Weil Gott die wunderbare Vielfalt liebt - Modernes Heidentum in Deutschland - Ethnographische Erkundungen

Dieses Buch ist eine Studie über modernes Heidentum in Deutschland. Hinter diesem Begriff, den ich weiter unten genauer erläutern werde, verbergen sich zeitgenössische Entwürfe alternativer Spiritualität, die von einem auch für „Alternativreligionen“ relativ kleinen Personenkreis kultiviert werden. Die Hauptinspirationsquelle modernen Heidentums sind die „heidnischen“ bzw. vorchristlichen religiösen Systeme Europas und die mannigfaltigen populären Vorstellungen hierüber. Den Kern dieser Abhandlung bildet meine ethnographische Feldforschung in der Zeit vom Frühling 2011 bis Sommer 2014. Während dieser Zeit galt es, den Gegenstand meiner Forschung immer genauer zu fassen und mich ihm von verschiedenen Seiten zu nähern, denn es ist nicht leicht, ihm einen Rahmen zu verleihen. Modernes Heidentum zeichnet sich durch eine Vielfalt oftmals in einander überfließender Strömungen aus. Es ist allenfalls schwach institutionalisiert und, obwohl die technischen Möglichkeiten unserer Zeit dies im Vergleich zu früheren Jahrzehnten begünstigen mögen, nicht durch eine hohe Dichte an Vernetzungen geprägt. Im Vergleich zur Situation in der englischsprachigen Welt, respektive in England und den USA, ist modernes Heidentum in Deutschland weniger verbreitet, was sich auch in einer geringeren Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zum Thema widerspiegelt. Bis in die Mitte der 2000er Jahre erscheint „Neuheidentum“ in diesen Publikationen zumeist als Artefakt einer politisch rechten Gesinnung, oder die Diskussion um seinen rechtsradikalen Gehalt steht zumindest im Zentrum der Auseinandersetzung2. Jüngere Abhandlungen äußern sich zunehmend kritisch zum pauschalisierten Verdacht des Rechtsextremismus, fokussieren jedoch in der Regel weiterhin auf heidnisch-religiöse Vereine und deren Führungspersönlichkeiten3. Bei anderen aktuelleren Beiträgen handelt es sich um Interview- und Fragebogenstudien, zumeist auf schwer identifizierbare heidnische Einzelströmungen fokussiert. Auch hier besteht eine Tendenz einer zu hohen Gewichtung solcher Führungsakteure4. Eine weitere Sorte aktuellerer Abhandlungen analysiert Print- oder Internetveröffentlichungen einzelner heidnischer Strömungen5. Modernes Heidentum findet jedoch, um ein Ergebnis dieser Arbeit vorwegzunehmen, schwerpunktmäßig jenseits von Vereinen und anderen Organisationen statt, gruppiert sich in der Regel nicht um Führungspersönlichkeiten und verfügt nur eingeschränkt über ein spirituelles Expertenwesen. Im Vorfeld meiner ersten Gänge ins Feld entnahm ich diese Informationen vor allem der englischsprachigen Literatur. Im Spiegel meiner Forschungsarbeit sollten sich diese Arbeitshypothesen auch für den deutschen Raum erhärten6. Um mich meinem Gegenstand anzunähern, schien mir eine ethnographische Methode naheliegend, die ihr Hauptgewicht auf teilnehmende Beobachtung und persönliche Involviertheit legt7. Dies unterscheidet die vorliegende Arbeit von den meisten bisherigen deutschsprachigen Abhandlungen, die, trotz gelegentlicher Einbindung ethnographischer Methoden, großen Wert auf „methodische Distanz“ legen8. Die gewählte ethnographische Perspektive korrespondiert zudem mit der Tatsache, dass mir modernes Heidentum vor Beginn dieser Arbeit noch weitgehend fremd war und ich mit meiner Tätigkeit gleichsam das Fremde in der eigenen Gesellschaft aufsuchte. Verstanden als eine spezifische Lebenswelt9, versuche ich hiermit eine möglichst breite Darstellung modernen Heidentums. Bevor ich mich entschlossen habe, ein solches Panorama modern-heidnischer Religiosität zu zeichnen, war es der ursprüngliche Gedanke, mich in meinem Forschungsprojekt mit „neuheidnischen Hexen“ zu beschäftigen. Nach einigen Monaten Feldforschung stellte sich mir dieser Zuschnitt jedoch als inadequat heraus. Anhand von Selbstbezeichnungen, wie beispielsweise „Hexe“, „Druide“, „Schamanin“, lassen sich heidnische Einzelströmungen kaum auseinanderhalten und gemessen an der religiösen Praxis erscheint dies ebenfalls nur eingeschränkt möglich. Ein Schwerpunkt dieses Buches liegt auf den deutschen Eigentümlichkeiten des Untersuchungsfeldes, die bislang, im Vergleich zur Situation in England und den USA, nur unzureichend erfasst worden sind. Dies gilt vor allem für alle nicht germanisch orientierten Zweige modernen Heidentums und ganz besonders für die Mehrheit der Heiden, die sich nicht auf eine einzelne definierte Tradition festlegt. Die Gliederung der einzelnen Kapitel spiegelt den Gang meiner Forschung wieder. So entstanden erste Entwürfe für Anfangskapitel, während ich damit begann, Kontakte im Feld aufzubauen und, zunächst vereinzelt, Veranstaltungen zu besuchen. Um diese Lebenswelt, in die ich eintauchte, zu verstehen, schien es mir notwendig, auch der zeitgeschichtlichen Dimension modernen Heidentums Aufmerksamkeit zu schenken. Dies geschieht in einem ersten Teil der vorliegenden Arbeit. Im Lauf der letzten Jahrzehnte finden mannigfaltige heidnische Strömungen ihren Weg nach Deutschland10. Gemein ist allen die Identifikation mit vorchristlichen Kulten als zentrale Inspirationsquelle. Beim Blick auf deutsche Eigentümlichkeiten modernen Heidentums sind die quasi-religiösen Entwürfe aus der völkischen Bewegung, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts am produktivsten ist, nicht zu übersehen. Außerhalb des deutschsprachigen Raums scheint diese Tradition in der Auseinandersetzung mit modernem Heidentum kaum eine Rolle zu spielen. Der erste, zeitgeschichtliche Teil dieser Arbeit, kann natürlich nicht für sich beanspruchen, eine umfassendere historische Aufarbeitung zu sein11. Es können hier nur ausgewählte Bereiche diskutiert werden. Das wichtigste Kriterium für diese Auswahl, sind die in der Feldforschung gewonnenen Informationen und Erfahrungen, nach deren Maßgabe das hier gezeichnete Bild modernen Heidentums entsteht. Ich versuche in diesen Darstellungen einen Dialog zwischen historischen Daten und eigenen Dokumentationen herzustellen. Abgesehen vom Themenkomplex des Neuheidentums völkischer Prägung waren nicht wenige meiner Kontaktpersonen im Feld schließlich selbst Zeitzeugen in der jüngsten Geschichte modernen Heidentums. Durch die zusätzliche Einbettung der Feldforschungsergebnisse in eine diachrone Perspektive werden Entwicklungslinien nachvollziehbar, die dem Verstehen des Forschungsgegenstands zuträglich sind. Der zweite Teil der Arbeit präsentiert die Ergebnisse meiner ethnographischen Erkundungen mit Hauptgewicht auf sozialen und religiösen Dimensionen. Meine Hauptquellen sind hierbei die von mir angefertigten Dokumentationen sowie die Transkripte von 16 Interviews, die ich durchgeführt habe. Alle Interviewpartnerinnen12 kenne ich zum Zeitpunkt, als ich die Anfrage nach einem Interview stelle, bereits seit einiger Zeit. Vier weitere Anfragen bleiben erfolglos. Bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen bevorzuge ich Vertreterinnen eines „eklektischen Programms“13. Die Meisten dieser Personen gehören heidnischen Gruppen an, bei denen auch ich zeitweise Mitglied bin. Es zählen hierzu keine Personen, die in der heidnischen Welt eine überregionale Prominenz genießen, sich etwa als einschlägige Autorin einen Namen gemacht haben. Der regionale Schwerpunkt der Feldforschung liegt im Rhein-Main-Gebiet, wo die meisten meiner Kontaktpersonen14 sowie alle Interviewpartnerinnen leben und wo die meisten der von mir besuchten Veranstaltungen stattfinden. Letztere umfassen 29 Stammtischtreffen, 19 Rituale15, 21 Treffen von heidnischen Arbeitsgruppen sowie 17 sonstige Veranstaltungen. Hinzu kommen eine Reihe sonstiger informeller Treffen, bei denen ich auf eine Dokumentation16 verzichtet habe. Ich stehe im Verlauf des Forschungszeitraums mit etwa 60 Personen aus der Heidenszene in näherem Kontakt17. Diese meine ich, wenn in dieser Arbeit von „meinen Kontaktpersonen“ die Rede ist. Der Zuschnitt entspricht dem weiter unten erläuterten Vorhaben, intensiv in die modern-heidnische Lebenswelt einzutauchen, an möglichst vielen Unternehmungen zu partizipieren und zumindest in diesem eingeschränkten Raum einen detaillierten Überblick für die im Forschungsprojekt relevanten Personenkreise und Veranstaltungen zu gewinnen. Doch kann es gerechtfertigt sein, trotz dieses regionalen Zuschnitts und der gewählten ethnographischen Methode, von dem modernen Heidentum in Deutschland zu sprechen? Ich versuche diesen Einwand, durch die Pflege von Kontakten und die Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen über das Rhein-Main-Gebiet hinaus, abzumildern. Auch durch die Integration zeitgeschichtlicher Perspektiven und den Einbezug überregionaler Szenepublikationen, der vorliegenden wissenschaftlichen Studien und anderen Veröffentlichungen, die meinen Forschungsbereich berühren, bemühe ich mich, den Bedeutungsrahmen meiner Befunde zu verbreitern. Vollständig entkräften lässt sich der Einwand dadurch freilich nicht. Wie jede ethnographische Arbeit, bietet auch diese ein selektives Bild ihres Gegenstands. Die Zuspitzung meiner Darstellungen auf ein „Eklektisches Heidentum“, die ich im zweiten Teil des Buches vornehme, kommt – obwohl ich meine, hiermit die dominierende Strömung modernen Heidentums benennen zu können – ebenfalls nicht ohne begründete Auslassungen anderer Bereiche aus. Doch müsste auch jede andere Forschungsanlage zu diesen Fragen der Selektivität und Repräsentanz Stellung beziehen. Theoretische Hilfskonstruktionen, etwa die Annahme einer heidnischen Lebenswelt, dienen als „Konstrukte zweiter Ordnung“ einer besseren Erfassbarkeit. Dies gilt auch für das Wort „modernes Heidentum“, das ich natürlich nur vor dem Hintergrund der von mir erhobenen und von mir interpretierten Daten verwenden kann. Die Qualität meiner Ergebnisse hängt auch davon ab, inwiefern es mir gelingt, den Gang meiner Forschung transparent zu machen, zu verdeutlichen welche Schlüsse ich aufgrund welcher Daten ziehe. Diese Intention verfolgt auch der folgende Abschnitt, in dem ich – ähnlich einer ethnographischen Arrival Story – mein Vorverständnis des Untersuchungsfelds und die Umstände, durch die ich auf es aufmerksam geworden bin, illustriere. Anschließend gehe ich näher auf die methodische Anlage des Projekts und seine wichtigsten, von mir gefassten Begrifflichkeiten ein.

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