Politische Werte in der Einwanderungsgesellschaft : eine Studie zur Typologie bürgerschaftlicher Orientierungen in einem multiethnischen Stadtbezirk

Zusammenfassung: Die Dissertation reflektiert und demonstriert, wie sich pro-soziale Handlungs-orientierungen in der Migrationsgesellschaft erschließen lassen. Anhand einer empirischen Studie mit engagierten Bewohner_innen eines multiethnischen Großstadtquartiers werden deren Narra-tive zum Engagement rekonstruiert, darin die Sinnhaftigkeit eines alltäglichen Handelns im Quartier sortiert und hinsichtlich ihrer Genese aufgeklärt. Die Überlegungen zur bürgerschaftlichen Orientie-rung in der Migrationsgesellschaft haben in dieser Arbeit drei Ausgangspunkte: Erstens ist die Idee affektiv besetzter kultureller Schemata und Deutungen zentral. Diese Idee lässt sich anhand der Auseinandersetzung über Werteentstehung und -bindung bei Hans Joas gut nachvollziehen. So sind nach dessen Argumentation bestimmte Schemata – etwa Ideale, persönliche Ziele oder Be-wertungsmaßstäbe – als Handlungsorientierungen nicht einfach da, sondern entstehen aufgrund spezifischer Artikulationen besonders interpretationsbedürftiger Erfahrungen immer wieder neu. Zweitens nimmt die Arbeit Anregungen aus der Migrationsforschung auf: Weil für Selbst- und Fremdidentifikationen sowie soziale Ausschlüsse die Konstruktion von Zugehörigkeit über Kultur und Werte eine Rolle spielt, nimmt diese Arbeit in seiner Analyse insbesondere auf die konstrukti-vistischen Ansätze des boundary making Bezug. Drittens wird an eine kultursensible Zivilgesell-schaftsforschung angeschlossen, die auf die bottom-up-Erzeugung von Bedeutungen und den bio-graphisch geronnenen Sinn von zivilgesellschaftlichen Handlungen verweist. Dabei nutze ich die Perspektive der Critical Citizenship Studies, wonach Bürgerschaft nicht als feststehender Status zu verstehen sei, sondern als eine Haltung, die sich jede_r – unabhängig von Geschlecht, Klasse, Her-kunft, … – aneignen könne. Die empirische Studie greift auf die dokumentarische Forschungsmethode zurück. Diese ermöglicht es, verschiedene Orientierungsrahmen einer bürgerschaftlichen Orientierung zu rekonstruieren und als jeweils implizites Wissen in konjunktiven Erfahrungsräumen zu begreifen. Das Ergebnis der empirischen Analyse besteht – kurz zusammengefasst – darin, dass die Engagierten vor allen Din-gen ein Sorgen um etwas erzählen, wie auch eine Haltung gegenüber Grenzen. Gerade im Ausü-ben zivilgesellschaftlicher Handlungen erzählen Engagierte von starken Erfahrungen, die sie in ih-rem Engagement oder ihrer Überzeugung bestärken und in einer Nachbarschaft, Gruppe, Glau-bensgemeinschaft oder einem lebensweltlichen Milieu verankern. Solcherlei Beispiele betreffen etwa das eigene Elternsein, Erfolge zivilgesellschaftlicher Arbeit, Freundschaften oder schlicht die Erfahrung, gebraucht zu werden. Der Kontext, in den die eigene Biographie gestellt wird bzw. aus dem heraus die erzählte Geschichte als sinnvoll erscheint, ist aber weit weniger kommunitär-substantiell, denn relational. Beide impliziten Sinnstrukturen – die Sorge und die Bezugnahme auf Grenzen – laufen entsprechend meiner Rekonstruktion in Fragen des Zeiterlebens und Welterzeu-gens zusammen: Eine Sorgehaltung strukturiert umso fundamentaler die Erzählung, umso mehr im hier und jetzt Erfahrungen der Krise, des Wandels oder auch der Umorientierung aufgerufen wer-den. Für die Orientierung auf Grenzziehungen scheinen hingegen Erfahrungen der persönlichen Betroffenheit und des Wandels von Migrationsregimen und -ordnungen relevant. Insofern im Ma-terial die untereinander verschiedenen Erfahrungen und Visionen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Rolle spielen, beschreibe ich die maßgeblichen Erfahrungskontexte für die Sinn-genese der Erzählungen in drei verschiedenen Generationen im Sinne einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Ich unterscheide die Generation der sorglos Etablierten von einer Generation trans-formativer Grenzsensibilität und einer Generation der restaurativen Grenzsensibilität. Darin versu-che ich jene Erfahrungsräume auszudrücken, die auf eine relationale, einander kontrastierende Art und Weise Wirklichkeiten im multiethnischen Quartier hervorbringen.

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