Retrospektive Studie über den Einfluss indikationsfremder Wirkstoffe auf das Outcome von Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock

Antidepressiva, Neuroleptika und Benzodiazepine sind in Deutschland weit verbreitete Medikamente aus psychopharmakologischen Anwendungsbereichen. Sepsis, schwere Sepsis und septischer Schock wiederum stellen häufig auftretende Krankheitsbilder dar. Beides sind sehr interessante und viel untersuchte Gegenstände der aktuellen medizinischen Forschung. Die Wirkungen von Psychopharmaka auf den sepsiskranken menschlichen Organismus sind jedoch noch wenig untersucht. Medikamente, welche nicht zur direkten Symptombekämpfung in der Sepsistherapie zum Einsatz kommen, können in klinischer Anwendung nicht vertretbar eingesetzt werden und wurden daher am Patienten bisher zurückhaltend erforscht. Neuere Untersuchungen bezüglich der Wirkung verschiedener antidepressiver oder neuroleptischer Wirkstoffe auf einen septischen Organismus bestätigen deren Einfluss auf den Zellstoffwechsel. Konservierte Stoffwechselwege der Stressantwort wie die Infektort-ferne Bildung des Lipidmediators Ceramid durch die Wirkung von Sphingomyelin-spaltenden Enzymen stellen dabei eine interessante Zielstruktur dar. Die unter anderem aus Tierexperimenten resultierenden Vermutungen über positive Effekte der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva, Neuroleptika oder Benzodiazepinen auf den septischen Organismus werden in der vorliegenden Arbeit näher betrachtet. Da nur wenige Patienten während einer Sepsis diese Medikation weiterhin oder zusätzlich erhalten und es bisher keine klinischen Studien oder pathophysiologische Erklärungen gibt, welche eine effektive Wirkung dieser Stoffe auf den humanen septischen Organismus bestätigen, erfolgt zunächst eine retrospektive Betrachtung, um grundlegende Daten für eine gegebenenfalls prospektive Untersuchung bereitzustellen. Im Sinne einer klinischen Studie wird gezeigt, inwiefern bei Medikamentengabe in therapeutischer Dosierung ein protektiver Effekt auf den Organismus in schwerer Sepsis oder septischem Schock vorhanden ist. Aus den Daten der Sepsisdatenbank des Universitätsklinikums Jena wurden diejenigen Patienten ermittelt, welche während ihrer stationären Behandlung antidepressive oder neuroleptische Medikamente beziehungsweise Benzodiazepine bekommen hatten. Diese Patienten wurden mit einer Kontrollgruppe verglichen, welche das Medikament nicht erhielt. Um Effekte auf das ‚Outcome’ festzustellen, konzentrierte sich die Auswertung auf die Inzidenz, mit der bei den Patienten eine Sepsis auftrat, die Überlebensrate der betroffenen Patienten sowie die Liegedauer auf der Intensivstation (ITS). Es erfolgte eine Betrachtung des Einsatzes von Nierenersatzverfahren zur Assoziationsanalyse mit einem häufig auftretenden und Prognose-limitierenden Organversagen. Zusätzlich wurden zwei Scorewerte zur Feststellung der Erkrankungsschwere (APACHE II und SOFA Score) untersucht und die Trends der Medikamentenwirkungen innerhalb der verschiedenen Wirkstoffgruppen verglichen. Die untersuchte Gesamtpopulation besteht aus 22922 ITS-Patienten, von denen 1484 Patienten (6,5%) eine schwere Sepsis oder einen septischen Schock erlitten. Aus den Gruppen der Antidepressiva, Neuroleptika und Benzodiazepine konnten 13 Medikamente in die Untersuchung einbezogen und die statistische Signifikanz ihres Einflusses auf die betrachteten Faktoren überprüft werden. Mit der vorliegenden Arbeit ist es gelungen, in einer Patientenpopulation statistisch signifikante Auswirkungen ausgewählter Antidepressiva, Neuroleptika und Benzodiazepine auf sepsiskranke Patienten nachzuweisen. Zum einen konnte gezeigt werden, dass die Gabe von Dikaliumclorazepat, Haloperidol, Lorazepam, Promethazin oder Risperidon in der Sepsis zu einer signifikant höheren Überlebensrate als in der Gesamtpopulation führt. Weiterhin konnten statistisch relevante Veränderungen in der Liegedauer und beim Neuauftreten der Sepsis sowie bei der in Scores angegebenen Erkrankungsschwere und bei der Häufigkeit des Einsatzes von Nierenersatzverfahren nachgewiesen werden. Hierbei zeigten sich verstärkt auch beim septischen Patienten zumeist ungünstige Assoziationen mit der Zusatzmedikation. Die Vergleiche innerhalb der Medikamentengruppen führten vermutlich auch aufgrund der Heterogenität der Einzelpräparate nur bedingt zu eindeutigen Trends, sodass hier Bedarf zu weiteren Untersuchungen mit größeren verfügbaren Datenmengen besteht. Interessant ist die Fragestellung, wie die festgestellten Effekte pathophysiologisch zu begründen sind. Es gibt mehrere Ansätze, um diese Wirkungen auf molekularbiologischer Ebene zu erklären. Intensiver beziehen sich die Betrachtungen dieser Arbeit auf Erklärungsansätze über die funktionelle Hemmung der SMASE (saure Sphingomyelinase), eines Schlüsselenzyms im Sphingolipidstoffwechsel der Zelle. Zwei der hier betrachteten Medikamente, Amitriptylin und Promethazin, sind etablierte Hemmstoffe dieses Enzyms. Vereinfacht dargestellt wird durch diese Enzymhemmung ein antiinflammatorischer Effekt erzielt, welcher für den an Entzündungsmechanismen überschäumenden septischen Organismus von Vorteil sein könnte. Dieser Ansatz stellt nur eine Erklärungsvariante der ermittelten Effekte dar. Hierzu besteht weiterhin Forschungsbedarf, da auch die Wirkmechanismen der betrachteten Medikamente zum Teil nicht abschließend geklärt sind. Wichtig für die aktuellen Betrachtungen und die weitere Forschung ist, einen möglichen protektiven Effekt auf die Überlebensrate in mehreren Studien zu objektivieren und die Sinnhaftigkeit eines beispielsweise therapeutischen ‚off-label-use’ Einsatzes dieser Medikamente bei Sepsis zu prüfen und abzuwägen. Die Ergebnisse dieser Arbeit unterstützen die bisherigen Forschungsansätze und sollten zu weiteren Untersuchungen motivieren, vor allem für die Betrachtung und Erarbeitung fortführender klinischer Studien.

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