Salvador de Madariaga : Liberaler – Spanier – Weltbürger : der Weg eines politischen Intellektuellen durch das Europa des 20. Jahrhunderts

Als eine intellektuelle Biographie von Salvador de Madariaga (1886-1978) will die Arbeit einen der bedeutendsten europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts dem unverdienten Vergessen entreißen. Sie möchte außerdem einen Beitrag dazu leisten, der spanischen Geistesgeschichte insgesamt in der deutschen politikwissenschaftlichen Forschung zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Gerade weil das politische Denken im Spanien des frühen 20. Jahrhunderts gegenüber dem übrigen Kontinent in Selbstverständnis und Begrifflichkeiten um einige Nuancen verschoben ist, wird hier auch ein Beitrag zur Liberalismusforschung geleistet. Madariaga war – neben vielen hier ausgeblendeten Facetten – ein mehrsprachiger, enorm produktiver, aber unsystematischer politischer Publizist und hat entsprechend auch sein politiktheoretisches Werk entwickelt. Dennoch spricht daraus eine über den tiefgreifenden politischen Wandel im 20. Jahrhundert hinweg reichende Kontinuität; die meisten seiner Denkfiguren haben selbst den Epochenbruch des Zweiten Weltkrieges weitgehend unbeschadet überstanden. In diesem Sinne erschließt die Arbeit sein politisches Denken hermeneutisch als ein möglichst bruchfreies Ganzes, ohne dabei allerdings ein vollkommen homogenes Ergebnis erreichen zu wollen. Madariaga ist zu Lebzeiten vor allem als Liberaler und als Europäer bekannt gewesen; darüber hinaus wird sich zeigen, daß sich der Zuschnitt seines politischen Denkens ursächlich aus seiner Intellektualität, durch seine nationale Herkunft und durch seine Zugehörigkeit zu einer für Spanien wichtigen Alterskohorte ergibt. Der erste Teil bildet in systematischer Verknappung die Vita Madariagas in den Eckdaten ab, durch die der Stil und die basalen Muster seines Denkens entscheidend geprägt wurden (die spanische und maritime Heimat, der Kontakt mit dem krausistischen Denken, die Ausbildung zum Ingenieur etc.), oder in denen sie sich symptomatisch manifestiert haben (z.B. seine Tätigkeit als Politiker und Diplomat). Im zweiten Teil werden die Besonderheiten des spanischen politischen Denkens insgesamt behandelt. So ergeben sich weitere herkunftsbedingte Faktoren von konstitutivem Charakter für Madariagas politisches Denken: der weitgehend fehlende Einfluß von Reformation und Französischer Revolution, die (immer weiter verblassende) Erfahrung des auf den Katholizismus gegründeten spanischen Weltreiches, schließlich ein für die spanische Philosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert insgesamt typischer Eklektizismus. Typisch spanisch ist auch, daß Madariaga das Politische stets unter ästhetische Kriterien zu bringen suchte, und ebenso, daß er sich der Sphäre der Politik gedanklich und handelnd unter der Perspektive eines fast solipsistischen Voluntarismus näherte. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht Madariaga als ein politisierter Intellektueller seiner Zeit und seines Umfeldes, sowie sein – streng genommen defizitärer – Politikbegriff. Er hatte keine Verwendung für den Begriff des Interesses, zumindest keine affirmative; auch den Machtbegriff vermied er, wo er konnte. Stattdessen dachte er Politik von Kriterien wie Ehre, Moral und Autorität her. Die grundsätzliche Konflikthaftigkeit politischen Handelns hat sein Denken entweder ausgeblendet, oder aber es versuchte, die Ergebnisoffenheit des politischen Prozesses und das Votum der Mehrheit gezielt meritokratisch zu unterlaufen. Madariagas Politikverständnis war elitistisch, organisch und geleitet von der Überzeugung, politische Wahrheit sei auffind- und durchsetzbar; und es wird insbesondere gezeigt, daß ihn all dies in Spanien, auch in den 30er Jahren noch, nicht notwendig zu einem Konservativen machte. Aufbauend auf allem, was in den vorangegangenen Teilen zur biographischen, stilistischen und epistemologischen Prägung seines politischen Denkens festgestellt wurde, widmet sich die Arbeit dann der Analyse jener beiden Großbegriffe – Liberalismus und Europa –, unter die sich beinahe sein gesamtes politisches Denken subsumieren läßt. Dabei geht es im vierten Teil um die Frage, inwieweit Madariaga zwischen den liberalen Schulen des 19. und denen des 20. Jahrhunderts zu stehen kam, insbesondere wie er sich gegenüber dem demokratischen Denken verhielt. Im Zusammenhang damit wird die Frage zwiefach affirmativ beantwortet, ob er einerseits als ein typischer Vertreter des spanischen Liberalismus und ob er überhaupt als ein Vertreter liberalen Denkens gelten kann. Beides läuft zunächst in der These zusammen, daß die weltanschauliche Nomenklatur in Spanien zwar ihre Begrifflichkeiten der in Europa gängigen Terminologie entlehnte, daß diese im Zuge ihrer Übernahme aber starken Verschiebungen in ihrem jeweiligen Bedeutungsgehalt ausgesetzt waren. Gerade deswegen ist der Ansatz dieser Arbeit nicht, vermittels eines Kriterienkatalogs zur Entscheidung darüber zu finden, ob Madariaga nun ins liberale Lager zu rechnen sei oder nicht. Vielmehr wird in Anknüpfung an seine faktische und auch von seinen Gegnern praktisch unwidersprochen gebliebene Selbst- und Fremdzuordnung als Liberaler zunächst einmal ausgegangen. Die Begriffe der Freiheit und der Person stehen im Zentrum seines zwar theoretisch wenig abgesicherten, dafür aber umso stärker normativ und kämpferisch auftretenden Liberalismus, der trotz einiger Adaptationsbemühungen im Detail stets eine Färbung ähnlich der klassischen Variante des 19. Jahrhunderts behielt. Nachdem der Verdacht der Illiberalität einzelner Theoriebausteine gleichsam eingeklammert wurde, können auch jene unorthodoxen Züge seines Denkens diskutiert werden, die Madariaga aus deutscher Sicht zu einem liberalen Grenzfall machen, etwa seine starke Tendenz ins romantisch Konservative, seine kaum verklausulierte Sympathie für einen autokratischen Antiegalitarismus und seine ebenso offene Demokratie- und Parlamentarismuskritik. Indem seine erklärte Position der Mitte zwischen der politischen Linken und Rechten auf diesen unübersehbar konservativen Bias trifft, zeigt sich, daß das politische Denken Madariagas selbst mit der Bereitschaft, ihm in seiner eigenen Terminologie weitgehend zu folgen, nicht als ein bruchfreies Ganzes verstehbar ist, daß sich die Brüche aber lösen lassen, indem man sein Denken kontextualisiert – als genuin spanisch hier, als einer bereits vergangenen Zeit zugehörig dort. Der fünfte Teil widmet sich schließlich jenem Thema, für dessen Forcierung der politische Madariaga heute wohl noch immer am ehesten bekannt ist: Europa. Dieser Teil sticht etwas gegen die vorangegangenen ab, denn die Europafrage ist die einzige, in der er seine Überzeugung grundsätzlich änderte, während sein Werk in praktisch allen anderen Aspekten das eines enorm prinzipientreuen Denkers war, der sich von den Zeitläuften lediglich zu vorsichtig adaptierenden Revisionen seines Denkens gezwungen sah. Als Internationalist und Völkerbündler hat Madariaga das Konzept Europa lange als zu beschränkt abgelehnt, schlug sich im Zuge der Notwendigkeiten des Kalten Krieges allerdings um so entschiedener auf die Seite der Europabefürworter. Hier geht es zunächst darum, exemplarisch jene proeuropäischen Einflüsse aufzuzeigen, denen er bis in die 30er Jahre ausgesetzt war, ohne daß sie zu dieser Zeit für ihn von besonderem Interesse gewesen wären, auf die er sich aber später stützte, um sein eigenes europäisches Credo zu entwerfen. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf jeweils durch eine Person gut nachvollziehbar repräsentierte Typen. So waren es vor allem Paul Valéry und Richard Graf Coudenhove-Kalergi als die intellektuellen Vordenker eines kulturell bzw. eines politisch verstandenen Europa, auf die Madariaga ab den späten vierziger Jahren rekurrierte – sowie Aristide Briand, der sich als erster Politiker von Rang ausdrücklich für die europäische Sache erklärte. Nach der erfolgten Wandlung zum Europäer fand Madariaga im Affirmativen rasch zur gleichen Apodiktik zurück, mit der er Europa zuvor abgelehnt hatte. Wie grundsätzlich dieser einzige wirkliche Bruch in seinem politischen Denken wirkte, wird abschließend anhand der Tatsache illustriert, daß in auffallend ähnlicher Weise seine allgemeine Bewertung der politischen Eliten seiner Zeit sehr spezifisch von deren Haltung gegenüber dem Prozeß der europäischen Einigung abhing – und mitunter von einem Extrem ins andere umschlug.

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