamt positive Bild wird durch gelegentliche Abweichungen nach oben oder unten nicht nachhaltig verändert. Seit den sechziger Jahren lag die positive Antwort nie unter 40 %; die negative Meinung erreichte nie die 30 %-Quote und fiel nie unter 16 %. Die negative Meinung unmittelbar vor dem Irak-Krieg wurde von 24 % der Deutschen, also einschließlich Ostdeutscher, vertreten. 5)

Damit wird erkennbar, dass die Politik der Westbindung der Bundesrepublik Deutschland durch Konrad Adenauer eine emotionale Verankerung hat. Die Bevölkerung hat diesen seit mittlerweile fünf Jahrzehnten gültigen Kurs mitgetragen. Dieser Kurs hatte aber immer auch seine Gegner, die - wenn sie sich nicht für eine engere Zusammenarbeit mit der Sowjetunion aussprachen (dies verlangten stets nur winzige Minderheiten) - zumindest für eine Politik der Unabhängigkeit von den beiden Supermächten plädierten. Die Vokabel "Äquidistanz" bringt diese politische Idee des gleichen Abstandes zu den USA und der Sowjetunion auf den Begriff.

Dennoch scheint der Begriff "Äquidistanz" die Entwicklung der Meinungsströmungen in der außenpolitischen Grundorientierung nicht vollständig zu kennzeichnen. Wird die Fragestellung auf eine Alternative zugespitzt, auf die Frage nämlich: "Was ist für die Zukunft des deutschen Volkes wichtiger: ein gutes Verhältnis zu Amerika oder ein gutes Verhältnis zu Russland?", dann entscheiden sich die Deutschen mit unmissverständlicher Deutlichkeit für die Vereinigten Staaten. 1987 lautet die Relation 46 % (1983: 56 %) für die USA und 12 % (1983: 6 %) zugunsten Russlands. Ähnliches gilt auch für die Mitgliedschaft in der NATO, die nach wie vor von einer überwältigenden Mehrheit der Bundesbürger unterstützt wird. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland - das lassen die demoskopischen Daten mit überzeugender Deutlichkeit erkennen - sieht in einer engen politischen und militärischen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika als der Führungsmacht des westlichen Bündnisses die wirksamste Garantie für ihre Sicherheit und Freiheit. Insofern ist die Westbindung als Quasi-Staatsräson der Bundesrepublik von den Bürgern verinnerlicht worden. Gleichwohl war der gewachsenen Selbstverständlichkeit einer engen deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit der Wunsch nach einer Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen entstanden. Die Deutschen hatten offensichtlich einen stärker werdenden Wunsch, die starke Asymmetrie der deutsch-amerikanischen und der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu verringern. Diese Asymmetrie war die Folge des West-Ost-Konfliktes, dessen Zwangsläufigkeit mit dem Abbau der perzipierten Bedrohung durch den "Osten" immer weniger nachvollzogen werden konnte.

Gleichzeitig entstand in den 80er und 90er Jahren - befördert durch die Außenpolitik der Regierung Kohl- ein unverkennbar wachsendes außenpolitisches Selbstbewusstsein bei den Bundesbürgern. Die Verfolgung der deutschen Interessen - gegebenenfalls auch gegenüber den Verbündeten -, das Pochen auf eine größere Eigenständigkeit der deutschen Außenpolitik gewann deutlich an Rückhalt. Die Forschungsgruppe "Wahlen" stellt seit mehr als zehn Jahren die Frage: "Wenn die Bundesrepublik in wichtigen Fragen eine andere Auffassung hat als Amerika, sollte die Bundesrepublik sich dann eher nach Amerika richten, oder sollte sie nach ihren eigenen Vorstellungen entscheiden?" Auch wenn man bei der Bewertung der Antworten den suggestiven Charakter der Fragestellung in Rechnung stellt, bleibt die Entwicklung der Meinungsverteilung im Zeit vergleich eindeutig. Im Mai 1982 plädierten 69 % der Bevölkerung für die Entscheidung nach eigener Vorstellung (29 % für Orientierung an Amerika), im April 1985 lautete das Zahlenverhältnis 84 % zu 15 % und blieb so bis November 1986; im Mai 1989 sprachen sich 88 % für die "eigenen Vorstellungen" aus, für die Ausrichtung an der amerikanischen Politik plädierten nur noch 9 %.  6)

Mittlerweile ist diese Frage aus der Demoskopie verschwunden. Das heißt, dass die Orientierung an den deutschen Interessen eine Selbstverständlichkeit geworden ist und über sie auch zwischen den Parteien nicht mehr gestritten wird. Freundschaft und Grundvertrauen zu Amerika verbindet sich bei den außenpolitischen Einstellungen der Bundesbürger mit einem wachsenden Selbstbewusstsein, das Kritik an Einzelentscheidungen und Einzelerscheinungen der amerikanischen Politik mit einschließt. Es bleibt festzuhalten, dass auch die demoskopische Analyse zeigt, die Deutschen haben ihre historische Mission offensichtlich gelernt. Sie lehnen es ab, sich als Wanderer zwischen zwei Welten zu verstehen. Das in den fünfziger und sechzig er Jahren noch glänzende Amerikabild der Deutschen ist in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren differenzierter, vielfältiger, nuancenreicher geworden. Seine Konturen haben sich der Wirklichkeit geöffnet und dem Amerikabild der Westeuropäer angeglichen.

Weil die einzig verbliebene Supermacht USA für die Bundesrepublik Deutschland wichtiger als diese für die Vereinigten Staaten ist, ist es erklärbar, dass Deutschland und die Deutschen für die amerikanische Demoskopie weniger interessante Gegenstände regelmäßiger Befragung sind. Umso erstaunlicher ist der Befund, dass Deutschland nach Meinung der amerikanischen Führungsschicht seit den achtziger Jahren ein "vitales Interesse" der US-Politik beanspruchen kann. Zusammen mit Japan rangierte sie an erster Stelle, während sie nach der Meinung der US-Bevölkerung immerhin den vierten Rang einnahm (ohne besonders signifikanten Unterschied nach Großbritannien, Kanada und Japan). Großbritannien und Deutschland standen danach - weitab vor Frankreich und den anderen Staaten Europas - im Brennpunkt amerikanischer Aufmerksamkeit in Europa. Die analytische, vom Verstand geprägte Bewertung der amerikanischen Weltmachtinteressen geht einher mit einer eher vom Gefühl hergeleiteten grundsätzlichen Sympathie für die Bundesrepublik.

Zum Ausgang der achtziger Jahre hat sich das amerikanische Meinungsbild von Deutschland kaum verändert. Zwei Drittel der Amerikaner mögen die Deutschen, und die Hälfte ist sich sicher, dass ihre positiven Gefühle von den Deutschen erwidert werden. Das Vertrauen der Amerikaner in die Stabilität der zweiten Demokratie in Deutschland untersuchte 1988 die Cambridge-Reports Studie. Die Hälfte der Befragten (51 %) war bereit, die Deutschland als demokratisches Gemeinwesen zu akzeptieren, allerdings mit signifikantem Abstand zu Großbritannien (68 %), aber vor Japan (45 %) und Frankreich (41 %). Auf die Frage, welches von ausgewählten sieben Ländern als am demokratischsten angesehen wird, bezeichneten 61 % Großbritannien, aber nur 14 % die Bundesrepublik - die damit an 2. Stelle steht - und 9 % Japan als am demokratischsten. An die Zuverlässigkeit Deutschlands als NATO-Verbündeter glaubt - so eine Allensbach-Studie vom September 1989 - etwa die Hälfte der amerikanischen Befragten. Nach Kanada und Großbritannien wird ihr im Vergleich mit allen NATO-Staaten der dritte Rang in der Bedeutung zugemessen. Gut die Hälfte der Amerikaner ist der Ansicht, die Menschenrechte seien in Deutschland gut aufgehoben; erstaunlicherweise wird lediglich das Netz der sozialen Sicherheit als nicht besonders tragfähig angesehen. Dass das Bild von den Deutschen immer noch von der Nazi-Zeit, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust geprägt wird, bejahen 41 % der Amerikaner, 39 % verneinen diese Fragestellung. 7)

Seit dem zweiten Halbjahr 1989, als die revolutionären Vorgänge in den Staaten des Warschauer Paktes - und hier besonders in der DDR - die politische Landschaft Osteuropas völlig veränderten und Vereinigungschancen der beiden Teilstaaten in Deutschland nicht mehr ausgeschlossen erschienen, ist das amerikanische Meinungsbild heftig in Bewegung geraten. Umfragen in dieser Zeit hatten erkennen lassen, dass 1988 und noch im September 1989 erhebliche Vorbehalte in der US-Öffentlichkeit gegen eine Einheit Deutschlands vorhanden waren. Die Frage von Cambridge Reports, inwieweit eine Vereinigung Westdeutschlands mit dem kommunistischen Ostdeutschland die Haltung der Befragten über Westdeutschland beeinflussen würde, beantworteten insgesamt 62 % mit einem negativen Votum. Bei der Bewertung dieses Ergebnisses ist allerdings das Adjektiv "kommunistisch" in der Fragestellung zu berücksichtigen, das als eine für Amerikaner wie Deutsche unerwünschte Bedingung für die Wiedervereinigung Deutschlands verstanden wurde. Auch eine Hooper-Studie von 1989, vom BPA in Auftrag gegeben, untermauerte die tendenziell überwiegende Furcht der Amerikaner vor einem zu starken, geeinten Deutschland, das das internationale Gleichgewicht stören würde. 42 % glaubten, dass die Teilung Deutschlands das internationale Kräftegleichgewicht stabilisiere, gegenüber 36 %, die eine Vereinigung Deutschlands zum Wohle des Weltfriedens unterstützten. 22 % blieben unentschieden. Diese Vorbehalte spiegelten sich auch in der Haltung von Teilen der Washingtoner Administration und der meinungsbildenden überregionalen Ostküstenpresse wider. Sie ließen immer wieder Unsicherheit darüber erkennen, welche Politik die USA gegenüber der Entwicklung im Ostblock und dem Streben nach Wiedervereinigung betreiben sollte.

Seit dem 9. November 1989 sind diese Vorbehalte gegen ein friedensbedrohendes Gesamtdeutschland in der amerikanischen Öffentlichkeit wie weggewischt. Nach einer Louis Harris-Umfrage im November 1989 befürworten 76 % eine Wiedervereinigung, 16 % waren gegen sie, nur 8 % blieben unentschieden. 46 % glaubten außerdem, eine Wiedervereinigung würde den USA nützen, 25 % sahen darin eher einen Nutzen für die Sowjetunion, für 13 % würden beide Länder daraus einen Vorteil ziehen. Die Öffnung der Berliner Mauer wird von 90 % als Zeichen des Friedens gewertet. Dennoch bleibt die grundsätzliche Skepsis, dass der Kalte Krieg wirklich überwunden ist, bei 59 % lebendig. Die wenige Tage später von New York Times/CBS News erhobenen Daten belegen den Trend zur Bejahung einer Wiedervereinigung in ebenso eindrucksvollem Umfang. 76 % der Amerikaner unterstützen danach die Wiedervereinigung. Selbst bei 64 % derjenigen, die über 65 Jahre alt sind und der Kriegsgeneration angehören, findet sie deutlichen Zuspruch. 8)

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II. Unterschiede in den Einstellungen bei Amerikanern und Deutschen

Seit 1820 - dem ersten Jahr der amerikanischen Immigrationsstatistik - sind weit mehr als 53 Millionen Menschen in die Vereinigten Staaten eingewandert, darunter bilden sieben Millionen Deutsche die größte nationale Gruppe. Nach einer 1988 durchgeführten Meinungsumfrage erklärten 29 % der Amerikaner, dass ihre Vorfahren aus Deutschland bzw. aus dem deutschen Kulturraum stammten. 17 % der Amerikaner behaupteten, sie würden sich mit dieser deutschen Herkunft "identifizieren". Die zweitgrößte Herkunftsgruppe waren übrigens mit weitem Abstand zunächst die Iren. Der frühere amerikanische Botschafter in Deutschland, John Kornblum, der jetzt als Deutschlandpräsentant für eine französische Bank in Berlin tätig ist, hat darauf hingewiesen, dass die deutschen Immigranten in der amerikanischen Gesellschaft kaum als ethnische Gruppe zu erkennen sind, weil sie mehr als jede andere Gruppe von Einwanderern mit Ausnahme der Briten die Gesellschaft als Ganzes geprägt haben. Kornblum bezeichnet deshalb die USA als eine anglo-germanische Gesellschaft. Man könnte also die Hypothese formulieren, dass das Deutschlandbild der Amerikaner und ihre Vorstellungen von den Deutschen aufgrund des großen deutsch stämmigen Bevölkerungssegmentes auf einem positiven Resonanzboden basiere, dass auch die Einstellungen, Meinungen, die Selbstbilder und Fremdbilder der Amerikaner und Deutschen Züge von Ähnlichkeiten aufweisen dürften.

Diese und viele andere Hypothesen im Bereich der Autostereotypen und Heterostereotypen Forschung, also die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Völkern, konnten überprüft werden, als 1981 und dann 1991 und schließlich 2001/2002 eine groß angelegte internationale Wertestudie ins Feld ging. An den ersten Studien haben sich einige Dutzend Länder beteiligt, bei der letzten Untersuchung waren es nur Deutschland, England, Frankreich und die USA. 9)

Angeregt wurden die Wertestudien von Ronald Inglehart, der 1977 die These von den postmateriellen Werten formuliert hat. Ingleharts These vom Postmaterialismus behauptet, dass mit wachsendem Wohlstand nach dem Ende des 2. Weltkrieges sich die Menschen in den Industrieländern zunehmen von materialistischen Werten wie Konsum, wirtschaftliches Wachstum, Gewinn abwenden und postmaterialistischen Werten zuwenden würden. Das sind Werte, die nicht den wirtschaftlichen Wohlstand in den Mittelpunkt stellen, sondern allgemeinere, von Idealen geprägte, moralische Grundwerte bevorzugen, also Teilnahme am öffentlichen Leben, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, Umweltschutz.

Zu den Initiatoren gehörte Juan Linz, einer der weltweit bekanntesten Politikwissenschaftler von der Yale-University, von Jean Stoetzel, einer der führenden Soziologen Frankreich und Elisabeth Noelle-Neumann, der bedeutendsten Umfrageforscherin Deutschlands, und ihrer Geschäftsführerin Renate Köcher, deren Allensbacher Institut für Demoskopie die Gesamtverantwortung übernahm. Diese Wertestudien haben so ertragreiche und umfassende Ergebnisse zu Tage gebracht, dass bis heute nur ein Bruchteil veröffentlicht werden konnten. Das Material, auf das ich mich im Folgenden stütze, ist noch unveröffentlicht.

Eine der Schlüsselfragen der internationalen Wertestudie lautete:
"Hier stehen zwei Meinungen, die man hören kann, wenn sich Menschen über Gut und Böte unterhalten. Welche davon kommt Ihrem eigenen Standpunkt am nächsten, die erste oder die zweite?"
Dazu wird ein Blatt überreicht, auf dem zwei Aussagen stehen:
"Es gibt völlig klare Maßstäbe, was Gut und Böse ist. Die gelten immer für jeden Menschen, egal unter welchen Umständen."
Und: "Es kann nie völlig klare Maßstäbe über Gut und Böse geben. Was Gut und Böse ist, hängt immer allein von den gegebenen Umständen ab." (Grafik 1)

"Es gibt völlig klare Maßstäbe, was Gut und Böse ist", meinten 1981 21 % der westdeutschen, 22 % der Franzosen, 28 % der Briten und 35 % der Amerikaner. Zehn Jahre später hatte sich das Bild deutlich verändert. Der Anteil der Briten, vor allem aber der Amerikaner, die sagten, was Gut und Böse sei, gelte immer und für alle Menschen, hatte erheblich zugenommen, während er in Deutschland und Frankreich weitgehend stabil geblieben war. Hier hatten sich die angelsächsischen Länder im Laufe der 80er Jahre gemeinsam von Frankreich und Deutschland entfernt. Diese Entwicklung hat sich in den 90er Jahren nicht weiter fortgesetzt, der Abstand zwischen den Ländern hat sich aber auch nicht verringert. Die Zahl der Engländer und Amerikaner, die der Ansicht sind, moralische Maßstäbe seien immer und überall gültig, hat weiter zugenommen, doch anders als im Jahrzehnt davor hat diese Ansicht nun auch in Frankreich und Deutschland an Boden gewonnen. Man kann spekulieren, ob diese Entwicklung ein Kennzeichen dafür ist, dass die amerikanische Weltsicht mit einer gewissen Zeitverzögerung auch auf die Länder des europäischen Festlandes abfärbt oder ob der Anstieg der moralisch kompromisslosen Position die Folge der Anschläge vom 11. September 2001 ist, von denen man annehmen muss, dass sie die Ergebnisse der Internationalen Wertestudie beeinflusst haben. Einiges spricht für die letztere Annahme.

Ein Hinweis darauf ist vielleicht das Ergebnis einer Frage, die das Institut für Demoskopie Allensbach in eine repräsentative Telefonumfrage einschloss, die am 13. September 2001 stattfand, um die spontanen Reaktionen der Bevölkerung auf die Anschläge von Washington und New York zu messen. Die Frage lautete: "Der amerikanische Präsident Bush hat gesagt: ,Es ist ein monumentaler Kampf des Guten gegen das Böse.' Stimmen Sie ihm zu, oder würden Sie das nicht so ausdrücken?" Obwohl die Befragten noch unmittelbar unter dem Eindruck der teuflischen Terroranschläge standen und die meisten Befragten Mitleid und klare Sympathie für die Vereinigten Staaten in dieser Situation erkennen ließen, waren die Deutschen in dieser Frage auffallend zurückhaltend: 44 % sagten, sie würden der Aussage des amerikanischen Präsidenten zustimmen, 47 % meinten, so könne man das nicht sagen.

Dass sich die Distanz zwischen Europa und Amerika in moralischen Fragen in den letzten Jahren eher vergrößert als verringert haben dürfte, zeigt sich noch an einem weiteren Trend aus der Internationalen Wertestudie, nämlich bei der Frageserie zum Thema Permissivität. Mit Permissivität ist die Neigung in der Bevölkerung gemeint, Verstöße gegen gesellschaftliche Normen, gegen Regeln des Zusammenlebens zu tolerieren. Um dies zu ermitteln, wird den Befragten im Interview ein Bildblatt vorgelegt, das eine zehnstufige Skala zeigt und die folgende Frage vorgelesen: "Könnten Sie mir bitte für jeden der folgenden Punkte sagen, ob Sie das in jedem Fall für in Ordnung halten, unter keinen Umständen, oder irgendwo dazwischen. Gehen Sie bitte nach diesem Bildblatt vor: 1 würde bedeuten, das darf man auf keinen Fall tun; 10 würde bedeuten, das ist in jedem Fall in Ordnung." Es folgt eine Reihe von Aussagen, die die Interviewer nach und nach vorlesen, zum Beispiel "Wenn man Sozialleistungen in Anspruch nimmt, auf die man kein Anrecht hat", "Schwarzfahren", "Bei der Steuererklärung ein wenig mogeln". Zu jeder der Aussagen gibt der Befragte sein Urteil nach der Skala ab. Grafik 2 zeigt nun, welchen Skalenpunkt die Befragten in den verschiedenen Ländern allen vorgelesenen Normverstößen im Durchschnitt zuordneten. Man erkennt, dass in den letzten zehn Jahren die Toleranz der Europäer gegenüber Normverstößen deutlich zugenommen hat, anders als in Amerika. Man kann sehen, wie sich hier im Verlauf des letzten Jahrzehnts eine Schere zwischen den US-Amerikanern auf der einen Seite und den Europäern auf der anderen Seite aufgetan hat. Dieser neue Unterschied in der Mentalität ist dabei stärker, als es die Durchschnittswerte auf den ersten Blick vermuten lassen. Anders als bei den Prozentwerten, in denen Umfrageergebnisse normalerweise dargestellt werden, steht bei Skalen-Durchschnittswerten, wie sie in Grafik 2 gezeigt werden, eine Verschiebung von drei, vier Punkten hinter dem Komma für eine erhebliche inhaltliche Veränderung.

Man muss die Entwicklung zu stärkerer Permissivität in Europa mit Sorge betrachten. So ist anzunehmen, dass wachsende Permissivität die gesellschaftliche Selbstkontrolle und damit der Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Noch wichtiger und besorgniserregender ist die Tatsache, dass sich hier eine Mentalitätskluft zwischen Europa und Amerika auftut, die zu Missverständnissen und Konflikten führen kann. Dabei birgt vor allem die amerikanische Neigung, Probleme, das Handeln der Menschen mit strengeren moralischen Maßstäben zu messen als andere Völker und gleichzeitig anzunehmen, diese Maßstäbe müssten für alle Menschen die gleiche bindende Bedeutung haben.

Lassen Sie mich noch zwei weitere Komplexe aus der internationalen Wertestudie aufgreifen, nämlich Nationalstolz und Religiosität, bei denen erhebliche Unterschiede zwischen Amerikanern und Deutschen zu erkennen sind.

Grafik 3 illustriert dies:
Auf die Frage "Sind Sie stolz, Deutscher (bzw. Franzose, Brite, Amerikaner) zu sein?" bezeichnen sich 20 % der Westdeutschen und 12 % der Ostdeutschen, aber 35 % der Franzosen, 52 % der Briten und 80 % der Amerikaner als "sehr stolz". Nun kann man diesen Unterschied zum Teil vielleicht auf andere Sprachgewohnheiten zurückführen, etwa einer auch bei anderen Fragen zu beobachtenden Neigung der Deutschen, extreme Äußerungen, wie die Feststellung, man sei "sehr stolz", "ganz außerordentlich zufrieden" oder "sehr unzufrieden", zu vermeiden. Doch auch wenn man diejenigen Befragten zusammenrechnet, die sagen, sie seien "sehr stolz" oder "ziemlich stolz" auf ihre Nationalität, bleibt ein deutlicher Abstand zwischen den Deutschen auf der einen Seite und den Franzosen, Engländern und Amerikanern auf der anderen Seite. Die Westdeutschen äußern sich zu 62 %, die Ostdeutschen zu 57 % als sehr oder ziemlich stolz, während es in Frankreich 82, in Großbritannien 87 und in den Vereinigten Staaten 98 % sind.

Was ist der Grund für den geringen Nationalstolz der Deutschen? Es erscheint auf den ersten Blick nahe liegend anzunehmen, dass dieses geringe Bekenntnis zur eigenen Nation eine Folge des Missbrauchs nationaler Symbole durch die Nationalsozialisten ist. Und mit Sicherheit hat dieser Abschnitt der Geschichte einen erheblichen Anteil daran.

Interessant ist, dass es nach den Ergebnissen der internationalen Wertestudie einen engen Zusammenhang gibt zwischen Nationalstolz und einer generell positiveren, vertrauensvolleren Lebenseinstellung. Dieses größere Vertrauen derjenigen, die stolz auf ihr Land sind, die ihre positivere Einstellung gegenüber öffentlichen Einrichtungen äußern, sind in Deutschland und den Vereinigten Staaten eher bereit sind zum ehrenamtlichen Engagement. Diejenigen, die sagen, sie seien sehr stolz, Deutscher bzw. Amerikaner zu sein, arbeiten häufiger ehrenamtlich bei sozialen und kirchlichen Organisationen mit, bei Sportvereinen oder Bürgervereinigungen.

Auch im Hinblick auf die religiösen Überzeugungen hat die internationale Wertestudie wichtige Ergebnisse hervorgebracht. Das wichtigste ist die von uns allen zu beobachtende Einstellung, dass in der hoch industrialisierten Gesellschaft der christliche Glaube weiter erodiert. Das gilt für ganz Westeuropa einschließlich Ostdeutschland wie auch für die Vereinigten Staaten. Interessanterweise gilt das nicht für die entwickelten und weniger entwickelten Länder Asiens. Es gilt nicht für Lateinamerika und Afrika, wo die christlichen Kirchen jährlich Millionen Gläubige hinzugewinnen. Dennoch gibt es beim Prozess der Erosion des christlichen Glaubens in Europa und in den Vereinigten Staaten wichtige Unterschiede. Zunächst fällt ins Auge, dass trotz der rückläufigen Kirchenmitgliedschaft in den Vereinigten Staaten die individuelle Religiosität mit 77 % deutlich höher ist als in England mit 51 %, in Frankreich 31 %, in Ostdeutschland (21 %) und Westdeutschland 45 %. Dieser Wert wurde an der Frage gemessen: "Ziehen Sie persönlich aus dem Glauben Kraft und Trost?"

Bei der ersten Befragungswelle 1989 lauteten die entsprechenden Werte für die USA 81 %, für Englang 54 %, für Frankreich 51 %, für Westdeutschland 58 %. Daran lässt sich erkennen, dass dieser Erosionsprozess in den Vereinigten Staaten am langsamsten verlaufen ist und in Frankreich am heftigsten.

Alles in allem hat sich die Trendentwicklung, die von 1981 bis 1990 zu beobachten war, bis heute fortgesetzt. Die Tendenz zur Abwendung vom Glauben und von der Kirche im Großen und Ganzen ist ungebrochen. Und doch hat sich die Lage auf den zweiten Blick gegenüber der Situation von 1990 geändert. Die jüngsten Ergebnisse der Fortsetzung der Internationalen Wertestudie 2001/2002 enthalten Hinweise darauf, dass sich die Einstellung der Bevölkerung in Westeuropa gegenüber dem Glauben in näherer Zukunft ändern könnte.

Dies wird erkennbar an den Ergebnissen auf eine Trendfrage, bei der die Interviewer verschiedene Elemente des Glaubens nennen wie Gott, die Seele, ein Leben nach dem Tod usw. Die Befragten werden gebeten, zu jedem der genannten Punkte anzugeben, ob sie daran glauben oder nicht. Die Trendentwicklung seit 1981 zeigt nun, dass keineswegs der Glaube an alle diese religiösen Elemente zurückgegangen ist, sondern nur bei einigen. Bei anderen Punkten sind sogar Zuwächse zu verzeichnen. Aufschlussreich ist nun die Betrachtung, bei welchen Elementen der Glaube zugenommen hat und bei welchen nicht. In Westdeutschland, wo die Religiosität der Menschen etwas stabiler geblieben ist als in den anderen an der Umfrage beteiligten Ländern, zeigen die Ergebnisse dieser Frage keinen sehr aufschlussreichen Trend, kein Muster, aus dem man eine These über die zukünftige Entwicklung des Glaubens ableiten könnte. Dagegen wird in Großbritannien, den USA und vor allem in Frankreich und damit in dem Land, in dem die Abwendung der Bevölkerung vom christlichen Glauben am weitesten fortgeschritten ist (Ostdeutschland muss in diesem Zusammenhang als Sonderfall betrachtet werden), ein charakteristisches Muster erkennbar: Der Glaube an Gott und die Auferstehung der Toten ist rückläufig, der an die Wiedergeburt und die Sünde stagniert, während der Glaube an die Seele, den Teufel, die Hölle und den Himmel in den letzten 20 Jahren deutlich angestiegen ist (Tabelle 50). Das bedeutet: Die Kernelemente des christlichen Glaubens verlieren an Bedeutung. Dies spiegelt sich in dem bereits erwähnten Rückgang der Konfessionsmitgliedschaft wider, in der sinkenden Zahl derer, die sagen, sie zögen aus dem Glauben Trost und Kraft, und in der wachsenden Zahl derjenigen, die sich als "nicht religiös" bezeichnen.

Dagegen nimmt der Glaube an die religiösen Elemente zu, die nicht aufs engste mit der christlichen Religion verbunden sind: Hölle, Teufel, Himmel und Seele, das sind Ideen, die unter anderen Bezeichnungen auch in Naturreligionen ihren Platz haben. Man denke nur an die Unterwelt im antiken Griechenland oder an die himmlische Festtafel der nordischen Religionen, an der sich die im Krieg gefallenen Helden versammelten. Es lässt sich die These formulieren, dass sich die westlichen Gesellschaften am Beginn einer schleichenden Rückkehr zu den Naturreligionen befinden. Das Bedürfnis, an etwas zu glauben, das Bedürfnis nach Spiritualität scheint ungebrochen zu sein. Doch es hat den Anschein, als gelänge es den Kirchen immer weniger, dieses Bedürfnis zu befriedigen. So schmilzt das für das Christentum Charakteristische im Glauben der Bevölkerung. Übrig bleibt ein unspezifischer Glaube an bestimmte Grundelemente, deren Name aus der christlichen Tradition entlehnt ist, die aber in vielen Religionen enthalten sind, angetrieben vielleicht durch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Leben sowie der Angst vor dem Tod und eine damit verbundene Sinnsuche.

Jedenfalls macht die Tabelle mit einzelnen Elementen des Glaubens überdeutlich, dass bei allen Fragen die amerikanischen Antworten die höchsten Prozentpunkte erreichen. Oder anders gesagt: Die Religiosität der Amerikaner ist trotz der Erosion kirchlicher Bindungen immer noch deutlich höher als die der Engländer, Franzosen oder Deutschen. Dies macht verständlich, dass auch die politische Rhetorik der Amerikaner und insbesondere ihres Präsidenten George W. Bush stärker auf religiöse Formeln zurückgreifen kann und muss, um seine Macht zu legitimieren. Ebenso erklärt dieses Zahlenwerk, warum gerade diese religiös grundierte Rhetorik in Europa bei Christen und Nichtchristen auf Unverständnis und Ablehnung stößt.

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Schluss:

In den letzten Monaten hat Deutschland in den amerikanischen Medien nicht mehr stattgefunden. Dem entspricht der dramatische Absturz Deutschlands als eines sympathischen Landes in demoskopischen Untersuchungen in den Vereinigten Staaten. Noch im Februar 2003 haben 71 % der Amerikaner Deutschland als "favorable" bezeichnet. Innerhalb von sechs Wochen sank dieser Anteil auf 49 % und nähert sich dem Anteil von 44 % an, der Deutschland jetzt als "unfavorable" betrachtet. Dabei ist es nur ein schwacher Trost, dass die Sympathien für Frankreich im gleichen Zeitraum von 59 % auf 34 % absackten. Ähnliches musste die Türkei erleben, deren Sympathiewerte bei den Amerikanern von 63 % auf 48 % schrumpften. Auch Russland wurde abgestraft: Die Sympathie-Werte sanken von 63 % auf 41 %. 10)

Noch dramatischer brach die deutsche Wahrnehmung des bilateralen Verhältnisses in Deutschland ein: 2001 haben 27 % der Deutschen die USA als besonders sympathisches Land bezeichnet. Im März 2003 waren die Sympathisanten Amerikas auf 11 % geschrumpft. 11)

Diese demoskopischen Wasserstandsmeldungen sind die messbaren Wirkungen der bilateralen Beziehungen, die seit 1945 Höhen und Tiefen erlebt haben. Die Wochen der Berliner Luftbrücke 1948 zählen zu den Höhepunkten, ebenso wie der Kennedy-Besuch in Berlin 1961 und die nahtlose Zusammenarbeit von George Bush und Helmut Kohl vor und nach der Wiedererlangung der deutschen Einheit. Tiefpunkte und Irritationen gab es in den deutsch-amerikanischen Beziehungen beim Besuch von Ludwig Erhard in den USA 1966, während der Regierungszeit von Jimmy Carter und Helmut Schmidt, 1981/1982 während der Massendemonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss und jetzt, wo die deutsche Regierung den amerikanischen Partner Abenteurertum und völkerrechtswidrigen Militäreinsatz vorgeworfen hatte.

Auch heute hat das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und den USA wie auch in der Vergangenheit mit Persönlichkeiten der Politiker zu tun, die an der Spitze der Regierungen stehen. Die Verhältnisse zwischen den beiden Ländern galten als gut, wenn sich die Regierungschefs und die leitenden Außenpolitiker gut verstanden. Die Freundschaften von Konrad Adenauer und John Forster Dulles, von Helmut Schmidt und Gerald Ford, von Helmut Kohl und George Bush sind hierfür mehr als Indizienbeweise. Zwischen George W. Bush und Gerhard Schröder ist das Tischtuch offensichtlich verrissen. Das bedeutet, dass die Außenminister Colin Powell und Joschka Fischer nun die Aufgabe haben, alles zu tun, damit die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht zu einem Nichtverhältnis verkommen. Denn dies ist den Deutschen - ausweislich der Demoskopie - klar: Die Beziehungen zu der einzig verbliebenen Hypermacht USA sind für Deutschland essentiell, politisch und wirtschaftlich, während sie für Amerika alles andere als essentiell sind.

Nur kulturell wird der zunehmende Einfluss der Amerikaner auf Deutschland mehrheitlich beklagt. Diese Klage wird vor allem von den älteren Generationen vorgetragen, die die Amerikanisierung vieler Lebensbereiche z. B. in der Unterhaltung und Nahrung kritisieren. Einzig der jüngeren Generation ist diese Spielart des Antiamerikanismus fremd. Den älteren Generationen war die politische Spielart des Antiamerikanismus weitgehend fremd.

Von dem französischen Autor und Regisseur Jean Cocteau stammt das Bonmot "Amerika ist Amerika, Deutschland aber will Deutschland und außerdem noch Amerika sein." Diese Beobachtung mag in den 60er Jahren ihre Berechtigung gehabt haben. Heute gilt sie nicht mehr.

Das frühere Lehrer-Musterschüler-Verhältnis ist in den 90er Jahren durch die Normalität einer partnerschaftlichen Beziehung eingeholt worden, für die der amerikanische Präsident George Bush senior die Formel von der Partnership in Leadership gefunden hatte, zum Ärger der Briten. Von dieser Partnerschaft kann heute keine Rede mehr sein. Um sie zu rekonstruieren, sind enorme Anstrengungen notwendig. Zu ihnen gehören auch Einsicht in die Unterschiede bei den Wertvorstellungen von Amerikanern und Deutschen, die das Profil unterschiedlicher Mentalitäten bilden.

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Anmerkungen:

1)  Timothy Garton Ash, in: Süddeutsche Zeitung, 7. Juni 2003

2)  Vgl. hierzu: Wolfgang Bergsdorf, Politische Führung in der modernen Demokratie, in: Neue Züricher Zeitung 17./18. Dezember 1989

3)  Hans-Peter Schwarz, The West Germans, Western Democracy and Western Ties in the Light of Public Opinion Research, in: James A. Cooney et al. (eds), The Federal Republic of Germany and the United States. Changing Political, Social and Economic Relations, Boulder, Co. 1984; deutsche Ausgabe: James A. Cooney u. a. (Hrsg.), "Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 1985"
Gerhard Herdegen/Elisabeth Noelle-Neumann, The US-Image in Germany, in: German Comments, No. 3, April 1984;
Gebhard Schweigler, Grundlagen der außenpolitischen Orientierung der Bundesrepublik Deutschland: Rahmenbedingungen, Motive, Einstellungen, Baden-Baden 1985,
Hans Rattinger/Petra Heinlein, Sicherheitspolitik in der öffentlichen Meinung. Umfrageergebnisse für die Bundesrepublik Deutschland bis zum " heißen Herbst ". Berlin 1986,
Wolfgang Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung. Determinanten und politische Wirkungen außenpolitischer Einstellungen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1989

4)  Die OMGUS- und HICOG-Umfragen stehen im Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln zur Verfügung

5)  Vgl: Institut für Demoskopie Allensbach; Die deutsch-amerikanischen Beziehungen und ihr internationaler Kontext, 1987 sowie aktualisierte Folgeuntersuchungen

6)  Institut für Demoskopie Allensbach; Starch INRA Hooper, Umfrage im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Herbst 1989

7)  a.a.O.

8)  Louis Harris & Assoc. - Umfrage vom 13. und 14. November 1989, in: Business Week, vom 27. November 1989 sowie New York Times/CBS News Umfrage vom 26. und 27. November 1989 in: NYT vom 1. Dezember 1989

9)  Center für Applied Research in the Apostolate (CARA), Washington D.C. (ed.), Value Systems Study Group of the Americas, 1982 sowie Institut für Demoskopie Allensbach, Zeitenwende, Internationale Wertestudie 2001/2002, Ein Überblick über die wichtigsten Ergebnisse, Allensbach 2002, Manuskript

10)  http://www.pollingreport.com/defense.htm

11)  Thomas Petersen, Verletzte Gefühle Die Auseinandersetzung um den Irakkonflikt schadet der deutsch-amerikanischen Freundschaft, Eine Dokumentation des Beitrages in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 66 vom 19.3.2003, Manuskript

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Stand: 23.07.2003